KAPITEL 85
Alex Ford musterte stoisch die Umgebung, als es in seiner Tasche summte. Er achtete nicht darauf. Keine Anrufe oder E-Mails während des Personenschutzes. In der Nähe des Präsidenten stellte man die Geräte auf Vibrationsalarm, und die SMS-Funktion war gesperrt. Eigentlich hätte Alex das Handy vorher ausschalten müssen. Er betrachtete die Gäste, die durch das Magnetometer traten. Aber bevor sie dort eintrafen, mussten sie durch mehrere Bombenscanner und Haltepunkte. Alex’ Blick richtete sich auf die Bombensuchhunde, die jeden geladenen Gast beschnupperten. Nach der Explosion im Lafayette Park waren die Hunde überall; sie stellten ihre beste Verteidigungslinie dar, weil sie so beweglich waren.
Das Handy summte erneut. Er achtete wieder nicht darauf. Falls sein Chef ihn dabei erwischte, wie er sich mit seinem Mobiltelefon beschäftigte, während er nach möglichen Bedrohungen Ausschau zu halten hatte, würde dieser Tag für ihn ausgesprochen unerfreulich enden. Vermutlich würde es sogar sein letzter Tag bei der Personenschutzabteilung sein.
Er musterte den Präsidenten, der seinen Platz in der ersten Reihe einnahm. Sein mexikanischer Amtskollege nahm links von ihm Platz. Zwischen den beiden Staatsoberhäuptern blieben zwei Plätze frei. Alex verfolgte, wie man Carmen Escalante die Reihe entlangführte. Ihre neuen Krücken verursachten so gut wie kein Geräusch, wenn sie auf dem nachgiebigen Boden auftrafen. Eine ganz in Schwarz gekleidete und mit einem Schleier versehene Alice Gross ging hinter ihr. Gross’ vier Kinder saßen in der Reihe direkt hinter dem Präsidenten.
Die beiden Präsidenten erhoben sich, als Carmen Escalante und Mrs. Gross näher kamen. Jeder Mann richtete ein paar Worte des Beileids an die Frauen, dann nahmen alle ihre Plätze ein.
Alex stieß einen leisen Fluch aus, als das Handy schon wieder summte. Der Ton verriet ihm, dass es diesmal eine E-Mail war. Er schaute sich um, beobachtete die Angehörigen des Personenschutzkommandos. Sie waren genau wie er. Reglose Miene, Sonnenbrille, Ohrstöpsel, starre Haltung, die Hände vor dem Körper. Ununterbrochen blickten sie sich um und versuchten, jede potenzielle Bedrohung auszumachen, bevor sie in die Realität umgesetzt wurde, möglicherweise in Form einer Kugel oder einer Bombe.
Das Handy summte. Wieder fluchte Alex, diesmal etwas lauter. Er schaute sich um. Wenn er sich Zeit ließ, konnte er es schaffen. Unauffällig schob er die Hand in Richtung Hosentasche, fischte das Handy ganz langsam heraus, bis nur der Bildschirm zu sehen war. Mit dem Daumen betätigte er das E-Mail-Icon.
»Großartig«, murmelte er, als er zwei Posteingänge erspähte, die im Abstand von nicht einmal einer Minute eingetroffen waren. Dann sah er, wer der Absender war.
Oliver Stone.
Er schaute auf und vergewisserte sich, dass er unbeobachtet war. Dann zog er das Handy noch ein Stück weiter hervor. Jetzt konnte er den Bildschirm besser sehen. Die Mails blendeten den Inhalt ein. Beide waren identisch. Als Alex die erste Mail gelesen hatte, war das Blut aus seinem Gesicht gewichen. Seine Finger huschten über zwei Tasten, o und k. Er drückte auf Senden und ließ das Handy zurück in die Tasche rutschen.
