KAPITEL 91
Sie hatten das Büro der Frau durchsucht, aber nichts gefunden. Das war nicht überraschend, da man sie offiziell gefeuert hatte, sodass sie aus dem Gebäude ausgezogen war. Als sie ihr Haus in Falls Church durchsuchten, fanden sie dort auch nichts – und da war sie garantiert nicht ausgezogen. Aber es war offensichtlich, dass sie es in aller Eile verlassen hatte; zweifellos war ihr Zeitplan vom Secret Service, der nach Stones Informationen schnell gehandelt hatte, durcheinandergebracht worden.
Stone und Chapman gingen noch einmal die drei Etagen des Stadthauses ab, das in den frühen 1980-ern erbaut worden war. Marisa Friedman wohnte hier seit 2000.
»Ashburn hat mir eine Inventarliste gegeben mit den Sachen, die sie mitgenommen haben. Es war nicht viel«, sagte Stone zu Chapman, als die britische Agentin sich auf einen Stuhl setzte und den Blick durchs Zimmer schweifen ließ. »Aber es gibt kein persönliches Foto, keine Erinnerungsalben, keine Jahrbücher, nichts, das darauf hindeutet, dass sie Familie hat. Sie hat sich von allem befreit.«
»Sie ist Spionin, da gehört so was zum Job.«
»Selbst Spione haben ein Leben«, beharrte Stone. »Ein großer Teil ihrer Geschichte mag ja erfunden sein, aber für gewöhnlich besitzen sie ein paar persönliche Dinge.«
»Was wissen wir über ihren Hintergrund?«
»Geboren wurde sie in San Francisco. Einzelkind. Beide Eltern sind ums Leben gekommen.«
»Wie?«
»Bei einem Hausbrand.«
»Glauben Sie etwa …«
»Sie war erst vier. Nein, ich glaube nicht, dass man sie umgebracht hat. Ihre Eltern waren wohlhabend, aber die Grundsteuern haben ein großes Loch ins Vermögen gerissen, und die Verwandten, die sie aufnahmen, waren offenbar nicht besonders großzügig. Aber ihre Intelligenz konnten sie nicht ignorieren. Sie ging nach Stanford, an die Harvard Law School. Dann wurde sie von der CIA rekrutiert. Lange Zeit war sie eine der besten Außenagentinnen. Die Tarnung als Lobbyistin war brillant. So konnte sie auf der ganzen Welt umherreisen und Informationen sammeln, niemand hat sich etwas dabei gedacht.«
»Anscheinend ist niemand auf die Idee gekommen, sie könnte die Seiten wechseln. Weaver schien sich in die Hose machen zu wollen.«
Stone betrachtete die bescheidene Einrichtung des Hauses. »Nicht gerade ein Herrenhaus.«
»Also geht es hier nur um Geld, nicht wahr?«, sagte Chapman verächtlich. »In der Minute, in der ich dem Miststück das erste Mal begegnet bin, wusste ich, dass ich sie nicht ausstehen kann.«
»Hier geht es um sehr viel Geld«, sagte Stone. »Eine Milliarde kann fast jeden dazu bringen, so gut wie alles zu tun und sich später darum zu sorgen, wie man es verarbeitet.«
»Ich kann nicht glauben, dass Sie diese Frau verteidigen.«
»Ich stelle mir nur eine Frage. Wenn ich sie finde … kann ich mich beherrschen und sie nicht töten?«
»Ist das Ihr Ernst?«
Stone schaute sich noch einmal um. »Hier ist nichts, das uns helfen könnte«, sagte er ausweichend.
»Wo steckt sie wirklich? Was glauben Sie?«
»Jedes Flughafenüberwachungsvideo ist gesichtet worden. Jeder TSA-Agent wurde befragt. Jedes Dokument, das man in diesem Land braucht, um fliegen zu können, wird untersucht. Damit bleiben Auto, Bus oder Zug. Auf sie ist kein Wagen zugelassen. Ein Mietwagen ist aus einer Vielzahl von Gründen problematisch. Für einen Bus gilt das Gleiche. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass eine Beinahe-Milliardärin im Greyhound reist.«
»Privatjet?«
»Wurde überprüft. Nichts. Natürlich gibt es auf diesem Gebiet Lücken, und wir können nicht absolut sicher sein, dass sie nicht in ein Privatflugzeug gestiegen ist, aber wir haben getan, was wir konnten.«
»Also ein Zug irgendwo nach Norden, in eine große Stadt. Glauben Sie wirklich, das ist es? Aber wenn sie eine Doppelgängerin im Zug nach Miami geschickt hat, ist es doch wahrscheinlich, dass sie jedem Bahnhof so weit wie möglich fernbleiben will.«
»Friedman denkt acht Züge voraus. Sie wird die Analyse durchgeführt haben, die Sie gerade erstellt haben, unsere Schlüsse voraussehen und genau das Gegenteil tun.«
»Nach rechts statt nach links«, meinte Chapman.
»Ja. Deshalb wird es nicht einfach, sie zu finden. Und sie zu überwältigen wird noch schwieriger.«
Sein Handy summte. Joe Knox rief an.
Stone lauschte ein paar Minuten. »Danke, Joe. Wenn du jetzt noch Kreditkarten und Mobiltelefone überwachen lassen könntest … was? Ich wusste, dass du bereits daran gedacht hast. Das alles bleibt unter uns, okay? Richtig, danke.« Er steckte das Handy ein und schüttelte den Kopf. »Sie ist noch besser, als ich dachte.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich dachte, sie hätte sich Bodyguards aus Osteuropa oder Asien besorgt.«
»Und?«
»Sie hat je ein Team aus beiden Regionen angeheuert. Jeweils sechs Mann.«
»Warum zwei Teams?«
»Zwei Mauern zwischen ihr und uns. Und wenn sich ein Team aus irgendeinem Grund gegen sie wendet oder von Carlos Montoya bestochen wird …«
»Hat sie ein weiteres Team in Reserve.«
»Und wenn ich die Frau richtig einschätze, wird sie jedes Team unabhängig voneinander arbeiten lassen. Möglicherweise wissen sie nicht einmal von der Existenz des anderen.«
»Außen-und Innenmauer.« Chapman nickte. »Eine klassische Verteidigungsposition.«
»Wir durchbrechen die eine Mauer mit Verlusten und stehen plötzlich vor der nächsten. Und da kommen wir dann nicht mehr durch.«
»Wo sind diese Kerle jetzt?«
»Die große Stadt im Norden.«
»New York?«
»Da muss ich hin.«
»Da müssen wir hin«, korrigierte ihn Chapman.
»Hören Sie, ich …«
»Sie haben nicht die geringste Chance, mich zurückzulassen.«
»Das ist nicht Ihr Kampf.«
»Das Miststück wollte auch mich töten. Also sind Sie nicht der Einzige, der sich fragt, ob er sich zurückhalten kann, nicht abzudrücken.«