KAPITEL 97
Die Anlage war von beträchtlicher Größe und verfügte über Unterkünfte, Küchen, ein Lazarett, eine Bibliothek, Büros, Unterrichtsräume und weitere Räumlichkeiten, die verschiedensten Zwecken dienen konnten. Aber die größten Ausbildungsareale der Mördergrube bestanden aus zwei riesigen Stahlzylindern, die man in Parallelsektionen aufgeteilt und durch einen Hauptkorridor voneinander getrennt hatte. Sobald man die erste Sektion betrat, blieb einem nur noch der Weg bis zur letzten Sektion des Zylinders, denn die schweren Eingangstüren fielen hinter einem ins Schloss und versperrten den Rückweg. Man konnte diese Türen auch nicht blockieren, weil sich dann sämtliche weitere Türen nicht mehr öffnen ließen. Auf diese Weise sollten zögernde Rekruten die Konzentration behalten und sich immer weiter nach vorn bewegen.
Stones Plan war einfach. Er würde die Sektion zu seiner Rechten nehmen und sie abgehen. Falls er sein Ziel dort nicht fand, würde er den Zylinder verlassen, den Hauptkorridor benutzen und den anderen Zylinder betreten.
Langsam bewegte Stone sich durch den Korridor zur ersten Tür. Ein Mann war ausgeschaltet, fünf weitere warteten noch darauf. Und dann war da noch Friedman, die vermutlich Fähigste und Gefährlichste des ganzen Haufens.
Stone verspürte nicht die geringsten Schuldgefühle, seine Freunde ausgetrickst zu haben. Falls jemand bei dem Versuch sterben würde, Caleb und Annabelle zu retten, würde er allein das sein. Das war sein Kampf, nicht der ihre. Er hatte genug Freunde verloren. Und er war fest entschlossen, in dieser Nacht nicht noch mehr zu verlieren.
Im Kopf ging er noch einmal die Ausbildungssektionen durch. Zuerst kam der Schießstand, wo er während des einjährigen Aufenthalts Hunderttausende Schüsse abgegeben hatte. Man hatte sie mit jedem vorstellbaren Ablenkungsmanöver traktiert, während man zielte. Es war ein gutes Training gewesen, denn draußen in der realen Welt gab es kein perfektes Schussfeld mit den dazugehörigen idyllischen Bedingungen.
Hinter dem Schießstand befand sich ein Raum, der wie die berühmte Hogan’s Alley in der FBI Academy ausgestattet war. Hier hatten Stone und seine Kameraden das geübt, was sie in der Theorie gelernt hatten. Ein Labor schloss sich an. Hier hatten die psychologischen Tests stattgefunden – in Wirklichkeit eine nette Umschreibung für Folter, um herauszufinden, wo die Belastungsgrenzen der Männer lagen, an denen sie zerbrachen. In diesem Raum hatte Stone stahlharte Kerle weinen gesehen, als die Techniker zermürbende Spielchen mit ihrem Verstand veranstalteten, der niemals so stark wie ihre körperliche Leistungsfähigkeit sein würde, egal wie sehr sie trainierten. Es gab bewährte Übungen, die jeden Muskel stärkten, doch der Verstand war nicht so leicht quantifizierbar. Und jeder Rekrut hatte verborgene mentale Eigenschaften, die unerwartet zum Vorschein kamen und ihn zögern, verzweifeln, scheitern oder vor Wut schreien ließen. Stone hatte jedes dieser Gefühle verspürt. Kein Ort auf der Welt hatte ihn je so gedemütigt wie das Labor in der Mördergrube.
Hinter dem Labor schlossen sich eine Reihe von Räumen an, die als Zellen dienten. Stone hatte nie erfahren, welche Personen man hier »festgehalten« hatte, und er hatte es auch nicht wissen wollen. Falls sich Caleb und Annabelle nicht dort befanden, würde er mit dem anderen Zylinder anfangen, der lediglich zwei Sektionen aufwies. Die erste bestand aus einem Tank mit stinkendem Schlamm. Wusste man nicht, wo man den Fuß auf den Laufsteg setzen musste, der die Oberseite des Tanks bildete, stürzte man unweigerlich in den Dreck. War man erst einmal im Tank, konnte man nur noch um sein Leben kämpfen.
Danach wartete ein Labyrinth, dessen Durchgang Stone glücklicherweise bekannt war. Zumindest war er stets überzeugt davon gewesen. Jetzt fragte er sich allerdings, ob Friedman nicht ein paar Überraschungen für ihn eingebaut hatte.
Natürlich hat sie das. Sie genießt diese Sache. Ich habe ihre Pläne ruiniert. Ihr entgeht eine halbe Milliarde Dollar. Das wird sie an mir auslassen … oder es zumindest versuchen.
