KAPITEL 8
Ohne dass Stone eine Anweisung erteilt hätte, setzte der Wagen ihn am Mt.-Zion-Friedhof ab. Das war natürlich Absicht. Ebenso gut hätte man sagen können: »Wir wissen genau, wo Sie wohnen. Wenn wir wollen, können wir Sie jederzeit holen.«
Stone ging an dem schmiedeeisernen Tor des Zauns vorbei, der den Friedhof umschloss, und betrat das kleine Friedhofsgärtner-Häuschen, das sein Zuhause war. Die Einrichtung war spartanisch und aus zweiter Hand und passte genau zu Stones Persönlichkeit und seinen begrenzten finanziellen Mitteln. Ein großer Raum war in eine kleine Küche und einen Sitzbereich geteilt. An einer Wand stand ein hohes Regal mit Büchern über esoterische Themen in den unterschiedlichsten Sprachen, die Stone über Jahrzehnte gesammelt hatte. Davor stand ein verkratzter Schreibtisch, der schon zum ursprünglichen Mobiliar des Häuschens gehört hatte. Ein paar abgenutzte Stühle standen vor einem geschwärzten Ziegelkamin. In einer Nische hinter einem ausgefransten Vorhang stand die Armeepritsche, auf der Stone schlief. Das und ein winziges Badezimmer bildeten die gesamte Grundfläche des Häuschens.
Stone nahm drei Ibuprofen, spülte sie mit einem Glas Wasser herunter, setzte sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und rieb sich die Hände. Ob er noch immer nach Mexiko fliegen würde oder nicht, konnte er nicht sagen.
Er hielt vier Finger der rechten Hand und starrte darauf.
»Vier Personen«, murmelte er. Wenngleich es jetzt vielleicht nur noch drei waren, da aus dem Video hervorgegangen war, dass der Jogger nicht mehr unter den Lebenden weilte. Doch sie wussten noch immer nicht, wer dieser Mann war und warum er dort gewesen war. Also ließ Stone die vier Finger oben.
»War der Jogger zur falschen Zeit am falschen Ort, oder hat er mit der Sache zu tun?«, fragte er sich. »Und wo sind der Mann im Anzug und die Frau? Haben sie irgendwie miteinander zu tun?«
Und da war noch das Bandenmitglied, das wahrscheinlich ein Cop war. Stone wusste, dass der Mann nur aus diesem Grund mit einer Waffe in den Lafayette Park gekommen sein konnte. Er hatte eine Dienstmarke und die Befugnis, sich bewaffnet dort aufzuhalten. Der Bildschirm, der beim NIC schwarz geworden war, war die einzige Bestätigung, die Stone brauchte. Riley Weaver spielte mit den Leuten nicht fairer, als Carter Gray es getan hatte.
Doch es störte Stone, dass sowohl der Mann im Anzug als auch die Frau unmittelbar, bevor die Schüsse fielen, gegangen waren. Zufall? Hatten die beiden einfach nur Glück gehabt, so wie der Jogger Pech gehabt hatte?
Stone schloss die Augen und zwang seinen Verstand, auf den Vorabend zurückzugreifen. Seine Schläfen pochten noch immer, und seine Kopfhaut brannte nach wie vor von dem spitzen Zahn, doch allmählich kehrten die Bilder und Geräusche zurück.
»MP-5, vielleicht TEC-9s«, sagte er laut. In Wirklichkeit gab es zahlreiche Möglichkeiten, welche Waffen zum Einsatz gekommen sein konnten. »Auf Vollautomatik eingestellt.«
Wahrscheinlich Magazine mit dreißig Schuss, die man auf fünfzig oder mehr umstellen konnte. Wie viele Schüsse waren abgefeuert worden? Natürlich hatte Stone nicht jede Salve zählen können, aber er konnte auf der Grundlage der verstrichenen Zeit ziemlich gut schätzen. Vollautomatik, Magazine mit dreißig Schuss, zwei bis drei Sekunden, um die Munitionskammer zu leeren. Das Feuer hatte etwa drei-bis viermal so lange angehalten, zwölf bis fünfzehn Sekunden. Also ungefähr hundert Schuss. Aber nur, wenn lediglich eine Waffe abgefeuert worden war. Falls es mehr als eine Waffe gegeben hatte, ging es um Hunderte von Schüssen. Eine gewaltige Feuerkraft. Da die meisten Kugeln anscheinend im Boden gelandet waren, würde das FBI eine ziemlich genaue Schätzung hinbekommen. Aber das beantwortete nicht die bei Weitem wichtigere Frage. Wie genau war jemand so nahe herangekommen, um solch einen Angriff durchzuführen?
