KAPITEL 101

Joe Knox verschwand unter einer Trümmerkaskade, als eine Sprengladung fünfzehn Meter voraus die Mauer neben ihm zusammenbrechen ließ. Die anderen gruben sofort nach ihm. Stone lag auf den Knien und schleuderte Steine von seinem Freund herunter. Mit blutenden Fingern und Armen arbeitete er wie ein Besessener in der Dunkelheit, um Knox aus den Trümmern zu befreien. Schließlich berührte er Haut. Zwei Minuten später hatten sie Knox ausgegraben.

Er atmete noch, war aber bewusstlos.

Stone wollte ihn in die Höhe stemmen, doch Finn trat neben ihn. »Lass mich das machen.«

Er wuchtete sich den zweihundert Pfund schweren Mann auf die Schultern.

»Der einzige andere Weg nach draußen führt in die Höhe, Harry«, sagte Stone.

Finn nickte mit grimmiger Miene. »Zeig uns einfach den Weg.«

Stone holte das Seil, mit dem er Caleb aus dem Schlammtank befreit hatte, aus Knox’ Rucksack. Jeder wickelte es sich um die Taille und reichte es dann weiter.

»Gehen wir«, sagte Stone.

Er hoffte, dass Friedman den dritten Ausgang aus der Mördergrube nicht gefunden hatte, wie er vor so vielen Jahren. Er führte die Gruppe quer durch den Hauptkorridor und weiter zum anderen Ende. Vor einer Stahlwand blieb er stehen und strich mit den Fingern darüber. Sie fühlte sich kalt an, war scheinbar undurchdringlich. Auf der einen Seite führten Nieten nach oben, auf der anderen Seite wieder herunter.

Die nächste Explosion erschütterte das Gebäude. Dreck und Staub prasselten von der nachgebenden Decke auf Stone und die anderen herab.

Stone drückte auf eine Stelle, und die Wand gab nach. Er schob das Metall aus dem Weg und enthüllte eine primitive Felsentreppe. Durch die Öffnung eilten sie nach oben.

Stone fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Behörden alarmiert waren. Irgendjemand aus der Gegend würde die Explosionen melden. Beim Sheriff, oder welche Art von Polizeitruppe es hier auch immer gab. Der Sheriff würde jemanden losschicken, vermutlich einen einzelnen Beamten, nur würde der keine Ahnung haben, womit sie es hier zu tun hatten. Es würde Anrufe geben, und früher oder später würde die CIA davon erfahren. Und die würde sofort ein Team schicken.

Aber was würden die Leute finden?

Genau das, was Friedman sie finden lassen wollte. Tote russische Schläger, die möglicherweise Verbindungen zum Drogenkartell hatten. Und eine Forschungseinrichtung für Nanobots an einem Ort, an dem die CIA ihre Attentäter ausgebildet hatte. Das würde wie eine Atombombe in die nationalen und internationalen Schlagzeilen einschlagen.

Und man wird uns finden, dachte Stone. Tot.

Aber wie wollte Friedman das bewerkstelligen? Die Explosionen würden sie hier festsetzen, sicher, trotzdem konnten sie überleben, bis die Retter eintrafen. Sie hatten zu essen und Wasser. Möglicherweise gab es hier sogar Vorräte.

Sie wird daran gedacht haben. Es muss etwas anderes sein.

Sie blieben in Bewegung. Als Finn erlahmte, übernahm Stone Knox und trug ihn, so lange er konnte. Dann übernahm Finn ihn wieder. Aber als der Weg in die Höhe führte, fiel es ihnen immer schwerer. Trotzdem mühten sie sich weiter ab.

Mit jeder Detonation prasselten Steine von der Decke, da sie sich in einem Teil der Anlage befanden, der nie ausgebaut worden war. Hier war der Berg noch unberührt.

»Wohin führt der Weg?«, keuchte Annabelle.

Stone zeigte nach oben. »Es ist nicht mehr weit.«

»Auf die Bergspitze?«

»In der Nähe.«

»Gibt es einen Weg nach unten?«

Stone antwortete nicht sofort. Tatsächlich wusste er es nicht genau. Er hatte diesen Ausgang zufällig eines Nachts gefunden, als er nicht hatte schlafen können. Aber er war nie vom Berg gestiegen. Er hatte einfach die Sterne betrachtet und ein paar Augenblicke des Friedens erlebt, bevor er zurückgekehrt war und mit seiner Ausbildung weitergemacht hatte. Deshalb wusste er nicht, ob ein Weg den Berg hinunterführte. Aber es musste ihn geben. Und er würde ihn finden.

Er warf einen Blick zurück zu Finn, der gerade Knox trug. Dann zu Caleb, der seine verletzte Schulter hielt. Er betrachtete die erschöpfte Annabelle. Die extreme Anstrengung ließ seine Beine zittern.

»Wir finden einen Weg, Annabelle«, sagte er. »Und auf dem Berg zu sein ist besser, als darunter begraben zu werden.«

Sie stiegen weitere dreißig Meter hinauf. Bei jeder Abzweigung musste Stone stehen bleiben und nachdenken, welche Richtung die richtige war. Zweimal traf er die falsche Entscheidung. Beim dritten Mal ging er allein ein Stück voraus, bis er sich sicher war; dann holte er die anderen.