Wieder regte sich etwas in Stones Hinterkopf und sagte ihm, dass mehr dahinterstecken musste. Flügelschläge verrieten ihm, dass Vögel den Weg in die Mördergrube gefunden hatten. Das war schon mal passiert – damals, als die Anlage noch in Betrieb gewesen war. Stone selbst hatte einen Vogel gezähmt, der ein Nest in der Nähe seiner Schlafstelle gebaut hatte. Es war seine einzige Verbindung zur Außenwelt gewesen.
Die Anlage war in den 1960-ern erbaut worden, und das Design spiegelte die Ära wider. In Metallkonsolen waren sogar Aschenbecher eingebaut. Überall fiel Stones Blick auf hoffnungslos veraltete Dinge. Doch als die Mördergrube neu gewesen war, galt sie als die fortschrittlichste Anlage der Welt. Die Regierungsmittel für ihre Erbauung hatte man unter anderem als Fördermittel für Schweinezüchter und für die Textilindustrie verbucht, wie man Stone einmal erzählt hatte.
Was ist schon dabei, wenn man von der Regierung sanktionierten Meuchelmord zwischen Schinken und Polyester versteckt?
Vorsichtig betrat Stone den Schießstand. Hier hatte er nach dreißig Jahren den ersten Mann getötet, um sich und Reuben Rhodes zu schützen. Sein Blick richtete sich auf die Stelle, an der der Mann gestorben war. Die Leuchtstoffröhren der Decke arbeiteten nicht richtig, und so konnte Stone nicht sehen, ob das Blut des Mannes noch den Boden beschmutzte. Wenigstens war die Leiche nicht mehr da. Nach seinem letzten Besuch war hier aufgeräumt worden. Er fragte sich, warum man die Mördergrube nicht einfach unter Tonnen von Stahl und Fels begraben hatte. Vielleicht behielt man sie für den Fall, dass man sie noch einmal brauchte. Ein erschreckender Gedanke.
Aber die Lichter brannten, wenn auch nur schwach. Also hatte Friedman herausgefunden, wie das alte Generatorsystem zu benutzen war. Stone schlich vorbei an zerfetzten Zielscheiben und duckte sich unter den durchhängenden Drähten mit den Scheibenwagen, mit denen man die Papierziele vor-und zurückbewegen konnte. Er konzentrierte sich auf das, was ihn erwartete, und verdrängte jeden Gedanken an die Vergangenheit.
Als er das kaum wahrnehmbare Scharren eines Schuhs auf dem staubigen Boden hörte, duckte er sich hinter eine Holztheke, wo er einst jeden Tag seine vorgegebenen Schüsse abgefeuert hatte. Das Geräusch war links von ihm gewesen, höchstens zehn Meter entfernt. Stone fragte sich, ob sie alle bis zum Augenblick der Wahrheit Pfeile benutzen würden. Aber das spielte eigentlich keine Rolle. Wurde er von einem Betäubungspfeil getroffen, war er ohnehin so gut wie tot.
In geduckter Haltung schlich er rückwärts und deckte mit der Waffe abwechselnd die vorderen und hinteren Flanken. Diese Taktik musste den Gegner verwirrt haben, der vermutlich davon ausging, dass er sich vorwärts-und nicht zurückbewegte. Als der Mann aus seinem Versteck kam, um auf ein Ziel zu schießen, das sich nicht an der erwarteten Stelle befand, jagte Stone ihm eine Kugel in den Arm und machte ihn kampfunfähig. Unwillkürlich griff der Angreifer nach dem verwundeten Arm. Stone gab einen tödlichen Schuss in den Nacken des Mannes oberhalb der Schutzweste ab. Mit durchtrennter Schlagader sackte der Mann zu Boden.
Stone betrachtete die Tür und rechnete alles im Kopf durch. Es war durchaus möglich, dass der Mann, den er soeben getötet hatte, ihn nur aus dem Versteck hatte locken sollen. Opfere einen, um die Mission erfolgreich abzuschließen. Die Landung in der Normandie 1944 war der gleichen Strategie gefolgt, nur dass man dort Tausende geopfert hatte. Auf der anderen Türseite warteten mindestens zwei weitere Schützen.
Also wartete Stone. In Gedanken zählte er die Sekunden. Geduld. Er hatte Jahre damit verbracht, sie zu lernen. Nur wenige Männer konnten ihn auf diesem Gebiet schlagen. Zehn Minuten vergingen, und das Einzige, was sich bei ihm bewegte, war seine Brust bei jedem flachen Atemzug.
Es gab nur ein Problem: Friedman und damit auch ihre Männer wussten, dass es in diesen Sektionen keinen Rückweg gab. Man konnte nur vorwärts. Wie lange waren sie bereit zu warten? Wie lange war er bereit zu warten?
Das werden wir herausfinden.