Stone stand auf, schaute aus dem Fenster und stellte im Geist die Topografie der Gegend um den Park zusammen. Nördlich und westlich entlang der H Street befanden sich das Gebäude der amerikanischen Handelskammer und das altehrwürdige Hay-Adams-Hotel. Im Nordosten lag die St. John’s Church. Dahinter erhoben sich Bürogebäude und Büros der Bundesregierung. Wenn er sich recht erinnerte, verfügte das Hay-Adams über einen Dachgarten. Und es war höher als die Kirche. Und Höhe war wichtig, um die Flugbahnen der Kugeln zu erklären.
Stone ging zur nächsten Frage weiter. Warum haben sie mich zum NIC gebracht? Nur wegen meiner Beobachtungen? Es waren andere Leute dort, die ihnen genau dasselbe wie ich berichten könnten. Es muss einen anderen Grund geben. Günstige Winde und nachlaufende See?
Stone schaute aus dem Fenster und sah, dass eine andere schwarze Limousine vor dem Friedhofstor hielt. Als die Insassen ausstiegen, musterte er sie. FBI, dachte er. Die Agenten vom Bureau gaben mehr für ihre Kleidung aus. Stone bezweifelte, dass sie kamen, um ihn zu einem Flugzeug nach Mexiko zu bringen. Der Präsident würde das FBI nicht in so eine Sache verwickeln. Zu viele gesetzliche Hindernisse. Die Bundesbehörde neigte dazu, die Buchstaben des Gesetzes zu befolgen. Und der FBI-Direktor war mächtig genug, um dem Präsidenten einen Wunsch abzuschlagen. Vielleicht hatte die Gleichung sich erneut verändert.
Und diesmal vielleicht zu meinen Gunsten.
Als die vier Personen näher kamen, erkannte Stone, dass seine erste Beobachtung richtig war. Er hatte gerade am Finger eines der Männer den Ring der FBI Academy gesehen. Es war auch eine Frau bei ihnen. Stone glaubte nicht, dass sie beim FBI war. Wenn er jedes äußere Merkmal berücksichtigte – von den Zähnen über die Gesichtsstruktur bis hin zum Gang –, kam er zum Schluss, dass sie Engländerin war. Höchstwahrscheinlich MI6. Beauftragt mit Geheimdiensttätigkeiten im Ausland.
Wenn der britische Premierminister das Ziel gewesen war, ergab das natürlich Sinn. Die Frau hatte den Premier möglicherweise auf seiner Reise begleitet. Oder sie war hier stationiert. Oder sie war heute erst in die USA geflogen, hatte gegen vierzehn Uhr eine Maschine genommen und war etwa zur gleichen Zeit hier eingetroffen. So, wie es aussah, hielt Stone die letzte Möglichkeit für die wahrscheinlichste.
Und es war ziemlich klar, weshalb die Frau und die Männer hier waren. Die Kugeln waren eine Sache, aber die Bombe hatte jemanden in die Luft sprengen sollen, und Stone ging nicht davon aus, dass es sich dabei um einen übergewichtigen Jogger handelte. Und nun glaubten sie, Stone könne ihnen irgendwie helfen, die Wahrheit herauszufinden.
Die reinste Ironie, dachte er. Die Wahrheit.
Er behielt sie im Auge, als sie sich seinem Häuschen näherten.