Finn trat ein Stück näher an ihn heran. »Knox geht es nicht gut«, sagte er leise.

Stone kniete neben den Verletzten und beleuchtete dessen Gesicht. Es war grau und schweißüberströmt, aber die Haut war kalt. Vorsichtig hob Stone ein Lid und leuchtete in das Auge. Dann erhob er sich.

Knox blieb nicht mehr viel Zeit.

»Gehen wir.«

Chapman räusperte sich. »Bilde ich es mir nur ein, oder fällt das Atmen schwerer? Ich hätte nicht geglaubt, dass die Berge in Virginia so hoch sind.«

»Sind sie auch nicht«, erwiderte Stone. Er nahm einen tiefen Atemzug, der auf dem halben Weg in seiner Brust stockte, als der darin befindliche Sauerstoff versiegte. Jetzt hatte er seine Antwort. Friedman würde sie ersticken.

Irgendwo in der Tiefe summten Maschinen.

»Ventilatoren«, sagte er. »Sie saugen die Luft raus.«

Er nahm einen weiteren Atemzug und verzog das Gesicht.

»Und sie fügt der verbliebenen Luft irgendwas hinzu, abgesehen vom Qualm und der Hitze der Explosionen«, verkündete Finn. »Etwas, das unsere Lungen gar nicht gebrauchen können.«

»Schnell«, stieß Stone hervor. »Hier lang.«

Die nächsten fünfzehn Meter führten einen Weg entlang, der wie große Steinstufen erschien. Sie waren unregelmäßig, viel zu breit an einigen Stellen, problematisch schmal an anderen.

Stone musterte Finn. Sein Freund verfügte über ungewöhnliche Kräfte und die beinahe unerschöpfliche Ausdauer des Navy SEALs, der er einst gewesen war. Aber er bekam nur die Hälfte des benötigten Sauerstoffs, und die Situation verschlechterte sich.

Annabelle hatte den Arm um Caleb gelegt und half ihm den Weg hinauf. Aber Caleb ermüdete rasch. Er verfügte nicht einmal annähernd über die Ausdauer der anderen.

Schließlich blieb er stehen und ließ sich einfach zu Boden sinken. Sein Atem ging pfeifend.

»Geht. Lasst mich … kann nicht …«

Stone machte kehrt, schob den Arm unter Calebs unverletzte Schulter und zerrte ihn hoch. Caleb zuckte vor Schmerz zusammen.

»Hier wird keiner zurückgelassen«, sagte Stone. »Entweder, wir bleiben alle hier, oder wir gehen weiter.«

Sie kämpften sich weiter.

Annabelle sah es zuerst.

»Licht!«, rief sie.

Das voraussichtliche Ende ihrer Flucht setzte neue Kräfte in ihnen frei.

Es war eine Spalte im Gipfel, die Stone vor Jahrzehnten vergrößert und dann mit Materialien getarnt hatte, die er aus der Anlage nach oben schmuggeln konnte. Das Licht war keine Einbildung. Draußen war die Morgendämmerung hereingebrochen. Stone konnte kaum glauben, dass sie Stunden im Berg verbracht hatten.

Sie erreichten den Lichtstrahl. Stone stieß Sperrholz zur Seite und löste Metallplatten, die er hier vor Jahren angebracht hatte. Der Spalt verwandelte sich in eine dreißig Zentimeter große Öffnung. Finn legte Knox am Boden ab und half. Aus dreißig Zentimetern wurde ein Meter. Tief unten vernahmen sie eine einzelne Explosion, aber sie hatten den Berg hinter sich gelassen.

Doch Stone mahnte zur Vorsicht. »Haltet euch für alles bereit. Ich gehe zuerst.«

Alle waren angespannt. Finn hob Knox auf und zog seine Waffe. Chapman hielt die Walther in der einen, eine Art Wurfmesser in der anderen Hand. Annabelle hielt Caleb fest, der nach dem langen Aufstieg so aussah, als würde er jeden Augenblick das Bewusstsein verlieren.

Stone trat einen Schritt vor und stolperte, fiel beinahe auf die Knie. Unwillkürlich schaute er zu Boden.

»Verdammt!«

Er war nicht auf dem unebenen Boden gestolpert. Man hatte einen Draht quer über die Öffnung im Felsen gespannt. Sein Blick zuckte nach rechts. Der letzte Sprengsatz klemmte in einem Spalt. Er verfügte über einen Zähler. Noch fünf Sekunden.

»Zurück«, brüllte Stone und warf sich der Bombe entgegen. Im gleichen Augenblick setzte auch Chapman sich in Bewegung.

Annabelle schrie. Caleb stöhnte. Finn taumelte unter Knox’ Last zurück.

Stone warf der britischen Agentin einen flüchtigen Blick zu. Sie schaute nicht ihn an, sondern starrte mit zusammengebissenen Zähnen auf die Bombe, die Arme hoch erhoben. Dann stieß sie sich vom Felsboden ab und flog an ihm vorbei.

»Nein, Mary!«, rief Stone.

Der Zähler sprang auf eins.

Der Auftrag
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