KAPITEL 53
Zuvor fuhr Stone ins Krankenhaus, um nach Reuben zu sehen. Sein Freund war schon auf dem Korridor zu hören. Dem Gebrüll nach zu urteilen bestand Reuben auf seiner Entlassung, während die Ärzte ihn noch mehrere Tage dabehalten wollten.
Annabelle kam Stone aus dem Zimmer entgegen. »Vielleicht kannst du ihn ja zu Verstand bringen!«, stieß sie hervor.
»Das bezweifle ich«, sagte Stone. »Aber ich versuch’s.«
»Mir geht’s gut«, brüllte Reuben, als er Stone erblickte. »Ich wurde nicht zum ersten Mal angeschossen. Aber ich fange mir lieber eine Kugel ein, als mich von Schwester Rabiata hier mit Nadeln an Stellen traktieren zu lassen, an denen ich nicht traktiert werden will.«
Die Krankenschwester, die seine Vitalwerte nahm, verdrehte bei Reubens Bemerkung die Augen. »Viel Glück«, flüsterte sie Stone zu, als sie ging.
Er musterte Reuben. »Ich nehme an, du willst hier raus.«
»Ja! Ich will die Arschlöcher erwischen, die mir das angetan haben!«
Stone zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, als Caleb mit einem Blumenstrauß ins Zimmer kam.
»Was soll denn dieser Blödsinn?«, fauchte Reuben.
Seine Undankbarkeit ließ Caleb die Stirn runzeln. »Das sind Pfingstrosen. Die sind zu dieser Jahreszeit schwer zu bekommen.«
Reuben starrte ihn entsetzt an. »Du hast mir Blumen mitgebracht?«
»Ja. Um dieses deprimierende Zimmer ein bisschen freundlicher zu machen. Alles ist grau. Schrecklich. Hier wirst du depressiv, aber nicht gesund.«
»Ich finde die Blumen wunderschön«, sagte Annabelle, als sie Caleb den Strauß abnahm und daran roch.
»Natürlich. Du bist eine Frau«, knurrte Reuben. »Richtige Kerle bringen keine Blumen mit.« Er warf Caleb einen wütenden Blick zu. »Hat jemand dich damit gesehen?«
»Was? Ich … ich glaub schon. An der Schwesternstation hat man sie bewundert.«
Reuben, der im Bett gesessen hatte, ließ sich in die Kissen fallen. »Na toll. Vermutlich hält man uns jetzt für ein Paar.«
»Ich bin doch nicht schwul!«, rief Caleb aus.
»Du siehst aber so aus«, erwiderte Reuben.
Caleb funkelte ihn böse an. »Ich sehe so aus? Wie sieht denn der typische Schwule deiner Meinung nach aus, du Neandertaler?«
Reuben stöhnte und drückte sich ein Kissen aufs Gesicht. »Beim nächsten Mal bringst du mir ein Bier mit«, murmelte er gedämpft durch den Stoff. »Oder den neuen Playboy.«
Annabelle machte sich auf die Suche nach einer Vase für die Blumen, während Stone sich an Caleb wandte. »Ich habe deine Liste mit den geplanten Veranstaltungen im Lafayette Park bekommen. Eigentlich wollte ich mit dir darüber sprechen.«
Reuben nahm das Kissen vom Gesicht. »Was willst du damit?«
Stone setzte ihn rasch ins Bild. »Aber es gibt viele Veranstaltungen«, fügte er dann hinzu.
Caleb nickte. »Darum habe ich tiefer gegraben und konnte alles ein bisschen einengen.« Er zog mehrere Zettel aus der Tasche und breitete sie auf dem Bettrand aus. Stone beugte sich darüber.
»Ich bin von der Annahme ausgegangen, dass es eine wirklich große Sache wird. Warum sollte man sonst im Lafayette Park so einen Aufwand treiben?«
»Stimmt«, sagte Stone.
Annabelle kam mit den Blumen in einer Vase zurück, stellte sie auf dem Nachtschrank ab und gesellte sich zu ihnen.
