KAPITEL 29
Sie ließen eine Nachricht für Gross zurück und nahmen auf dem Weg zu Stones Häuschen etwas vom Chinesen mit. Das Wetter war schön, und Stone trug seinen kleinen runden Küchentisch und zwei Stühle auf die Veranda, holte zwei Teller und Besteck und stellte zwei Flaschen Bier aus dem kleinen Kühlschrank in seiner Küche auf den Tisch.
Sie setzten sich. Chapman hielt ihr Bier hoch und stieß mit Stone an. »Cheers. Sie wissen, wie man eine Lady behandelt.«
»Sie haben das Essen gekauft. Und ich habe keine Ahnung, wie alt das Bier ist.«
Sie nippte an der Wonton-Suppe, die so scharf war, dass ihr die Augen tränten, und trank noch einen Schluck Bier.
»Zu scharf für Sie?« Stone betrachtete sie mit einer gewissen Erheiterung.
»Eigentlich stehe ich auf Schmerz. Das ist wohl einer der Gründe, warum ich diesen Job gewählt habe.«
»Ich habe in früheren Jahren mit dem MI6 zusammengearbeitet. Damals gab es wohl noch keine Agentinnen.«
»Es gibt auch heute noch nicht viele. Das ist schlicht und einfach eine Testosteron-Welt.«
»Eine klare Karriereplanung, oder sind Sie zufällig hineingestolpert?«
»Ein bisschen von beidem, nehme ich an.« Sie aß etwas Hühnchen und Reis. »Mein Dad war Polizist, meine Mutter Krankenschwester.«
»Das erklärt nicht, wieso Sie zum MI6 gegangen sind.«
»Sir James McElroy ist mein Patenonkel.«
»Okay«, sagte Stone langsam und ließ die Gabel sinken.
»Er und mein Großvater waren zusammen beim Heer, bevor Sir James zum Geheimdienst ging. Er hat wohl Gefallen an mir gefunden. Als mein Vater ums Leben kam, wurde er für mich so etwas wie eine Vaterfigur.«
»Wie ist Ihr Vater gestorben? In Ausübung seiner Pflicht?«
Chapman zuckte mit den Achseln. »Das hat man zumindest behauptet. Ich habe nie die genauen Einzelheiten erfahren.«
»Und so sind Sie dann zu den Geheimdiensten gestoßen?«
»Sir James hat mich die ganze Zeit herangezogen. Die richtigen Schulen, die richtige Ausbildung, die richtigen Kontakte.«
»Obwohl Sie das eigentlich gar nicht wollten?«
Sie trank einen Schluck Bier und behielt ihn kurz im Mund, bevor sie schluckte. »Das frage ich mich manchmal selbst.«
»Und wie lautet die Antwort?«
»Das wechselt. Vielleicht bin ich ja wirklich genau dort, wo ich sein muss. Vielleicht kann ich tatsächlich einmal herausfinden, was mit meinem armen Dad passiert ist.« Sie schob ihren Teller zur Tischmitte und lehnte sich zurück, legte die Füße auf das Verandageländer. »Was ist mit Ihnen? Sie und Sir James haben ja offensichtlich ein paar gemeinsame Erlebnisse. Und er weiß Dinge über Sie, die ich vermutlich nie erfahren werde.«
»Sie würden Ihnen nichts bedeuten.«
»Wie fühlte es sich an? Was Sie getan haben, meine ich.«
Stone stand auf und betrachtete die Grabsteine in dem schwächer werdenden Licht. Das Wetter in Washington, im Sommer elend heiß und feucht, im Winter rau und unangenehm, konnte manchmal wunderschön werden. Temperatur und Luftfeuchtigkeit waren perfekt, und man wünschte sich, der Tag würde niemals enden.
Chapman trat neben ihn. »Ich will Sie nicht bedrängen«, sagte sie leise. »Das geht mich wirklich nichts an.«
»Irgendwann hatte ich einen Punkt erreicht, an dem ich gar nichts mehr gefühlt habe«, sagte Stone.
»Und wie sind Sie da rausgekommen?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals rausgekommen bin.«
»War es Ihre Frau?«
Stone drehte sich zu ihr um. »Ich hatte Ihren Chef für diskreter gehalten.«
»Er hat nichts gesagt«, antwortete sie schnell. »Ich habe nur eine Vermutung geäußert, die auf meinen Beobachtungen basiert.«
»Was für Beobachtungen?«, fragte Stone.
»Von Ihnen«, antwortete sie schlicht. »Von Dingen, die für Sie von Bedeutung sind. Freunde zum Beispiel.«
Stone wandte sich ab. »Eine gute Vermutung.«
»Warum sind Sie wieder zur Truppe zurückgekehrt?«
»Man könnte wohl sagen, dass ich keine Wahl hatte.«
»Ich glaube, ein Mann wie Sie hat immer eine Wahl.«
Stone schwieg lange, schaute zu den Gräbern hinüber. Ein schwacher Wind kam auf. Chapman verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich habe viel zu bedauern«, sagte Stone schließlich.
»Es geht darum, Wiedergutmachung zu leisten?«
»Ich glaube nicht, dass ich jemals Wiedergutmachung leisten kann, Agent Chapman.«
»Bitte nennen Sie mich Mary. Wir sind jetzt nicht im Dienst.«
Er blickte sie an. »Okay, Mary. Haben Sie jemals einen Menschen getötet? Vorsätzlich?«
»Einmal.«
Stone nickte. »Und wie haben Sie sich gefühlt?«
»Zuerst war ich froh, dass ich nicht diejenige war, die gestorben ist. Dann wurde mir übel. Man hat mich zwar ausgebildet, jemanden zu töten, aber …«
»Keine Ausbildung kann einen darauf vorbereiten.«
»Wahrscheinlich nicht.« Sie umklammerte das Verandageländer. »Was schätzen Sie, wie viele Menschen haben Sie getötet?«
»Warum spielt das eine Rolle für Sie?«
»Spielt es eigentlich nicht. Und es ist keine morbide Neugier. Ich weiß nicht genau, warum es mich interessiert.«
Bevor Stone antworten konnte, summte sein Handy. Es war Tom Gross.
»Wir sind wieder im Dienst, Agent Chapman«, sagte Stone.