Nach einem tiefen Atemzug richtete er den Blick wieder auf den Präsidenten – jenen Mann, den er zu beschützen geschworen hatte. So wie alle Secret-Service-Agenten hatte Alex den Eid geleistet, für diesen Mann nötigenfalls sein Leben opfern würde. Schweißtropfen erschienen auf seiner Stirn und rannen die Schläfen hinunter.
Und wenn sein Freund sich irrte? Wenn er handelte und sich alles als Fehler erwies? Dann war seine Karriere vorbei. Nicht weil er versucht hatte, den Präsidenten zu beschützen, sondern weil er aufgrund eines Hinweises gehandelt hatte, der von einem in Ungnade gefallenen Feldagenten gekommen war.
Aber manchmal musste man seinen Freunden blind vertrauen. Und Alex vertraute Oliver Stone wie keinem anderen Menschen.
Er aktivierte sein Funkgerät und gab Wort für Wort durch, was er gerade erfahren hatte, verschwieg nur die Quelle. Dann fügte er die Warnung hinzu, die Stone übermittelt hatte. »Möglicherweise wird die Detonation aus der Ferne ausgelöst. Jede plötzliche Aktion unsererseits wird die Bombe hochgehen lassen. Wir brauchen eine Ablenkung oder ein Tarnmanöver, sonst haben wir nicht die geringste Chance.«
Die Stimme seines Supervisors drang aus dem Ohrstöpsel. »Ford, sind Sie sicher?«
Alex’ Eingeweide verkrampften sich, als er antwortete. »Selbst wenn ich nur zur Hälfte sicher wäre, können wir das Risiko nicht eingehen, Sir, oder?«
Er hörte, wie der Mann lange und gequält seufzte. Zweifellos tat er gerade das, was Alex eben getan hatte. Dachte darüber nach, was das mit seiner Karriere anstellen würde, falls es sich als Irrtum erwies.
»Gott stehe uns bei, Ford.«
»Ja, Sir.«
Eine Minute später wurde über die sichere Frequenz ein Plan an sämtliche Agenten übermittelt.
Alex warf einen Blick auf die Uhr. Sechzig Sekunden. Er gab sich alle Mühe, ruhig und professionell auszusehen. Wer immer dahintersteckte, konnte mühelos sämtliche Agenten im Auge behalten. Nur der kleinste Hinweis, dass etwas nicht in Ordnung war, und die Bombe würde explodieren.
Da Alex die Sache ins Rollen gebracht hatte, erhielt er die Ehre, die wichtigste Aufgabe zu übernehmen. Er wappnete sich. Eine Routineüberwachung hatte sich gerade in etwas völlig anderes verwandelt – etwas, auf das sich alle Agenten vorbereiteten und von ganzem Herzen hofften, niemals damit konfrontiert zu werden.
Alex zählte die Sekunden, während sein Blick über die Gästereihen schweifte, aber immer wieder zum Präsidenten zurückkehrte. In der zweiunddreißigsten Sekunde des einminütigen Countdowns setzte er sich in Bewegung. Er ging an der Seite der Stuhlreihen entlang, als würde er lediglich den Rand kontrollieren. Links von ihm bewegten sich zwei andere Agenten den Mittelgang entlang. Der Plan war aus dem Stegreif erfolgt, und sie alle konnten nur hoffen, dass er gut genug war.
Alex warf einen Blick zu der großen Gruft, die sich direkt hinter der für die Zeremonie provisorisch errichteten Bühne erhob. Wieder holte er tief Luft und kämpfte dagegen an, dass das Adrenalin seine motorischen Fähigkeiten behinderte.
Noch zwanzig Sekunden.
Alex schritt schneller aus. Er näherte sich der Reihe, in der der Präsident saß, aber sein Blick war nicht auf den Mann gerichtet, sondern auf eine ganz andere Person.
In der zehnten Sekunde passierte es.