»Es gibt fünf Veranstaltungen, die meiner Meinung nach in diese Kategorie passen«, fuhr Caleb fort. »Alle finden nächsten Monat statt. Zuerst eine Kundgebung wegen des Klimawandels. Dann eine Demonstration gegen die Steuerlast. Jedes Mal werden viele Menschen und viele potenzielle Opfer da sein. Dann hält der Präsident eine Rede zu Ehren der im Nahen Osten gefallenen Soldaten, gemeinsam mit dem französischen Präsidenten.«
»Wenn ihr mich fragt, das ist es«, meinte Reuben. »Zwei Staatsoberhäupter auf einen Schlag. Außerdem ist die Bombe hochgegangen, als der britische Premier in Washington war. Vielleicht haben sie es auf die EU abgesehen.«
»In Ordnung, Caleb, weiter mit der Liste«, sagte Stone.
»Viertens findet eine Protestkundgebung gegen den Hunger auf der Welt statt. Und zuletzt eine Demonstration gegen Atomwaffen.«
»Terroristen schätzen Qualität über Quantität«, sagte Reuben. »Lieber ein paar Staatsoberhäupter ausschalten als einen Haufen stinknormaler Bürger.«
Annabelle schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, wer hinter dem Plan steckt. Sollte es eine Antikriegsgruppe sein oder Leute, die den Klimawandel für Unsinn halten, hätten auch diese Veranstaltungen das Ziel sein können.«
»Ich bezweifle stark, dass die Russen sich für unsere Steuerprobleme interessieren«, sagte Stone.
»Die Russen?«, rief Caleb aus. »Die stecken dahinter?«
Stone ignorierte die Frage seines Freundes. »Ich frage mich, wie weit man entfernt sein müsste, um eine in der Erde vergrabene Bombe mit einer Fernzündung auszulösen«, sagte er nachdenklich. »Und wie sollen die Bombenbauer wissen, wo das Podium mit den Staatsoberhäuptern errichtet wird? Ich weiß, dass sie die Bühnen an verschiedenen Stellen bauen. Manchmal sogar auf dem Bürgersteig. In diesem Fall hätte die Bombe überhaupt keinen Schaden angerichtet.«
»Ich würde Alex fragen«, meinte Reuben. »Sollte sich herausstellen, dass man die Bühne in der Nähe der Jackson-Statue errichten wollte, bestätigt das die Vermutung, dass es einen Spitzel gibt.«
»Da hast du recht«, erwiderte Stone.
»Ich rufe ihn an«, sagte Annabelle. »Wir treffen uns sowieso nachher.«
»Und ich muss zurück zur Arbeit«, fügte Caleb hinzu.
»Ich auch«, sagte Stone.
»Und was ist mit mir?«, beschwerte sich Reuben. »Ihr vergnügt euch, während ich hier festhänge.«
In diesem Augenblick kam eine Hilfsschwester mit Reubens Mittagessen ins Zimmer, stellte das Tablett vor ihm hin und nahm den Deckel ab. Eine dunkle, weiche Masse kam zum Vorschein, die anscheinend ein Stück Fleisch, zerkochtes Gemüse und ein gummiartiges Brötchen darstellen sollte. Daneben stand ein Becher, dessen Inhalt wie Urin aussah.
»Bitte schafft mich hier raus«, jammerte Reuben.
»So schnell wie möglich, Reuben. Ich verspreche es«, sagte Stone und eilte hinaus.
»Erfreue dich an deinen Blumen«, fauchte Caleb. »Beim nächsten Mal bringe ich mein Album mit den größten Hits der Village People mit, damit alle was zu hören haben. Vielleicht ziehe ich auch einen bunten Schal an und meine Röhrenjeans.« Er stolzierte hinaus.
Annabelle beugte sich vor, gab Reuben einen Kuss auf die Wange und strich sein verschwitztes Haar zur Seite. »Schön durchhalten, großer Junge. Und denk daran, dass wir dich beinahe verloren hätten. Was sollte ich ohne meinen Reuben tun?«
Ihre Bemerkung ließ ihn lächeln. Er schaute ihr hinterher, als sie das Zimmer verließ, wartete ein paar Augenblicke, bis er sicher sein konnte, dass alle weg waren, und griff nach der Vase. Dann roch er ausgiebig an den Pfingstrosen und lehnte sich mit zufriedener Miene zurück.