KAPITEL 19
Später an diesem Abend fuhren Stone und Chapman zurück zu Stones Häuschen. Als er die Tür öffnete, schaute er nach rechts und sah sie.
Annabelle saß in einem Stuhl am Kamin. Als sie aufstand, um Stone zu begrüßen, schob er Chapman schnell hinein. Nachdem er Annabelle der MI6-Agentin vorgestellt hatte, wollte Stone weitere Erklärungen vom Stapel lassen, doch Annabelle hielt ihm das russische Buch hin. »Das hättest du wohl gern zurück. Hast du noch immer vor, auf deine … Reise zu gehen?«
Stone betrachtete das Buch und runzelte die Stirn. »Es gibt persönliche Grenzen, Annabelle. Und ich habe deine immer respektiert.«
»Du wirst es nicht schaffen, dass ich mich deshalb schuldig fühle, Oliver, also versuch es gar nicht erst. Ich kenne dich noch nicht so schrecklich lange, und ich glaube, wir haben dich in dieser kurzen Zeit mindestens fünfmal verloren, wenn ich mich nicht verzählt habe.«
Chapman blickte Stone überrascht an. »Ich dachte, Sie wären nicht mehr aktiv.«
»War er auch nicht«, erklärte Annabelle. »Überlegen Sie also mal, wie seine Sterblichkeitsrate nun aussehen wird.«
Stone legte das Buch auf den Schreibtisch. »Ich glaube, ich bin eindeutig alt genug, um diese Entscheidung selbst zu treffen. Und um deine Frage zu beantworten, meine Reise ist verschoben worden.«
»Was für eine Reise?«, fragte Chapman.
Stone ignorierte sie.
»Aber du arbeitest wieder für die Regierung?«, fragte Annabelle.
»Wie ich schon sagte, ich bin alt genug, um diese Entscheidung zu treffen.«
»Warum, Oliver? Nach allem, was sie dir angetan haben?«
»Ja, warum? Ich glaube, wir haben eine Antwort verdient«, sagte eine Stimme.
Alle drehten sich um und sahen Reuben Rhodes, Harry Finn und Caleb Shaw an der Tür des Häuschens. Reuben hatte die Frage gestellt.
»Ich komme mir vor wie in der verdammten Waterloo-Station«, murmelte Chapman, als die Männer das Häuschen betraten.
Stone schaute zu Boden. »Das lässt sich nicht so einfach erklären.«
»Sag mir wenigstens, dass du nicht wegen dieser verdammten Explosion im Park ermittelst«, meinte Annabelle.
»Doch. Genau das tut er.«
Das kam von Alex Ford, der soeben das Häuschen betrat.
»Du meine Güte«, sagte Chapman. »Sie sollten vielleicht die Türschlösser wechseln.«
Alex baute sich neben dem Kamin auf. »Soll ich es ihnen sagen, oder willst du das lieber selbst tun?«
»Was sagen?«, fragte Annabelle.
»Dass Oliver heute einen Auftrag und eine Dienstmarke bekommen hat. Er ist jetzt vereidigtes Mitglied der Bundesregierung, das mit Agent Chapman vom MI6 zusammenarbeitet. Sie sollen herausfinden, wer versucht hat, den britischen Premierminister in die Luft zu jagen.«
Stone warf seinem Freund einen eisigen Blick zu. »Vielen Dank, dass du die Vertraulichkeit bewahrt hast, Alex.«
»Verdammt noch mal, seit wann gibt es zwischen uns Vertraulichkeiten?«, sagte Reuben. »Wie oft habe ich dir die nötige Deckung gegeben, Oliver? Dir Leib und Leben gerettet? Und wie oft hast du das für mich getan?«
»Das gilt für uns alle«, fügte Annabelle hinzu.
»Es gibt einen Unterschied«, erwiderte Stone.
»Wieso? Weil du jetzt eine Dienstmarke hast?«, fragte Reuben.
»Du hast dich wieder mit denselben Leuten eingelassen, die dir so übel mitgespielt haben«, sagte Annabelle. »Begreifst du nicht, warum wir alle wie vor den Kopf geschlagen sind? Besonders nach dem, was in Divine passiert ist? Sie hätten dich in diesem Gefängnis verrotten lassen.«
»Und ich wäre dort krepiert, wärt ihr alle nicht gewesen« sagte Stone leise.