Aufschreiend griff sich eine Frau, die im Mittelgang auf dem Weg zu ihrem Platz gewesen war, an die Brust und stürzte zu Boden. Augenblicklich scharten sich Leute um sie. Die Stelle ihres Zusammenbruchs war sorgfältig geplant gewesen. Tatsächlich war sie Agentin des Secret Service, die man in Reserve gehalten hatte. Jetzt hatte man sie in aller Hast losgeschickt, damit sie direkt neben der Reihe des Präsidenten aufs Stichwort zusammenbrechen konnte.
Die um sie versammelte Zuschauerschar gestattete dem inneren Kern des Personenschutzkommandos, einen Schutzwall um den Präsidenten zu bilden; das war die übliche Vorgehensweise und würde keinen Verdacht erregen. Sollte der Bombenleger beschließen, den Sprengsatz in diesem Augenblick auszulösen, konnten sie nichts dagegen tun. Aber sie hatten keine andere Wahl.
Im Wall gab es eine Lücke, und Alex duckte sich hinein. Mehrere Agenten schauten ihn an, mit vor Konzentration und Sorge verkniffenen Mienen, aber seine Aufmerksamkeit war allein auf sein Ziel gerichtet.
Carmen Escalante sah verängstigt aus. Das gab Alex neuen Mut. Falls sie nicht die Bombenlegerin war, würden sie möglicherweise alle überleben. War sie es doch, würde die Bombe in den nächsten beiden Sekunden explodieren.
Carmen schrie auf, als Alex ihr die Krücken aus den Händen riss, doch ihre Schreie gingen im Lärm der Agenten unter, die einander Anweisungen zuriefen, während sie den Präsidenten sicherten und die Menge auf die neuesten Entwicklungen reagierte.
Wie ein Rugbyspieler, der sich aus dem Gedränge löst, kam Alex aus dem Wall der Agenten, die Krücken teilweise unter der Jacke verborgen. Zuerst ging er, dann rannte er los, als er die unmittelbare Nähe des Präsidenten verlassen hatte. Er stieß jeden zur Seite, der ihm im Weg war, ließ die Bühne hinter sich zurück, riss die Krücken unter der Jacke hervor, holte aus und schleuderte sie, so weit er konnte, hinter die große Gruft, die die beste Abschirmung bot, die ihnen zur Verfügung stand.
Auch ohne einen Blick nach hinten werfen zu müssen wusste Alex, dass seine Kollegen den Präsidenten so schnell wie möglich in die entgegengesetzte Richtung brachten und falls nötig dabei auch Leute über den Haufen rannten.
Unglücklicherweise landeten die Krücken nie auf dem Boden hinter der Gruft.
Die Druckwelle der Bombe, die in der Luft explodierte, war stark genug, um die Bühne zusammenbrechen zu lassen. Qualm, Dreck und Flammen breiteten sich vom Explosionsherd aus und hüllten die ersten Stuhlreihen ein, die sich bereits geleert hatten. Menschen schrien und flüchteten, als Trümmer in die Tiefe regneten.
Der Präsident saß bereits in seiner Limousine. Der Autokorso raste mit kreischenden Reifen auf der Asphaltstraße vom Friedhofsgelände.
Die Mission war erfolgreich gewesen. Der Präsident war nicht gestorben. Nicht an diesem Tag. Nicht auf ihrer Wache.
Dank Alex’ heldenhafter Tat war niemand getötet worden, obwohl es viele ernsthaft Verletzte gab.
Die Agenten eilten zu dem Mann, der in der Nähe der zerstörten Bühne am Boden lag. Ihr Blick richtete sich auf den blutüberströmten Kopf und den Granitsplitter, der daraus hervorragte.
»Einen Rettungswagen, schnell!«, rief einer von ihnen.
Alex Ford hatte seine Pflicht erfüllt. Er hatte dem Präsidenten der Vereinigten Staaten das Leben gerettet.
Möglicherweise hatte er seins dafür geopfert.