KAPITEL 45
In der Stadt war es dunkel. Im Lafayette Park stand Stone an einer sorgfältig ausgesuchten Stelle und sah sich um. Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch zehn Sekunden. In der Ferne blinkte ein Licht auf. Das war eine kleine Demonstration, die sich Chapman und er hatten einfallen lassen. Sie schaltete einen Laser mit einem roten Strahl ein und aus, um Mündungsblitze zu simulieren.
Chapman stand auf dem Dachgarten des Hay-Adams. Von Stones Position aus war das Licht kaum zu sehen. Und die Bäume versperrten jede Sichtlinie. Er rief Chapman an und informierte sie über das Ergebnis seiner Beobachtungen. Sie begab sich zum nächsten Ort ihres Experiments, ein Gebäude links hinter dem Hotel.
Stone hatte das Hotel als Ausgangspunkt genommen, das Einschlagsmuster der Geschosse im Park berücksichtigt und war so auf dieses Gebäude gekommen; außerdem konnten dort die Fenster geöffnet werden, was eher selten war. Ihm war eingefallen, dass sämtliche Fähnchen, die gefundene Kugeln markiert hatten, auf der westlichen Seite des Parks gruppiert waren. Das war ihm zuerst nicht ungewöhnlich vorgekommen, aber nahm man hinzu, dass die Schützen gar nicht vom Hay-Adams aus geschossen hatten, war es nicht nur ungewöhnlich – es war eine Erleuchtung.
Während Stone darauf wartete, dass Chapman den nächsten Ort erreichte, spürte er plötzlich jemand hinter sich und fuhr auf dem Absatz herum. Da stand Laura Ashburn, die FBI-Agentin, die ihn wegen Tom Gross’ Ermordung verhört hatte. Abgesehen von ihrer blauen FBI-Jacke mit den goldenen Buchstaben auf dem Rücken war sie völlig schwarz gekleidet. Auf dem Kopf saß eine FBI-Mütze. Sie starrte Stone an.
»Agent Ashburn«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte mit Ihnen sprechen.«
»Ich höre.«
»Wir haben unseren Bericht eingereicht.«
»Okay.«
»Er war für Sie nicht sehr schmeichelhaft.«
»Das habe ich nach unserer Unterhaltung auch nicht erwartet. Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie zögernd.
Er lächelte.
»Halten Sie das für witzig?«
»Ich sage Ihnen, was ich witzig finde. Trotz der unendlichen Möglichkeiten, mit denen man sich auf diesen Fall gestürzt hat, vermag keiner zu sagen, was hier wirklich passiert ist, oder weshalb. Alle laufen herum und beschuldigen einander, halten Informationen zurück und spionieren die eigenen Leute aus.«
»Wofür halten Sie sich eigentlich …«
Stone ließ sie nicht zu Wort kommen. »Spionieren die eigenen Leute aus und geben sich alle Mühe, den anderen zuvorzukommen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Auflösung dieses Falles. Und vielleicht ein paar Menschenleben.«
»Nun, Tom Gross wird das nicht helfen.«
»Da haben Sie recht. Vielleicht hätte ihm ja ein kleines bisschen Vertrauen und Kooperation von seiner eigenen Behörde geholfen.«
Ashburn schien völlig verwirrt zu sein. »Was genau hat er Ihnen eigentlich gesagt?«
»Im Grunde hat er sich gefragt, wie er diesen Fall jemals lösen soll, wenn er nicht mal der eigenen Seite vertrauen kann.«
Ashburn schaute zu Boden und warf dann verstohlene Blicke in die Umgebung, wo die Untersuchung noch immer fortgeführt wurde, wenn auch in einem bedeutend gemächlicheren Tempo als zuvor. »Ich habe endlich ein paar Hintergrundinformationen über Sie bekommen«, sagte sie dann und wich seinem Blick noch immer aus.
»Ich bin sicher, die werden in Ihrem Bericht stehen.«
»Haben Sie wirklich die Ehrenmedaille abgelehnt?«
Stone runzelte die Stirn. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Mein Sohn ist in Afghanistan. Bei den Marines.«
»Ich bin überzeugt, dass er seinem Land gut dienen wird. Genau wie seine Mutter.«
»Hören Sie, Sie können gerne sauer auf mich sein, aber lassen Sie meinen Sohn …«
»Ich treibe keine Spielchen. Ich habe genau das gemeint, was ich gesagt habe. Sie tun nur Ihren Job. Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. An Ihrer Stelle wäre ich auch aufgebracht. Ich würde auch gern zurückschlagen. Und wenn Sie mich als Zielscheibe benutzen wollen, ist das in Ordnung. Man kann mir in dieser Angelegenheit viel vorwerfen. Das streite ich nicht ab.«
Ashburns Züge entspannten sich nach dieser brutal offenen Selbsteinschätzung. »Ich bin die Dinge noch mal durchgegangen. Nach den Ereignissen in Pennsylvania, meine ich. Das ist der eigentliche Grund, weshalb ich Sie gesucht habe.«
»Warum sollten Sie das tun? Sie haben Ihren Bericht doch bereits eingereicht, wie Sie sagten.«
»Weil ich wütend bin. Tom war ein Freund. Ich will ein Ziel. Und Sie schienen da perfekt zu sein.«
»Und?«, sagte Stone ungerührt.
»Das Problem ist, ich bin mir nicht sicher, ob Sie wirklich etwas falsch gemacht haben. Ich habe die Leute von der State Police befragt. Sie sagten, Sie hätten ihnen vermutlich das Leben gerettet. Sie hätten gehandelt, bevor ihnen klar gewesen sei, was vor sich geht. Dass Sie auf den Schützen gefeuert haben und ihm hinterher sind, während Sie noch immer nicht wussten, was los ist.«
»Vermutlich habe ich in einer solchen Situation ein bisschen mehr Erfahrung als die State Police.«
»Das glaube ich auch«, erwiderte sie. »Und Tom hätte Verstärkung anfordern können, als er die LEOs benachrichtigt hat. Er hätte es tun müssen.«
»Ich war überzeugt, dass Kravitz’ Unterkunft der gefährliche Ort ist und nicht die Baumschule.«
Ashburn seufzte resigniert. »Ich glaube Ihnen.«
»Und ich hoffe, Sie glauben mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich keine Ruhe geben werde, bis ich den Täter gefunden habe.«
Sie musterte ihn einen Augenblick lang. »Ja. Das glaube ich Ihnen.«
Ashburn verschwand in der Dunkelheit, nachdem sie und Stone einen festen Händedruck getauscht hatten. Stone richtete den Blick wieder auf das rote Blinklicht und die Stellen im Gras, wo seiner Meinung nach die »Kugeln« aufgrund seiner grob geschätzten »Flugbahn« einschlagen würden. Er rief Chapman an. »Eine Etage höher«, sagte er.
Ein paar Minuten später blinkten die Lichter erneut.
Wieder rief er sie an. »Ich glaube, das ist es. Gibt es Beweise, dass von dort oben geschossen wurde?«
»Keine Patronenhülsen, aber hier ist ein Fleck, der nach Öl oder Schmierfett aussieht. Ich nehme eine Probe. Und das Fenster hat nicht gequietscht, als ich es aufgemacht habe.«
»Als wäre es kürzlich geöffnet worden.«
»Ja. Aber hatten Sie mir nicht gesagt, dass das hier ein Regierungsgebäude ist, das renoviert wird?«
»Ich hatte gehofft, dass ich mich irre.«