KAPITEL 92

Sechs Stunden später tauchte ein Mitglied von Friedmans asiatischem Leibwächterteam, ein Bursche namens Ming, aus der Versenkung auf. Er war als hochbezahlter Söldner bekannt, der nebenher als Auftragsmörder arbeitete. Man hatte ihn nie vor Gericht stellen können, weil Zeugen meistens vom Erdboden verschwanden. Vermutlich hatte Ming seine Kreditkarte verbotenerweise benutzt, um in der South Bronx in einem Imbiss ein Mittagessen zu bezahlen.

Das war immer noch ein großes Gebiet, aber Stone konnte es eingrenzen. Außerdem konnten sie keinem der auf der Beobachtungsliste erfassten Männer, die Friedman vermutlich eingestellt hatte, einen Gebrauchtwagen zuordnen. In der Bronx gab es nicht so viele Taxis wie in Manhattan, und es existierten auch keine Aufzeichnungen darüber, dass Ming schon zuvor einmal in New York gewesen war, was ihn vermutlich zögern ließ, sich darüber zu informieren, wie man die U-Bahn benutzte. Also nahm Joe Knox an, dass Ming das Essen vermutlich zu Fuß geholt hatte.

»Nehmen wir einen Radius von sechs Blocks mit dem Imbiss als Mittelpunkt«, sagte Knox am Telefon zu Stone. »Das ist ein großes Gebiet, das man überprüfen muss, aber es ist längst nicht mehr so groß wie zuvor.«

»Gute Arbeit, Joe.«

»Wer gehört alles zu deiner Jagdmannschaft?«

»Harry Finn, Mary Chapman vom MI6 und ich.«

»Und ich.«

»Nein, Joe, du nicht.«

»Alex Ford hat mir das Leben gerettet. Das schulde ich ihm.«

»Hast du nicht gesagt, du wolltest in den Ruhestand gehen?«

»Das werde ich, sobald das hier vorbei ist. Wie kommen wir hin?«

»Privatwagen. Kann sein, dass auch Friedman eine Möglichkeit hat, kommerzielle Datenbanken zu überwachen. Also kommen Mietwagen nicht infrage.«

»Wir können meinen Rover nehmen. Wann willst du los?«

»Bist du dir ganz sicher?«

»Hör auf zu fragen. Was ist mit dem Rest des Camel Clubs?«

»Reuben ist angeschossen. Und ich will nicht, dass Annabelle auch nur in die Nähe dieses Unternehmens kommt. Und Caleb auch nicht.«

»Dann ist alles gesagt.«

* * *

Um vier Uhr morgens brachen sie auf. Knox fuhr. Stone saß auf dem Beifahrersitz, Finn und Chapman hinten. Stone hatte ihnen in der Nacht zuvor den Plan erklärt. Außer Knox hatten alle ihr Äußeres verändert, nur für den Fall, dass Friedman sie beobachten ließ. Möglicherweise hatte sie Finn identifiziert, als er Turkekul beschattete, und Stone wollte nicht das geringste Risiko eingehen.

Jeder von ihnen hatte ein Foto von Ming. Knox hatte obendrein ein Bild von Friedman, obwohl sie vermutlich nur noch geringe Ähnlichkeit mit ihrem früheren Erscheinungsbild aufwies.

»Ein Radius von sechs Blocks«, wiederholte Stone, als sie den Big Apple erreichten, der nun voll erwacht war, als Millionen zu ihrem Arbeitsplatz aufbrachen. Knox würde mit dem Wagen Runden drehen, nachdem er die anderen drei an verschiedenen Stellen der South Bronx abgesetzt hatte. Die Gegend war nicht gerade die Park Avenue, aber sie waren alle bewaffnet und konnten gut auf sich aufpassen.

Stones Route führte auf den Imbiss zu. Er brauchte sich Mings Foto nicht noch einmal anzusehen. Er hatte sich jeden der markanten Gesichtszüge dieses Mannes eingeprägt. Am auffallendsten waren die seelenlosen Augen. Stone war klar, dass Ming ein Soziopath geworden wäre und die Arbeit umsonst getan hätte, hätte er nicht die Laufbahn eines Mietkillers eingeschlagen. Aber selbst Soziopathen machten Fehler. Mings Fehler hatte darin bestanden, ein Pastramisandwich, eine Dose Sapporo und eine Portion Pommes frites mit der Kreditkarte zu bezahlen.

