KAPITEL 1

Oliver Stone zählte die Sekunden, eine Übung, die ihn immer beruhigt hatte. Und er musste ruhig sein. Er traf sich heute Abend mit einer sehr wichtigen Person. Und er wusste nicht genau, wie es laufen würde. Er wusste nur eins: Er würde nicht davonrennen. Nie mehr.

Stone war eben erst aus Divine, Virginia, zurückgekehrt, wo Abby Riker wohnte, die erste Frau, für die er etwas empfunden hatte, seit er vor dreißig Jahren seine Ehefrau verloren hatte. Trotz der Zuneigung, die sie einander entgegenbrachten, hatte Abby die Stadt nicht verlassen wollen, Stone aber konnte nicht dort leben. Was immer auch geschehen war, ein Teil von ihm gehörte nun zu dieser Stadt, trotz allen Schmerzes, den sie ihm bereitet hatte.

Doch der Schmerz würde vielleicht noch stärker werden. Die Nachricht, die er eine Stunde nach seiner Rückkehr erhalten hatte, war unmissverständlich gewesen: Sie kamen ihn um Mitternacht holen. Gespräche waren nicht erwünscht, Verhandlungen nicht zugelassen, Kompromisse nicht möglich. Die Gruppe auf der anderen Seite der Gleichung diktierte die Bedingungen, so wie immer.

Stone hörte zu zählen auf, als er das Geräusch von Autoreifen hörte, die sich durch den Kies wühlten, der die Auffahrt zum Mt. Zion Cemetery bedeckte. Dieser Friedhof war ein historischer, wenn auch bescheidener Ort der letzten Ruhe für schwarze Amerikaner, die Berühmtheit erlangt hatten, indem sie für Rechte kämpften, die ihre weißen Gegenstücke für sich selbst stets als selbstverständlich betrachtet hatten. Zum Beispiel, wo man aß oder schlief, oder dass man mit dem Bus fahren und öffentliche Toiletten benutzen durfte.

Die Ironie, dass der Berg Zion das schmucke Georgetown überragte, war Stone nie entgangen. Es war noch gar nicht so lange her, dass die wohlhabenden Weißen ihre dunkleren Brüder und Schwestern hier nur geduldet hatten, wenn sie eine gestärkte Dienstmädchentracht trugen oder Getränke und Imbisse reichten und den Blick demütig auf den von ihnen selbst gebohnerten Fußboden richteten.

Draußen wurden Wagentüren geöffnet und zugeschlagen. Stone zählte drei Mal das dumpfe Geräusch. Drei Türen. Ein Trio. Männer. Sie würden keine Frau schicken, da war Stone ziemlich sicher, obwohl er dabei vielleicht einem Vorurteil seiner Generation anhing, wie ihm bewusst war.

Die Waffen waren Glocks oder Sigs, vielleicht auch Spezialanfertigungen, je nachdem, wen sie schickten. Wie dem auch sei, es würden tödliche Waffen sein, unter eleganten Anzugjacken verborgen. Im idyllischen Georgetown mit den guten Verkehrsanbindungen würden sich keine schwarz gekleideten Sturmtruppen aus lärmenden Hubschraubern abseilen. Die Extraktion würde leise vonstattengehen, um nicht den Schlaf wichtiger Leute zu stören.

Sie klopften.

Höflich.

Stone öffnete.

Um Respekt zu zeigen.

Diese Leute hegten keinen persönlichen Groll gegen ihn. Sie wussten vielleicht nicht einmal, wer er war. Es war ein Job. Stone selbst hätte diesen Job auch erledigt, obwohl er nicht angeklopft hätte. Sein Markenzeichen war stets die Überrumplung gewesen: rein, abdrücken, raus.

Ein Job.

Jedenfalls habe ich das immer so betrachtet, weil ich nicht den Mut hatte, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken.

Als Soldat hatte Stone nie Bedenken gehabt, das Leben eines Menschen zu beenden, der versuchte, das seine auszulöschen. Krieg war Darwinismus in höchster Ausprägung; die Regeln wurden vom gesunden Menschenverstand bestimmt. Und die wichtigste Regel lautete: Töte, oder du wirst getötet.

