KAPITEL 54
Mary Chapman ließ das Wasser über ihren Körper laufen. Dampf stieg in der Dusche empor wie Morgennebel über einem See. Frustriert schlug sie gegen die Wand, hielt den Kopf unter das sprühende Wasser und nahm einen tiefen, beruhigenden Atemzug, ehe sie das Wasser abstellte, aus der Dusche stieg, sich mit dem Handtuch trocken rieb und sich aufs Bett setzte.
Das Treffen mit Direktor Weaver und Sir James war effizient verlaufen; sie hatten alle wichtigen Punkte abgehakt. Das gehörte zum Job. Damit hätte sie kein Problem haben dürfen. Deshalb hatte man sie schließlich aus England geholt. Trotzdem hatte sie ein Problem damit. Und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.
Sie trocknete sich das Haar, nahm sich Zeit mit der Auswahl ihrer Kleidung, schlüpfte in die Schuhe, legte Schmuck an, schnappte sich Tasche und Pistole und verließ das Hotel durch den Vordereingang, nachdem sie ihren Wagen angefordert hatte. Sie fuhr in den DC und kämpfte mit dem Verkehrsgewühl der Rushhour.
Stone wartete bereits auf sie. Sie lächelte ihn an. Er hatte die Kleidung gewechselt und trug nun Hosen und ein weißes, langärmeliges Hemd, das zur Farbe seines kurz geschnittenen Haares passte. Es bot einen hübschen Kontrast zu seinem gebräunten, kantigen Gesicht. Er hatte die Ärmel aufgerollt, sodass seine muskulösen Unterarme zu sehen waren. Seine eins neunzig Körpergröße ließen seine schlanke Gestalt noch größer erscheinen. Und als er vor John Kravitz’ Wohnwagen ihren Arm gepackt hatte, hatte sie seine gewaltige Kraft gespürt. Selbst in seinem Alter war dieser Mann noch immer aus Eisen. Daran würde sich vermutlich bis zum Tag seines Todes nichts ändern. Der möglicherweise früher als allgemein erwartet eintraf.
Bei diesem Gedanken erlosch ihr Lächeln.
»Ich habe mich nie für meine Lebensrettung in Ihrem Haus bedankt«, sagte sie. »Die Blendgranate hat mich voll erwischt, Sie aber nicht.«
»Ohne Sie wären wir jetzt beide tot. Ich habe noch nie jemanden sich so schnell bewegen sehen.«
»Aus Ihrem Mund ist das ein großes Lob.«
Einen Augenblick legte er die Hand in ihr Kreuz, als man sie zu einem Tisch führte, der einen Blick auf die Fourteenth Street gewährte. Stone war mehr als zwanzig Jahre älter als sie; trotzdem hatte er etwas an sich, das ihr noch bei keinem Mann zuvor aufgefallen war. Es grenzte an ein Wunder, dass er in seinem Job so lange überlebt hatte. Außerdem verfügte er über den durchdringendsten Blick, der ihr je untergekommen war.
Seine leichte Berührung gab ihr das Gefühl, beschützt und behütet zu sein, doch als er die Hand wegnahm, kehrte augenblicklich ihre Niedergeschlagenheit zurück. Sie bestellte einen Mojito, Stone ein Bier. Dann überflogen sie die Speisekarte.
»Einen produktiven Nachmittag gehabt?«, fragte er und betrachtete sie über den Rand der Karte hinweg.
Sie musterte ihn, während ihre Wangen sich plötzlich heiß anfühlten. »Ehrlich gesagt, es war ziemlich langweilig. Berichte und Einsatzbesprechungen sind nicht gerade meine Stärke. Was ist mit Ihnen?«
Stones Handy summte. Nach einem Blick auf die Nummer nahm er den Anruf entgegen.
Agent Ashburn, formte er lautlos mit den Lippen und hörte zu. Seine Lider zuckten. Er warf Chapman einen Blick zu. »In Ordnung, danke für die Information.«
»Was gibt’s?«, fragte Chapman, nachdem er das Handy weggesteckt hatte.
