KAPITEL 89

Annabelle nahm Stone gegenüber in seinem Häuschen Platz.

»Ich durfte ihn besuchen«, sagte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Alex?«

Sie nickte, strich sich mit einem Finger über die Stirn. »Genau hier hat ihn ein Stück Granit getroffen. Drei Zentimeter weiter links, und es hätte ihn verfehlt. Dann läge er jetzt nicht im Koma.«

»Ist sein Zustand unverändert?«

»Er hat sich verschlechtert.« Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Seine Werte waren heute gar nicht gut.«

Stone griff über den Schreibtisch hinweg nach ihrer Hand. »Wir können nur hoffen und beten, Annabelle.«

»Er ist so ein guter Mensch, Oliver. Wie ein Fels. Immer da, wenn man ihn braucht. Sogar wenn ich mich ihm gegenüber wie ein Miststück benommen habe.«

»Wenn es um Alex geht, haben wir alle etwas zu bedauern, ich vielleicht noch mehr als alle anderen.« Stone ließ sie los und lehnte sich zurück.

»Oliver, wir müssen sie erwischen«, sagte Annabelle. Ihre Augen schimmerten nicht mehr feucht. Ihr Blick war ernst.

»Ich weiß. Das werden wir auch.«

Annabelle zog ein paar Seiten aus ihrer Tasche. »Nach deinem Anruf wegen der Geldspur habe ich mit meinem Kontaktmann auf den Bermudas gesprochen.«

»Konnte er helfen?«

»Weißt du, wie viel illegales Geld täglich durch die karibischen Banken geschleust wird? Hunderte von Milliarden.«

»Also ist es eine Nadel im Heuhaufen«, sagte Stone zweifelnd.

»So wäre es, gäbe es da nicht eine Sache.« Sie warf einen Blick auf eine der Seiten. »Vor einem Monat wurden 500 Millionen Dollar auf das Konto einer Bank auf den Caymans überwiesen. Sie lagen da und blieben gesperrt. Vor etwas mehr als einer Woche gab man sie frei. Eine Stunde später überwies man weitere 500 Millionen auf dasselbe Konto. Sie blieben die ganze Woche dort deponiert. Dann wurden sie freigegeben. Aber man überwies sie nicht auf ein anderes Konto weiter. Sie gingen zurück.«

»Zurück an den Absender?«

»Genau. Die Überweisung wurde storniert.«

»An welchem Tag war das?«

»An dem Tag, an dem Alex beinahe gestorben wäre.«

»Als sie erfuhren, dass Friedman versagt hat?«

»Richtig.«

»Also bekam sie die Hälfte des Geldes, nachdem gewisse Ziele erreicht wurden. Vermutlich die Explosion im Lafayette Park, Tom Gross’ Tod und die Beseitigung loser Enden wie Sykes, Donohue und die Latinos.«

»Was ist mit Turkekul?«

»Er ist ein Sonderfall. Zuerst glaubte ich, sie hätte nur eine sich bietende Gelegenheit ergriffen, aber da bin ich mir nicht mehr so sicher.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Das weiß ich selbst nicht genau. Wir müssen abwarten, was sich ergibt. Kann man herausfinden, wo das Geld gelandet ist?«

Annabelle schüttelte den Kopf. »Die Behörden haben Schweizer Banken unter Druck gesetzt, um Einsicht in ihre Kundenkonten zu bekommen. Das hat viele illegale Transaktionen in die Karibik verlagert. Und dort ist man nicht zur Zusammenarbeit bereit wie in der Schweiz. Für diese Antworten brauchen wir einen Spezialisten.«

»Ich glaube, ich könnte da eine Möglichkeit finden«, sagte Stone.

»Aber Friedman steht eine halbe Milliarde Dollar zur Verfügung. Damit kann man einen ausgezeichneten Fluchtplan in die Tat umsetzen.«

»Stimmt. Aber sie hat Probleme.«

»Ihr Auftraggeber?«

»Wenn sie jetzt zu fliehen versucht, wird ihm das möglicherweise nicht verborgen bleiben. Sie könnte der Ansicht sein, nur abwarten zu müssen, damit man das Interesse an ihr verliert und sich anderen Dingen zuwendet.«

»Aber sie könnte auch ein oder sogar mehrere Kartelle mit den Attentatsversuchen in Verbindung bringen«, erwiderte Annabelle. »Sie werden das niemals auf sich beruhen lassen. Sie ist jetzt zur potenziellen Zeugin gegen sie geworden.«

»Sie ist eine sehr kluge Frau, und das weiß sie. Ein weiterer Grund, dass sie es langsam angeht. Und das ist nur eine Seite der Gleichung.«

»Auf der anderen Seite sind die Behörden, die hinter ihr her sind.«

»Ja. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie längst weiß, dass wir sie enttarnt haben.«

Als Annabelle ihre Sachen einsammelte, um zu gehen, sagte sie: »Wenn Alex es nicht schafft … wie sollen wir ohne ihn weitermachen?«

Sie schien jeden Augenblick wieder in Tränen ausbrechen zu wollen. Stone schloss sie in die Arme und hielt sie fest. Annabelle Conroy, die begabteste Hochstaplerin ihrer Generation, eine Frau mit großem Herzen und einem unerschütterlichen Sinn für Loyalität, weinte sich an seiner Schulter aus.

Als sie fertig war, sagte er: »Wir werden ohne ihn nicht weitermachen können wie bisher, Annabelle. Wir können nur jeden Tag aufs Neue überleben. Ich glaube, du und ich verstehen das besser als die meisten Menschen.«

Sie nickte wie betäubt und ging. Stone sah zu, wie sie wegfuhr, dann ging er zurück ins Haus und rief jemanden an, den er erst vor Kurzem kennengelernt hatte, dem er aber eng verbunden war. Joe Knox meldete sich am anderen Ende der Leitung.

»Joe, hier ist Oliver Stone.«

Knox’ Antwort war typisch für ihn. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauert, bis du mich wegen dieser Sache anrufst. In einer Stunde bin ich bei dir.«

Der Auftrag
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