Doch Stones Leben nach seiner militärischen Laufbahn hatte ihn so sehr verändert, dass er Machthabern, gleich welcher Art, mit beständigem Misstrauen begegnete.

Nun stand er auf der Schwelle, das Licht in der Hütte in seinem Rücken. Er selbst hätte diesen Augenblick gewählt, um abzudrücken, hätte er den Finger am Abzug gehabt. Schnell, sauber, keine Gefahr, das Ziel zu verfehlen.

Okay. Er hatte ihnen diese Chance gegeben. Sie hatten sie nicht genutzt. Also würden sie ihn nicht töten.

Es waren vier Männer, wie Stone erst jetzt bemerkte. Er war ein bisschen besorgt, dass seine Beobachtungen fehlerhaft gewesen waren. Das wäre ihm früher nicht passiert.

Der Anführer war ein schlanker Bursche, eins fünfundsiebzig groß, mit kurzem Haar und wachen, aufmerksamen Augen, die alles registrierten, aber nichts verrieten. Er deutete zu dem Fahrzeug, das am Tor stand, ein schwarzer Escalade. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte man ein Riesenaufgebot an erstklassigen Killern zu Stone geschickt, die gleichzeitig über Land, See und durch die Luft gekommen wären. Diese Tage waren offensichtlich vorbei. Vier Typen in Anzügen und auf Steroiden in einem Cadillac genügten.

Es wurden keine überflüssigen Worte gewechselt. Stone wurde fachmännisch durchsucht und in den Wagen gedrängt. Dann saß er auf der Rückbank zwischen zweien der vier Männer. Er konnte ihre muskulösen Arme spüren, die sich gegen seinen Oberkörper drückten. Die Männer waren angespannt, bereit, jeden seiner Versuche abzuwehren, an ihre Waffen zu kommen.

Doch Stone dachte nicht daran, einen solchen Versuch zu unternehmen. Nicht, wo er vier zu eins in der Unterzahl war. Das würde ihm nur ein geschwärztes Tattoo auf der Stirn einbringen, ein drittes Auge als Belohnung für seine tödliche Fehleinschätzung. Vor dreißig Jahren hätte er diese Männer wahrscheinlich geschafft – bessere als die hier, wesentlich bessere. Aber diese Zeiten waren lange vorbei.

»Wohin?«, fragte er. Er erwartete keine Antwort und erhielt auch keine.

Minuten später stand er allein vor einem Gebäude, das fast jeder Amerikaner auf den ersten Blick erkennen würde. Er stand nicht lange dort. Weitere Männer tauchten auf, höherrangige als die, die ihn gerade abgesetzt hatten. Er befand sich nun im inneren Kreis. Das Personal wurde umso qualifizierter, je näher man dem Zentrum kam.

Sie führten ihn über einen Gang mit zahlreichen Türen, die allesamt geschlossen waren, was aber nicht an der späten Stunde lag. Dieser Ort schlief nie.

Eine weitere Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Stone war allein, blieb es aber nicht lange, denn in einem anderen Teil des Raumes wurde eine andere Tür geöffnet, und ein Mann trat ein. Er blickte Stone nicht an, bedeutete ihm jedoch, Platz zu nehmen.

Stone setzte sich.

Der Mann trat hinter seinen Schreibtisch und setzte sich ebenfalls.

Stone war inoffizieller Besucher. Normalerweise wurde in einem Protokoll jede Person verzeichnet, die diesen Raum betrat, aber nicht heute Abend. Nicht er.

Der Mann war leger gekleidet: Khakihose, ein Hemd ohne Krawatte, Slipper. Er setzte eine Brille auf, raschelte mit Papieren auf seinem Schreibtisch. Eine einsame Lampe leuchtete neben ihm.

Stone betrachtete den Mann. Er sah konzentriert und entschlossen aus. Das musste er auch sein, wenn er an diesem Ort überleben wollte. Wenn er mit dem unmöglichsten Job auf diesem Planeten klarkommen wollte.

Er legte die Papiere wieder hin, schob die Brille hoch und runzelte die faltige Stirn.

»Wir haben ein Problem«, sagte James Brennan, Präsident der Vereinigten Staaten. »Und wir brauchen Ihre Hilfe.«

Der Auftrag
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