KAPITEL 41

»Agent Garchik, Sie sehen verwirrt aus.«

Stone und Chapman gesellten sich zu dem ATF-Agenten, der hinaus in den Park blickte.

Er drehte sich zu ihnen um. »Das mit Tom Gross tut mir sehr leid«, sagte er, als sie ihn erreicht hatten. »Er schien ein anständiger Kerl zu sein.«

Stone nickte, während Chapman nur die Stirn furchte. Sie war ungekämmt und sah aus, als hätte sie in ihren Sachen geschlafen. Was sie zwei Stunden lang tatsächlich getan hatte. Stone hingegen hatte sich rasiert, geduscht und Hose und Hemd gebügelt.

»Und er glaubte, von den eigenen Leuten beobachtet zu werden. Haben Sie dieses Gefühl auch?«, fragte er.

Nervös blickte Garchik sich um. »Wie haben Sie das erraten?«

»Ich stelle mir das Unwahrscheinliche vor, dann gehe ich einen Schritt weiter zum praktisch Unmöglichen und stoße dabei oft auf die Wahrheit, vor allem in dieser Stadt.« Stone musterte den Mann. Garchiks Augen waren blutunterlaufen, und seine Kleidung war genauso zerknittert wie Chapmans. »Aber Ihnen macht noch mehr zu schaffen, nicht wahr?«

»Sie haben damit angegeben, Sie könnten uns im Handumdrehen verraten, um was für eine Bombe es sich handelte«, fügte Chapman hinzu. »Seitdem haben wir nichts von Ihnen gehört. Hat Ihre funkelnagelneue Technik Sie im Stich gelassen?«

»Können wir uns woanders unterhalten? Dieser Ort macht mich langsam nervös.«

Zusammen gingen sie ein paar Blocks weiter zu einem Bagelladen. Stone und Chapman bestellten jeder einen großen Kaffee. Garchik verknotete Rührstäbchen und ignorierte die Flasche Orangensaft, die vor ihm stand.

Stone trank einen Schluck Kaffee. »Sagt Ihnen dieser Ort mehr für ein Gespräch zu?«

»Bitte? Ja, ich glaube schon.«

Chapman beugte sich vor. »Agent Garchik, Sie können uns vertrauen.«

Er lachte matt. »Gut zu wissen. Ich hatte schon die Befürchtung, niemandem mehr vertrauen zu können.«

»Wie kommt das?«, wollte Stone wissen.

»Kleinigkeiten. Berichte, die nicht zurückkommen. Beweismittel, die nicht mehr dort sind, wo sie sein sollten. Ein Knacken im Telefon, wenn ich abnehme. Merkwürdige Dinge auf meinem Bürocomputer.«

»Ist das alles?«, erkundigte sich Stone.

»Reicht das nicht?«

»Mir würde es reichen. Ich frage mich nur, ob es da noch mehr gibt.«

Garchik trank einen Schluck Saft. Dann stellte er die Flasche ab und atmete tief durch. »Die Bombe.«

»Was ist damit?«

»Da gibt es ein paar Komponenten, die wir für gewöhnlich nicht in einem Sprengsatz finden.«

»Was heißt das?«

»Einzigartige, überraschende Kombinationen.«

»Reden wir hier von Dingen, die nicht aufzuspüren sind?«, warf Chapman ein.

»Nein. So etwas wäre unmöglich. Gewisse Bestandteile sind für Bomben unverzichtbar. Zum Beispiel Sprengkapseln. Diese Bombe verfügte über alles Notwendige. Wir haben Überreste gefunden, die das beweisen.«

»Worum geht es dann?«

»Wir haben noch andere Dinge gefunden.«

»Was für welche?« Chapman wurde sichtlich gereizter.

»Dinge, von denen noch keiner sagen kann, was sie eigentlich darstellen sollen – was der Grund dafür ist, weshalb ich sie als Dinge bezeichne.«

Stone runzelte die Stirn. »Sie haben also Überreste des Sprengsatzes gefunden, die Sie nicht identifizieren können?«

»Genau das will ich damit sagen, mehr oder weniger, ja.«

»Und was hat das ATF dazu offiziell zu sagen?«

»Offiziell?« Garchik lachte leise. »Die offizielle Position besteht darin, dass alle offiziell verblüfft sind. Und eine Scheißangst haben. Wir bitten sogar die NASA um Hilfe, vielleicht findet die es heraus.«

»Die NASA! Was wird das denn für Auswirkungen haben?«, wollte Chapman wissen.

