KAPITEL 36

»Wer hatte die Idee, Special Agent Gross allein zu lassen?«

Stone und Chapman saßen im Washington Field Office des FBI auf einer Seite eines langen Tisches. Vier düster blickende Männer und eine mürrische Frau hatten auf der anderen Seite Platz genommen.

»Es war meine Idee«, antwortete Stone. »Agent Chapman und ich sind zu dem Wohnwagen gefahren, um John Kravitz aufzusuchen. Agent Gross blieb bei Lloyd Wilder.«

»Haben Sie gewusst, ob einer der anderen Arbeiter der Baumschule in die Verschwörung zum Bombenattentat verwickelt war?«, fragte die Frau, die sich als Special Agent Laura Ashburn vorgestellt hatte. Sie trug ein schwarzes Kostüm, und ihr braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie war ungefähr vierzig, schlank und von mittlerer Größe und hatte ein nettes Gesicht, doch ihre Augen waren schwarze Punkte, die sich durch alles bohrten, was sich in ihrem Weg befand. Und im Augenblick war Stone das einzige Hindernis.

»Das haben wir nicht gewusst. Und wir wissen es noch immer nicht.«

»Trotzdem haben Sie ihn ohne Verstärkung zurückgelassen«, sagte einer der männlichen Agenten.

»Sie sind mit Agent Chapman losgefahren«, sagte ein anderer Mann, bevor Stone antworten konnte, »und hatten ebenfalls Verstärkung durch die örtliche Polizei. Und doch hatte Tom Gross nichts davon. Er war allein.«

»Ich hätte Agent Chapman bei Gross lassen und Verstärkung anfordern sollen, als ich zum Trailerpark gefahren bin«, gestand Stone ein.

»Nichts hat Agent Gross davon abgehalten, selbst Verstärkung anzufordern«, warf Chapman ein.

Die fünf FBI-Agenten starrten sie an. »Wenn man versucht, eine möglicherweise gefährliche Situation in den Griff zu bekommen, und sich in der Gegenwart eines potenziellen Bombenlegers befindet, hat man keine Zeit, ausführlich am Telefon zu quatschen.«

Derselbe Mann wandte sich wieder an Stone. »Wie ich hörte, hat die NSC Sie erst vor Kurzem angeworben.«

»Stimmt.«

»Aber Sie sind ein bisschen zu alt, um wieder auf den Zug aufzuspringen, nicht wahr?«

Stone erwiderte nichts. Was hätte er auch sagen können?

Ashburn öffnete eine Akte. »Ich kann nicht viel über Sie finden, Oliver Stone. Abgesehen von einer glanzvollen Filmkarriere.« Der Spott in ihrer Stimme spiegelte sich auf den Gesichtern ihrer männlichen Kollegen.

»Ein Anfängerfehler für einen Mann in Ihrem Alter«, fügte der Agent am linken Ende des Tisches hinzu. »Einen Agenten in einer verletzlichen Position zurückzulassen.« Er beugte sich vor. »Was sollen wir seiner Frau sagen? Seinen vier Kindern? Haben Sie Vorschläge? Ich würde sie gern hören, Agent Stone.«

»Ich würde ihnen sagen, dass ihr Mann und Vater im Kampf gefallen ist. Als Held.«

»Klar, dann fühlen sie sich sofort besser«, schnaubte Ashburn.

»Hat man Sie bei einem Auftrag jemals allein gelassen?«, fragte ein anderer Agent. »Ich bezweifle es. Ein Mann wie Sie verschafft sich wahrscheinlich die ganze Zeit über Deckung. Eine Menge Feuerkraft im Rücken.«

»Sie haben keine Ahnung, wovon Sie reden«, ergriff Chapman das Wort. »Er hat heute mein Leben und das von zwei Polizeibeamten gerettet. Er ist darauf gekommen, dass ein Schütze im Wald war, während wir uns die Beine in den Bauch gestanden haben. Und wenn Sie auch nur ein wenig von der Vergangenheit dieses Mannes kennen würden, würden Sie nicht hier herumsitzen und ihn in die Mangel nehmen, weil …«

»Mir ist seine Vergangenheit egal. Mich interessiert nur die Gegenwart«, erwiderte Ashburn hitzig.

»Dann sollten Sie vielleicht mal mit Ihren Vorgesetzten sprechen, weil …«

Stone legte eine Hand auf ihren Arm. »Nicht«, sagte er leise.

Ashburn klappte die Aktenmappe zu. »Wir werden einen detaillierten Bericht über diesen Vorfall verfassen und die Empfehlung aussprechen, dass man Sie von diesem Fall abzieht und dass eine vollständige Ermittlung eingeleitet wird, die Aufschluss darüber gibt, ob disziplinarische oder strafrechtliche Beschuldigungen gegen Sie erhoben werden.«

»Das ist lächerlich!«, fauchte Chapman.