Obwohl es auch in der South Bronx hübsche Wohngegenden und schmucke Geschäfte gab, vereinte sie die Hälfte des sozialen Wohnungsbaus der Stadt auf sich. Und trotz des neuen, für über eine Milliarde Dollar gebauten Yankee Stadium lebten mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Kriminalität war ein Problem, und es gab Ecken, die man besser mied. Stone und seine Leute befanden sich in einer dieser Gegenden.

Allerdings machte Stone sich weniger Sorgen um die örtlichen Verbrecher als vielmehr um ein Team importierter Killer. Sein Blick blieb in Bewegung, aber als die Sonne am Himmel höher stieg und ihm Schweiß in den Kragen lief, wurde ihm klar, dass sie ein kleines Wunder brauchten, um die Männer zu finden.

Dann aber meldete Chapman die Sichtung. Sie gab die Adresse durch, an der sie sich befand. »Er geht nach Westen, überquert gerade die Straße.«

Die anderen schlugen sofort ihre Richtung ein, während Chapman sie per SMS über die Entwicklung auf dem Laufenden hielt. Sie textete ein letztes Mal, ehe sie Stone anrief. »Er ist gerade in einem Laden verschwunden, der nach einer Werkstatt aussieht, auf der … Moment … East 149th steht auf dem Straßenschild.«

»Und die Querstraße?«, wollte Stone wissen.

Die britische Agentin gab sie durch.

»Gehen Sie in Deckung«, wies Stone sie an. »Möglicherweise beobachten die Kerle die Umgebung.«

Chapman überquerte die Straße und betrat eine Gasse. Von dort schaute sie zurück zu dem viergeschossigen Ziegelgebäude. »Sieht verlassen aus«, sagte sie in ihr Handy.

»Bleiben Sie da und beobachten weiter«, erwiderte Stone. »In zehn Minuten bin ich bei Ihnen.«

Neun Minuten später gesellte er sich in der Gasse zu ihr. »Knox und Finn kommen von der anderen Seite«, sagte er und beobachtete das Gebäude. »Ist Ihnen noch etwas aufgefallen?«

»Eine Gestalt an einem Fenster in der dritten Etage. Sah nicht nach Ming aus. Aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.«

Stone ließ den Blick schweifen und fragte sich, warum Friedman diese Gegend als Versteck gewählt hatte. Sicherlich gab es in der South Bronx viel ungenutzten Raum. Trotzdem war es eine merkwürdige Wahl. Aber Stone kam zu dem Schluss, dass Marisa Friedman viel komplizierter war, als er ursprünglich gedacht hatte. Dabei hatte er sie von Anfang an für außerordentlich talentiert gehalten.

Er blickte nach Südosten in Richtung East River, wo man im Laufe der Jahre mehr als nur eine Leiche versenkt hatte. Im Westen floss der Harlem River am oberen Teil von Manhattan vorbei. Auf der anderen Seite Manhattans befand sich der Hudson River, an dem die Interstate 95 verlief, der die Stadt im Süden mit New Jersey und im Norden mit New England verband.

»Wie sieht der Plan aus?«, fragte Chapman.

»Wir beobachten das Haus.«

»Wie lange?«

»Bis wir wissen, wie sie ausgerüstet sind, wer dort ist und wie wir sie mit dem geringsten Risiko für uns ausschalten können.«

»Und wenn wir das NYPD oder das FBI verständigen?«

Stone warf ihr einen Blick zu. »Als Sie darauf bestanden haben, mitzukommen, ging ich davon aus, dass Sie das tun, was ich sage.«

»Das werde ich auch, bis zu einem gewissen Punkt. Wir müssen alles tun, damit Friedman am Leben bleibt und vor Gericht gestellt werden kann.«

»Sie sagten doch, es würde Ihnen schwerfallen, bei dieser Frau nicht abzudrücken.«

»Das habe ich nur gesagt, damit Sie sich besser fühlen. Ich habe kein Problem damit. Sie ist es nicht wert, dass ich mir mein Leben versaue. Aber können Sie sich beherrschen? Das ist hier doch die Frage.«

»Ich bezweifle ernsthaft, dass Friedman mit erhobenen Händen herauskommt, damit man ihr den Prozess machen, sie verurteilen und wegen Verrats hinrichten kann. Wenn sie versucht, ein Mitglied meines Teams auszuschalten, werde ich sie töten. Ich nehme an, Sie denken auch so.«