»Warum also?«, fragte Annabelle noch einmal.
»Wie ich schon sagte, es ist schwer zu erklären. Eigentlich ist es sogar unmöglich.«
»Wir alle warten darauf, dass du es wenigstens versuchst.«
Stones Miene schien einzufrieren. »Ihr geht davon aus, dass ich euch eine Erklärung schulde. Ich aber nicht.«
Annabelle sah aus, als hätte Stone ihr eine Ohrfeige gegeben. Selbst der treue Reuben schaute wie betäubt drein, und Caleb schnappte nach Luft.
»Tja, das ist wohl die einzige Erklärung, die ich brauche«, sagte Annabelle. Sie drehte sich um und ging hinaus.
Reuben schaute seinen alten Freund an. »Sie hat das nicht verdient, Oliver. Keiner von uns.«
»Es muss nun mal so laufen. Tut mir leid, Reuben.«
»Na schön. Ich werde auf jeden Fall zu deiner Beerdigung kommen.« Er ging ebenfalls.
Caleb wollte ihm folgen, blieb aber stehen und schaute zu Oliver zurück. »Ich bin zum ersten Mal erleichtert, dass Milton nicht mehr lebt. Dass er das nicht mehr hören muss.«
»Ich hoffe, du weißt, was du tust«, sagte Harry Finn und folgte Caleb hinaus.
Nun war außer Chapman nur noch Alex zugegen.
Stone schaute den Secret-Service-Agenten an. »Willst du mir ebenfalls sagen, dass ich falschliege?«
»Nein. Ich nehme an, du weißt, was du tust, auch wenn es mir nicht besonders gefällt. Aber es gibt ein Problem mit deinem Bomben-Szenario.«
»Woher willst du wissen, wie unsere Theorie aussieht?«, fragte Stone. »Ich dachte, du wärst nicht an der Ermittlung beteiligt.«
»Streng genommen bin ich das auch nicht. Aber man hört gewisse Dinge.«
»Und was stimmt nun nicht an unserer Theorie?«, fragte Chapman.
»Die Bombensuchhunde des Secret Service haben den Park vorher durchsucht.«
»Wann genau?«, fragte Stone.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, was den genauen Zeitpunkt betrifft. Aber du hast wahrscheinlich am nördlichen Ende des Parks eine Einheit mit Hunden bemerkt, oder?«
»Ja, auf dem Video«, sagte Stone.
»Sie bringen die Hunde nicht hierher, damit sie Auslauf bekommen.«
»Haben sie den gesamten Park durchsucht?«, fragte Stone.
»Ja. Mit einem Hund dauert das nicht sehr lange.«
»Also hätte der Hund eine Bombe entdeckt?«, fragte Chapman.
»Darauf läuft es hinaus«, antwortete Alex.
»Es läuft ebenfalls darauf hinaus, dass in dem Park eine verdammte Bombe explodiert ist!«, erwiderte Chapman wütend.
»Ich sage Ihnen nur, was ich weiß. Ich gehe dann wohl auch lieber mal.«
»Alex, ich wollte nicht, dass es so läuft«, sagte Stone.
»Ja, aber sie wollten es wohl, oder? Ich hoffe, du schaffst es, Oliver. Ich hoffe es wirklich.«
Einen Moment später war er fort. Sie hörten, wie draußen sein Wagen ansprang.
»Ein paar nette Kumpels haben Sie. Denen scheint wirklich viel an Ihnen zu liegen.«
»Und mir liegt viel an ihnen.«
»Wer sind sie wirklich?«
»Das ist nicht wichtig.«
»Wer war dieser Milton, den der kleine Bursche erwähnt hat?«
»Ein Freund.«
»Aber er ist tot. Wie ist er gestorben? Ein Unfall?«
»Nein, eine Kugel aus einem großkalibrigen Gewehr.«
Chapman wollte noch etwas sagen, doch Stones Handy summte. Es war Gross vom FBI. Stone hörte zu und unterbrach die Verbindung dann. »Die Frau aus dem Park gestern Abend ist aufgetaucht.«
»Sie meinen, sie haben sie gefasst?«, fragte Chapman.
»Nein, sie ist von sich aus zum FBI gegangen.«