KAPITEL 3

Am nächsten Abend stand Stone da, wo er seit Jahrzehnten immer wieder gestanden hatte, im sieben Morgen großen Lafayette Park gegenüber vom Weißen Haus. Ursprünglich hatte man ihn den Präsidentenpark genannt, doch nun umfasste diese Bezeichnung das Gelände des Weißen Hauses, den Lafayette Park selbst und die Ellipse, ein Grundstück von zweiundfünfzig Morgen auf der Südseite des Weißen Hauses. Der Lafayette Park hatte einst zum eigentlichen Gelände des Weißen Hauses gehört, war aber von diesem majestätischen Besitz abgetrennt worden, als Präsident Thomas Jefferson die Pennsylvania Avenue hatte anlegen lassen.

Der Park hatte im Laufe zweier Jahrhunderte vielerlei Verwendungszwecke gefunden. Er war als Friedhof genutzt worden, als Sklavenmarkt, sogar als Rennstrecke. Außerdem war er bekannt dafür, dass es hier mehr Eichhörnchen pro Quadratmeter gab als an jedem anderen Ort auf Erden. Bis zum heutigen Tag wusste niemand, warum das so war.

Das Gelände hatte sich dramatisch verändert, seit Stone zum ersten Mal sein Schild mit der Aufschrift Ich will die Wahrheit in den Boden gerammt hatte. Doch die Dauerprotestler von damals, ihre zerlumpten Zelte und ihre Fahnen und Spruchbänder waren verschwunden. Die prachtvolle Pennsylvania Avenue vor dem Weißen Haus war seit dem Bombenattentat von Oklahoma City für den Fahrzeugverkehr gesperrt.

Die Menschen, Institutionen und Staaten hatten Angst. Stone konnte es ihnen nicht verdenken. Würde Franklin Roosevelt noch leben und wieder im Weißen Haus regieren, würde er vielleicht seinen berühmten Ausspruch zitieren: »Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.« Aber selbst diese Worte wären vielleicht nicht genug gewesen. Der Schwarze Mann schien den Krieg der Wahrnehmung im Herzen und Verstand der Bürgerschaft zu gewinnen.

Stone warf einen Blick zur Mitte des Parks, zur Reiterstatue von Andrew Jackson, dem Helden der Schlacht von New Orleans und siebenten Präsidenten der USA. Jackson saß auf einem Giebel aus majestätischem Marmor aus Tennessee. Es war das erste Bronzestandbild eines Mannes auf einem Pferd, das je in den Vereinigten Staaten gegossen worden war. Das Monument wurde von einem niedrigen gusseisernen Zaun umschlossen, hinter dem sich mehrere antike Kanonen befanden. Vier weitere Statuen, die ausländische Helden des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges darstellten, standen auf den Ecken der Rasenfläche.

Hinter dem Jackson-Denkmal waren farbenfrohe Blumenbeete angelegt und ein großer Ahorn gepflanzt worden. Gelbes Band war an biegsamen Pfosten befestigt, die in drei Metern Entfernung von dem Baum in den Boden eingelassen waren, damit niemand in das tiefe Loch fallen konnte, das einen Meter größer als der riesige Wurzelballen war. Neben dem Loch hatte man blaue Folien ausgebreitet, auf denen sich das ausgehobene Erdreich häufte.

Stones Blick fiel auf erhöhte Stellen auf dem Gelände, von denen er wusste, dass dort Scharfschützen postiert waren, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Er ging davon aus, dass einige von ihnen Zielübungen mit seinem Kopf veranstalteten.

Jetzt bitte nicht mit dem Zeigefinger abrutschen, meine Herren. Ich mag mein Gehirn genau da, wo es ist.

Das Staatsbankett im Weißen Haus ging langsam zu Ende, und die ersten wohlgesättigten Promis verließen das »Peoples House«. Einer dieser Gäste war der britische Premierminister. Die Fahrzeugkolonne wartete bereits auf ihn und würde ihn das kurze Stück zum Blair House fahren, der Residenz für Würdenträger, die zu Besuch weilten. Sie befand sich auf der linken Seite des Parks. Es wäre nur ein kurzer Spaziergang gewesen, doch Stone vermutete, dass Regierungschefs nirgendwo mehr sicher zu Fuß gehen konnten. Auch für sie hatte die Welt sich schon lange verändert.