»Wie gut ist sie an der Waffe ausgebildet?«

»Ich habe mir ihre Akte angesehen. Ausgezeichnet. Und sie hat hervorragende Beurteilungen in allen Disziplinen. Nahkampf und Distanz.«

»Und ich hielt sie nur für ein hübsches Gesicht.«

Stone griff nach ihrem Arm. »Chapman, das ist ernst. Also verhalten Sie sich professionell. Schluss mit den dummen Bemerkungen.«

Sie riss sich los. »Ich lasse meine Leistung für mich sprechen. Wie wäre es damit?«

Stone richtete den Blick wieder auf das Gebäude.

Ein paar Minuten später rief Finn an. »Ich bin in Stellung. Hier gibt’s keine Aktivitäten. Zwei Zugänge. Einer in der Mitte, der andere östlich davon. Sieht aus, als wären sie verschlossen. Sind vermutlich unter Beobachtung. Möglicherweise haben sie auch ein tragbares Überwachungssystem. Jedenfalls würde ich das an ihrer Stelle machen, wenn ich eine solche Gegend als Unterschlupf gewählt hätte.«

»Dem stimme ich zu, Harry«, sagte Stone. »Ist Knox da?«

»Ja. Was sollen wir tun?«

»Hierbleiben und sehen, was wir herausfinden können. Wenn wir zuschlagen, will ich, dass es so sauber wie möglich abläuft. Können wir an den Bauplan kommen?«

»Den habe ich bereits auf mein Handy geladen.«

»So schnell?« Stone war überrascht.

»Ich habe einen Freund im städtischen Planungsbüro. Wir haben zusammen in der Navy gedient.«

»Schick mir den Grundriss.«

Finn gehorchte.

»Viele problematische Ecken«, bemerkte Stone.

»Stimmt. Sobald wir uns Zugang verschafft haben. Was der schwierige Teil sein wird. Unbeobachtet, meine ich.«

»Beobachtet weiter. Alle dreißig Minuten Zwischenbericht.«

Stone beendete den Anruf und richtete den Blick wieder auf das alte Ziegelgebäude.

Hinter ihm regte sich Chapman. »Und wenn uns jemand in dieser Gasse bemerkt?«

»Dann wechseln wir die Position.«

»Ich bin noch nie in New York gewesen. Es ist nicht so glamourös, wie ich dachte.«

»Das ist Manhattan, westlich von hier. Es ist das Land der Reichen und Berühmten. Die Bronx ist eine andere Erfahrung. Ein paar schöne Orte und ein paar weniger schöne.«

»Also waren Sie schon mal hier?«

Stone nickte.

»Geschäftlich oder privat?«

»Ich reise nie zum Vergnügen.«

»Was haben Sie gemacht, als Sie das letzte Mal hier waren?«

Stone unternahm nicht einmal den Versuch, die Frage zu beantworten. Chapman schien auch keine Antwort zu erwarten. Aber vor seinem inneren Auge reiste Stone Jahrzehnte in die Vergangenheit, zog den Abzug seines Scharfschützengewehrs durch und beendete das Leben eines weiteren Feindes der Vereinigten Staaten, der gerade zusammen mit seiner Geliebten die Straße auf dem Weg ins Luxushotel überquerte, wo sie Sex haben wollten. Der Mann hatte die Exekution zweier CIA-Agenten in Polen befohlen; das war sein Untergang gewesen. Um genau dreiundzwanzig Uhr hatte Stone ihm aus erhöhter Position aus einer Distanz von neunhundert Metern und bei einer stetigen Brise aus dem Norden, die ihm ein paar nervöse Sekunden beschert hatte, eine Kugel ins rechte Auge geschossen. Die Geliebte hatte erst mitbekommen, was los war, als ihr toter Lover zu Boden stürzte. NYPD und FBI hatten vorher einen diskreten Hinweis über das bevorstehende Ereignis bekommen und gar nicht erst versucht, den Fall aufzuklären. So hatte man das damals eben gemacht.

Verdammt, dachte Stone, vermutlich machte man es noch immer so.

Er konzentrierte sich wieder auf das Ziegelgebäude. Sein Zeigefinger krümmte sich um einen imaginären Abzug.

Der Auftrag
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