»Man hat gerade die Latinos von der Baumschule in Pennsylvania gefunden.«
»Was soll das heißen, man hat sie gefunden?«
»Tot. Es sah aus wie eine Exekution. Man hat die Leichen in den Straßengraben geworfen.«
Chapman wurde blass und lehnte sich zurück. »Aber wozu sie töten?«
»Der eine hatte gesehen, wie jemand den Basketballkorb abgenommen hat. Den Cops hatte er es verschwiegen, Annabelle hat er’s gesagt. Und jetzt sind sie alle tot.«
»Man beseitigt die losen Enden.«
»Sieht so aus. Vermutlich haben sie in der Baumschule nicht alle zusammen mit Gross und dem Vorarbeiter ermordet, weil sie wussten, dass wir kommen.«
»Woher?«
»Wahrscheinlich hat der Scharfschütze, der Kravitz getötet hat, sie angerufen und gemeldet, dass wir in aller Eile aufgebrochen sind. Welches Ziel hätten wir sonst haben können?«
»Stimmt.« Sie sah zerknirscht aus, weil ihr etwas so Offensichtliches entgangen war. »Trotzdem, der Latino hat doch nur beobachtet, wie jemand einen Basketballkorb abnahm. Na und? Er hätte den Mann bei keiner Gegenüberstellung erkannt.«
»Vielleicht doch.«
»Wie meinen Sie das? Davon hat er Annabelle nichts gesagt.«
»Er wusste nicht, wer Annabelle ist. Und wir wissen, dass jemand in der Bar zugehört haben muss.«
Sie trank einen Schluck. »Richtig, danach ist man ihnen gefolgt.«
»Vielleicht hat er etwas für sich behalten. Erpressung?«
»Statt Geld gab es nur ein paar Kugeln. Wen könnte er Ihrer Meinung nach gesehen haben?«
»Vielleicht Lloyd Wilder.«
Chapman blieb der Mund offen stehen. »Wilder?«
»Es wäre möglich. Ihn und die anderen zu töten, zwei auf einen Streich.«
»Also war er ebenfalls an dem Bombenanschlag beteiligt?«
»Ich bin mir nicht sicher, welche Rolle er dabei gespielt hat. Aber dass sie ihn genau in dem Augenblick ausgeschaltet haben, als wir aufgetaucht sind, verrät mir, dass er von Anfang an überflüssig war.«
»Also müssen wir Wilders Hintergrund überprüfen?« Frustriert schüttelte sie den Kopf. »Diese Angelegenheit nimmt immer größere Ausmaße an.«
»Sollen sich Ashburn und das FBI in Wilders Hintergrund verbeißen. Vermutlich finden sie auf irgendeinem Auslandskonto deponiertes Geld.«
»Und ich war immer der Meinung, Verschwörungen gibt es nur im Kino.«
»Sie werden noch entdecken, dass der gesamte DC eine einzige große Verschwörung darstellt.«
»Eine tröstliche Vorstellung.«
»Übrigens habe ich mit Harry über Turkekul gesprochen.«
Stone verstummte, als der Kellner kam und ihre Bestellungen aufnahm. Nachdem der Mann gegangen war, fuhr er fort: »Da gibt es nichts Außergewöhnliches.«
»Das dürfte ein gutes Zeichen sein.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Der Mann hat die Aufgabe, einen der wichtigsten Terroristen der Welt auszuschalten, und er lehrt an der Georgetown University?«
»Das ist seine Tarnung.«
Stone sah nicht überzeugt aus.
»Aber Sir James weiß darüber Bescheid. Sie vertrauen ihm doch, oder?«, sagte sie, obwohl sich dabei ihr Magen verkrampfte und sie eine Gänsehaut bekam.
»Ich vertraue Ihnen.«
»Warum?«
»Ich tue es einfach. Belassen wir es dabei.«