»Ich weiß es nicht. Keiner von uns weiß es. Darum halten wir den Kreis der Eingeweihten bewusst klein. Vermutlich dürfte ich Ihnen das gar nicht sagen. Halt, stimmt nicht. Ich weiß, dass ich es Ihnen nicht sagen dürfte.«

Stone spielte mit dem Kaffeebecher, während er darüber nachdachte. »Wusste Agent Gross Bescheid?«

Garchik warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Ja, sicher. Ich habe es ihm selbst gesagt. Schließlich war er der leitende Untersuchungsbeamte, also war ich der Ansicht, er hätte das Recht, es zu wissen.«

»Und wie hat er reagiert?«

»Ich sollte ihn auf dem Laufenden halten. Ich glaube, er ist mit anderen Dingen beschäftigt.«

»Haben Sie jemandem verraten, dass Sie ihn informiert haben?«

Garchik blieb nicht verborgen, in welche Richtung sich das bewegte. »Sie glauben, er wurde wegen etwas getötet, das ich ihm gesagt habe?«

»Möglich.«

»Aber wer hätte darüber Bescheid gewusst?«

»Schwer zu sagen, da wir nicht wissen, ob er es an jemanden weitergegeben hat oder nicht. Haben Sie jemandem gesagt, dass Sie ihn informiert haben?«

»Vielleicht ein paar Leuten beim ATF. Ich muss schließlich Bericht erstatten«, fügte er trotzig hinzu.

»Haben Sie sich Kravitz’ Wohnwagen angeschaut?«

»Ja. Obwohl das schon ein seltsamer Aufbewahrungsort für solche Materialien war.«

»Unter dem Wohnwagen, meinen Sie?«, fragte Stone.

»Ja.«

»Feuchtigkeit«, warf Chapman ein. »Ist nicht gut für solche Dinge.«

»Richtig«, pflichtete Garchik ihr bei. »Ganz zu schweigen davon, dass man nur schwer daran herankam.« Unbehaglich verlagerte er seine Sitzhaltung. »Hören Sie, ich bin kein Feigling. Ich habe Milizen und Gangs infiltriert und bin lebend wieder rausgekommen. Aber meine eigene Seite im Auge behalten zu müssen, bin ich nicht gewöhnt. Das macht mich fertig.«

»Würde mir genauso gehen«, versicherte ihm Stone.

»Was geht hier vor? Was glauben Sie?«

»Irgendwo steckt ein Verräter«, sagte Stone. »Und dessen ist man sich sehr wohl bewusst. Also versucht man, den Spion aufzuspüren.«

»Also werden wir alle im Grunde überwacht.«

»Richtig. Das Problem dabei ist nur, dass einer der Beobachter der Verräter sein könnte.«

»Gott steh uns bei, falls das zutrifft«, sagte Garchik. »Was soll ich tun?«

»Halten Sie den Kopf unten und reden Sie nicht so viel am Telefon oder mit Ihren Kollegen. Und falls irgendeine andere Behörde zufällig in Ihre Nähe kommt, spielen Sie den Dummen.«

»Das ATF hat viel Personal. Ich bin nicht der Einzige, der über die neue Entwicklung Bescheid weiß.«

Stone stand auf. »Unter diesen Umständen würde ich das nicht unbedingt als förderlich betrachten.«

Sie ließen einen betrübt aussehenden Garchik in dem Bagelladen zurück.

Chapman räusperte sich. »Was ist mit Ihrem geheimnisvollen Camel Club? Haben die sich schon an die Arbeit gemacht?«

Stone schaute auf die Uhr. »Genau in diesem Augenblick.«

* * *

Harry Finn bewegte sich, als hätte er nicht eine Sorge auf der Welt. Mit seiner geschlossenen Sonnenbrille, Jeans, Sweatshirt, Turnschuhen und Haargel sah er aus wie ein Collegestudent. Was er auch beabsichtigte, denn er schlenderte über den Campus der Georgetown University. Die Gebäude sahen aus, als hätte man sie Stein für Stein aus Cambridge oder Oxford über den großen Teich geschafft; es gab hübsche Grünflächen und massenhaft Studenten, die umhereilten oder in Vorlesungspausen herumlungerten. Selbstbewusst bewegte Finn sich in ihrer Mitte, nahm kleine Schlucke aus seinem Kaffeebecher und verlagerte das Gewicht des Rucksacks auf seiner linken Schulter.

