KAPITEL 9
Die Frau war tatsächlich beim MI6. Ihr Name lautete Mary Chapman. Aus der Nähe betrachtet stellte sich heraus, dass sie Mitte dreißig war, eins fünfundsiebzig groß, mit schulterlangem, schmutzig blondem Haar, das von einer Spange gehalten wurde, und durchdringenden, lebhaften dunkelgrünen Augen. Sie hatte ein kleines Kinn und dünne Lippen. Ihre Figur war schlank, fast drahtig, ihre nackten Waden muskulös. Ihre Finger waren lang, ihr Griff wie ein Schraubstock. Nach Stones Meinung war das Gesicht klassisch, aber nicht besonders attraktiv. Man würde sie niemals als »süß« bezeichnen. Selbstsicher, vielleicht sogar einschüchternd, aber niemals süß.
»Wie war der Flug über den großen Teich? Haben Sie keinen Jetlag?«, fragte Stone, nachdem die Besucher sich ihm vorgestellt und vor dem Kamin Platz genommen hatten.
Chapman warf Stone einen Blick zu und glättete dann umständlich eine Falte in ihrer Kostümjacke. »Keine verdammten Betten in einem Flugzeug, nicht mal bei der guten alten British Air.« Aus ihrem Akzent und ihren Worten hörte Stone Bescheidenheit und einen Sinn für Humor heraus.
»Man muss viel von Ihnen halten, dass man Sie über fast fünftausend Kilometer hierhergeflogen hat. Das MI6 hat eine ständige Niederlassung hier in Washington, nicht wahr?«
Chapman musterte das schäbige Mobiliar des Häuschens, bevor sie den Blick wieder auf Stones fadenscheinige Kleidung richtete. »Ich dachte immer, die Yanks würden ihre Leute besser bezahlen.«
Einer der FBI-Agenten räusperte sich. »Agent Chapman ist hier, um das FBI bei seinen Ermittlungen zu unterstützen.«
Stone richtete seine Aufmerksamkeit auf den massigen, kräftig gebauten Mann. Ein Schreibtischhengst, wenn man von seinem Taillenumfang und der schweißnassen Stirn ausging. Er war eindeutig nur der Bote und hatte in dieser Sache nicht viel zu sagen.
»Ich war schon beim NIC«, sagte Stone. »Die waren schneller als Sie. Die sind zu mir ins Krankenhaus gekommen.«
Der Dicke wirkte leicht verärgert, griff den Faden aber auf. »Und war das Treffen hilfreich?«
»Sie waren nicht besonders mitteilsam«, sagte Stone. »Ich hoffe, Sie machen Ihre Sache besser.«
Chapman schlug die Beine übereinander. »Tut mir leid, wenn ich darauf herumhacke, aber ich habe Ihre Legitimation noch nicht gesehen.«
»Ich habe keine, die ich Ihnen zeigen könnte«, erwiderte Stone freundlich.
Sie blickte den Dicken fragend an.
»Eine Formalität, die den Fortschritt der Ermittlung nicht behindern sollte«, sagte er steif.
Chapman runzelte die Stirn, blieb aber stumm.
»Gut«, sagte Stone. Er lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück. Seine Miene wurde ernst. »Der Park.« Er gab den Besuchern einen detaillierten Bericht über das Geschehen dort. »Es gibt drei Personen, über deren Verbleib wir nichts wissen«, fügte er hinzu und blickte den Dicken an. »Kennen wir den Namen des Joggers?«
»Es wurden menschliche Überreste gefunden. Weit verstreut«, erwiderte der Mann und verzog vor Abscheu das Gesicht.
»Identifizierbar?«
»Es wird nicht einfach, ist aber machbar. Wir müssen allerdings auf die DNS zurückgreifen. Wenn der Tote in irgendeiner Datenbank verzeichnet ist, bekommen wir einen Treffer. Wir haben sein Foto von der Videoaufnahme auf unseren Websites gepostet und geben es an die Medien weiter, um ein paar Wellen zu schlagen. Wir hoffen, dass jemand sich meldet oder zumindest eine Vermisstenanzeige aufgibt.«
»Und die drei anderen?«
»Bei dem Mann im Anzug und der Frau lassen wir die Videoaufnahmen, die wir im Park gemacht haben, durch die Gesichtserkennungs-Datenbanken laufen, obwohl der Mann nie in die Richtung der Überwachungskameras geschaut hat. Vor vier Minuten hatten wir noch keinen Treffer. Außerdem haben wir die Fotos an die Medien weitergegeben und die Öffentlichkeit um Hilfe gebeten.«
»Glauben Sie, diese Leute könnten mit der Sache zu tun haben?«, fragte Stone.
»Es ist noch zu früh, um diese Frage beantworten zu können. Vielleicht haben sie einfach Glück gehabt, dass sie den Park genau zur rechten Zeit verlassen haben.«
»Und das Bandenmitglied? War er Cop?«
»Hat das NIC Ihnen das gesagt?«
»Nicht ausdrücklich. Aber die haben es auch nicht dementiert.«
»Dann werde ich es auch nicht dementieren.«
»Sein Zahn steckte in meinem Kopf, bis die Ärzte ihn entfernt haben«, sagte Stone. »Sie könnten einen Zahnabdruck anfertigen lassen und wahrscheinlich auch eine DNS-Probe entnehmen.« Er hielt seinen Ärmel hoch. »Und das ist sein Blut. Haben Sie ein Testset im Kofferraum? Sie könnten sofort einen Abstrich machen.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Chapman.
Stone drehte sich zu ihr um. »Warum nicht?«
»Weil der Zahn einem Angehörigen unseres Sicherheitspersonals gehört, der im Park Streife ging. Die Ärzte haben Ihnen den Zahn nicht zufällig zurückgegeben? Mein Mitarbeiter würde ihn gerne wiederhaben.«
»Warum war Ihr Mitarbeiter gestern Abend im Park?«
»Weil der Premierminister eigentlich vorhatte, zu Fuß durch den Lafayette Park zum Blair House zu gehen. Dann aber hat er sich den Knöchel vertreten, als er auf einer Treppe im Weißen Haus gestolpert ist. Um genau zwei Minuten nach elf. Das war sein Glück. Wäre er zu Fuß gegangen, hätte die Explosion ihm den Kopf abgerissen.«