Stone drehte den Kopf und sah eine Frau, die auf einer Bank neben dem ovalen Brunnen auf der rechten Seite des Parks saß, auf halber Strecke zwischen Jackson und der Statue des polnischen Generals Tadeusz Kościuszko, der vor mehr als zweihundert Jahren den englischen Kolonien geholfen hatte, sich von der britischen Herrschaft zu befreien. Die Ironie, dass der Regierungschef ebendieser Monarchie nun in einem Gebäude weilte, von dem aus man das Monument sehen konnte, entging Stone keineswegs.

Die Frau trug eine schwarze Hose und einen dünnen weißen Mantel. Neben ihr stand eine große Tasche auf der Bank. Sie schien zu dösen.

Seltsam, dachte Stone. Niemand döste zu dieser Nachtzeit im Lafayette-Park vor sich hin.

Sie war nicht die einzige Person im Park. Als Stone zu den Bäumen am nordwestlichen Ende des Park schaute, erspähte er einen Mann in einem Anzug. Er trug eine Aktentasche und hatte Stone den Rücken zugewandt. Der Mann blieb stehen, um die Statue des deutschen Heeresoffiziers Friedrich Wilhelm von Steuben zu betrachten, der ebenfalls den Kolonisten geholfen hatte, den verrückten König George in das monarchische Hinterteil zu treten.

Und dann bemerkte Stone einen kleinen Mann mit einem gewaltigen Bauch, der den Park vom oberen Ende betrat, wo sich die St. John’s Church befand. Er trug Joggingkleidung, obwohl er aussah, als könne er nicht mal schnell gehen, ohne mit einem Herzkasper zusammenzubrechen. An einem Gürtel um seinen Wanst war etwas befestigt, das wie ein iPod aussah, und er trug Ohrstöpsel.

Und da war ein vierter Besucher im Park. Er sah aus wie das Mitglied einer Straßengang: tief hängende Jeans, dunkle Pudelmütze, Muscleshirt, Tarnanzugjacke, Springerstiefel. Der Bursche schlenderte gemächlich durch den Park, was ebenfalls seltsam war, da Gangmitglieder wegen der starken Polizeipräsenz fast nie in den Lafayette Park kamen. Und diese Präsenz war heute aus naheliegenden Gründen noch stärker und wachsamer als sonst. Staatsbankette machten alle nervös. Wenn ein Staatschef erschossen wurde, entging niemand seiner Verantwortung. Köpfe und Pensionen rollten.

Aber Stone war nicht hergekommen, um über solche Dinge nachzudenken. Er war hier, um ein letztes Mal den Lafayette Park zu besuchen. In zwei Tagen würde er zu seiner einmonatigen Trainingseinheit abreisen. Dann ging es nach Mexiko. Er hatte bereits einen Entschluss gefasst. Er würde seinen Freunden, den Mitgliedern des Camel Club, nichts davon erzählen. Wenn er es doch tat, würden sie vielleicht die Wahrheit spüren, und daraus konnte nichts Gutes erwachsen. Er hatte es verdient, geopfert zu werden, sie nicht.

Wieder atmete er tief ein und sah sich um. Er lächelte, als er den Gingkobaum in der Nähe der Jackson-Statue sah. Er stand gegenüber von dem Ahorn, der gerade gepflanzt worden war. Als Stone zum ersten Mal in diesen Park gekommen war, war Herbst gewesen, und die Gingkoblätter hatten in einem prachtvollen Hellgelb geleuchtet. Es war großartig gewesen. In der ganzen Stadt gab es Gingkobäume, aber der hier war der einzige im Park. Gingkos konnten über tausend Jahre alt werden. Stone fragte sich, wie dieser Ort in einem Jahrtausend aussehen würde. Würde der Gingko noch hier stehen? Und das große weiße Gebäude auf der anderen Straßenseite?

Er wollte diesen Ort gerade zum letzten Mal verlassen, als seine Aufmerksamkeit sich auf die Fahrzeugkolonne richtete.

Der Auftrag
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