Innerhalb von fünf Minuten hatte er Fuat Turkekuls Spur aufgenommen. Das lag an seiner ausgezeichneten Vorbereitung. Ein bisschen Computerhacken in der College-Datenbank, ein paar diskrete Fragen und eine gründliche Erkundung des Campusgeländes.

Der in der Türkei geborene Gelehrte hatte sich Bücher unter den Arm geklemmt und war mit einem anderen Fakultätsmitglied in eine lebhafte Diskussion vertieft, eine Gruppe Studenten im Schlepptau. Sie betraten ein Gebäude am westlichen Ende des Campus. Finn folgte ihnen.

Stones Instruktionen waren präzise gewesen. Beobachte diesen Mann. Und nicht nur, um ihn zu beschützen. Stone hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er von der Loyalität des Türken noch nicht überzeugt war.

»In diesem Stadium ist alles möglich, Harry«, hatte er gesagt. »Falls ihn sich jemand schnappen will, verhinderst du das. Doch sollte er etwas tun, das darauf hindeutet, er könnte für die andere Seite arbeiten, dokumentierst du es und gibst mir sofort Bescheid.«

Turkekul veranstaltete in der zweiten Etage ein Seminar mit zweiunddreißig Studenten. Finn schlüpfte als dreiunddreißigster in den Raum, schob wie viele andere Studenten seinen Rekorder zurecht, holte Buch und Laptop aus der Tasche und lehnte sich zurück. Falls Turkekul ihm besondere Aufmerksamkeit schenkte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.

Im Gegensatz zu einigen anderen Studenten hörte Finn jedem Wort des Mannes zu. Vor allem achtete er darauf, wie Turkekul es sagte, was oft viel wichtiger war als die Aussage selbst.

Und im Unterschied zu allen anderen Studenten überprüfte Finn den Raum auf mögliche Bedrohungen. Er war nicht besonders zufrieden. Nur ein Zugang. Wenig Deckung. Turkekul gab ein prächtiges Ziel ab.

Finn berührte seine Brust und die dort in ihrem Halfter steckende Glock. Wäre er ein Attentäter gewesen, wäre Turkekul bereits tot. Er fragte sich, wie ein Mann, der die Aufgabe hatte, bin Ladens Nachfolger zur Strecke zu bringen, so ungezwungen leben konnte. Es ergab nicht den geringsten Sinn. Und Dinge, die keinen Sinn ergaben, störten Harry Finn. Sie störten ihn sogar sehr.

* * *

Caleb setzte sich an seinen Tisch im Lesesaal für seltene Bücher und betrachtete verstohlen seine Kollegen, die den verschiedensten Aufgaben nachgingen. Einigen nickte er lächelnd zu.

»Guten Morgen, Avery«, sagte er zu einem stattlichen Burschen.

»Caleb. Meinen Glückwunsch zur Beschaffung des Fitzgeralds.«

Caleb strahlte. »Danke.« Darauf war er wirklich stolz.

Als ein wenig Ruhe eingekehrt war, setzte er seine Brille auf, tippte auf der Tastatur herum, arbeitete sich durch mehrere Datenbanken der Regierung und hoffte bei jeder angeschlagenen Taste, auf kein unüberwindliches Hindernis zu stoßen. Sein lieber Freund Milton Farb hätte nur Sekunden gebraucht, um in die richtige Datenbank hineinzukommen, aber Milton war einzigartig gewesen. Im Laufe der Jahre war Caleb in der Bedienung elektronischer Geräte besser geworden, und er ging die von Stone übertragene Aufgabe mit Überlegung und Ruhe an. Außerdem war er Angestellter der Regierung und verfügte über die nötigen Passwörter und Autorisierungen. Und es war ja nicht so, als wären Veranstaltungen im Lafayette Park der Geheimhaltung unterworfen. Zumindest hoffte er das.

Nach einer halben Stunde atmete er erleichtert auf. Er druckte das Dokument aus, und die beiden einzeilig geschriebenen Seiten landeten im Auffangkorb des Druckers. Caleb studierte sie. Es gab viele Veranstaltungen. An einigen würden richtige Washingtoner Schwergewichte teilnehmen. Falls sein Freund hoffte, die Suche mit dieser Liste eingrenzen zu können, würde das nicht einfach sein, das war Caleb sofort klar.

Er verstaute die Seiten in seinem Aktenkoffer und machte sich wieder an die Arbeit.

Der Auftrag
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