Ashburn richtete einen vernichtenden Blick auf sie. Die schwarzen Punkte erinnerten an Hohlspitzgeschosse, bereit, abgefeuert zu werden. »Ich weiß nicht, wie es jenseits des großen Teichs ist, aber hier sind wir in den USA. Hier werden wir für unsere Taten zur Verantwortung gezogen.« Sie warf Stone einen Blick zu. »Oder für unsere Tatenlosigkeit, je nachdem.« Sie richtete den Blick wieder auf Chapman. »Legen Sie Wert auf einen guten Rat? An Ihrer Stelle würde ich mir einen neuen Partner suchen.«

Die Agenten standen wie ein Mann auf und verließen im Gänsemarsch den Raum.

Chapman warf Stone einen Blick zu. »Prügelt ihr Jungs ständig so aufeinander ein?«

»Normalerweise nur, wenn man es verdient hat.«

»Und Sie glauben, Sie haben es verdient?«

»Ein guter Mann ist tot. Er könnte noch leben. Jemand trägt die Schuld daran. Und ich bin eine so gute Wahl wie jeder andere.« Er stand auf. »Vielleicht haben sie recht. Vielleicht bin ich zu alt.«

»Das glauben Sie doch nicht im Ernst, oder?«

Stone antwortete nicht. Er verließ das WFO und trat auf die Straße. Die Nachtluft war frisch, der Himmel wolkenlos. Unterdrückter Verkehrslärm und Gehupe drang vom Verizon Center hinüber; dort fand irgendein Großereignis statt.

Während Stone ausschritt, dachte er über die letzten Augenblicke nach, die er mit Tom Gross verbracht hatte. Er hatte sich wirklich nicht auf die Sicherheit des Mannes konzentriert. Er hatte es auf John Kravitz abgesehen. Er war sogar davon ausgegangen, dass es besser um Gross’ Sicherheit bestellt sei, wenn er den vermeintlichen Bombenleger zu Hause aufspürte und Gross zurückließ. Es war ihm nicht eine Sekunde in den Sinn gekommen, dass die Gegenseite bei der Baumschule zuschlagen und gleichzeitig Kravitz töten würde. Diese Gegenseite verfügte eindeutig über genug Personal, Informationen und Nervenstärke. Eine beeindruckende Kombination.

Plötzlich kam Stone ein Gedanke. Er rief die Nummer an, die Riley Weaver ihm gegeben hatte. Er wollte wissen, ob Weaver eine genaue Auflistung der Ereignisse hatte, die sich im Lafayette Park zugetragen hatten. Sollte es in dieser Liste eine Spur geben, wollte Stone ihr nachgehen.

Jemand nahm den Anruf entgegen. Stone nannte seinen Namen und verlangte Weaver zu sprechen. Der Mann bat ihn zu warten, meldete sich aber schon nach zehn Sekunden wieder.

»Bitte rufen Sie diese Nummer nicht mehr an.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Langsam steckt Stone sein Handy wieder ein. Für diese barsche Abfuhr gab es eine einfache Erklärung. Weaver wusste, dass Stone Mist gebaut und ein FBI-Agent deshalb sein Leben verloren hatte. Aus diesem Grund wurde Stone jetzt von der Kooperationsliste des NIC gestrichen. Und zwar für alle Ewigkeit.

Als Stone Block um Block zurücklegte, wurden seine Gedanken klarer, schärfer, während das Nachtleben der Stadt allmählich in Schwung kam. Jogger, die um das Einkaufszentrum liefen, Touristen mit Stadtplänen in den Händen, Partygänger, die in Gruppen der nächsten Feier entgegenstrebten, und Büromenschen in Anzügen und Kostümen mit dicken Aktentaschen und müden Gesichtern, die nach Hause trotteten, wahrscheinlich, um dort weiterzuarbeiten.

Hätte Stone selbst den Bombenanschlag ausgeführt, wäre es für ihn nur logisch gewesen, Kravitz aus dem Spiel zu nehmen. Ein Mund weniger, der die verraten konnte, die dahintersteckten. Sie mussten den Trailerpark überwacht haben, jederzeit bereit, Kravitz zu töten, als Stone dort erschienen war.

Aber es gab noch eine andere Theorie, die viel beunruhigender war, falls sie zutraf.

Sie haben gewusst, dass wir kommen.

Dafür hätten sie ihnen entweder folgen oder einen Schritt voraus sein müssen. Beide Szenarien würden den Schluss zulassen, dass ein Maulwurf unter ihnen war. Aber warum die Baumschule? War Lloyd Wilder ebenfalls in den Anschlag verwickelt gewesen? Falls ja, war der Mann ein begnadeter Schauspieler. Und die Frau im Büro? Das wäre wohl doch zu weit hergeholt.

Tom Gross? Aber warum hätte man ihn dann aus dem Spiel nehmen sollen? Er war der leitende Ermittler, und nun würde man ihn durch einen anderen Agenten ersetzen. Und der Mord an einem FBI-Agenten würde nur dafür sorgen, dass das Respekt einflößende FBI seine ohnehin gewaltigen Anstrengungen verdreifachte, diejenigen aufzuspüren, die hinter dem Zwischenfall im Lafayette Park steckten.

Es ergab nicht den geringsten Sinn.

Stone erreichte sein Ziel, zückte seine Dienstmarke, um sich Zutritt zu verschaffen, und betrat den Lafayette Park. Wenigstens hatte man ihm den Ausweis nicht abgenommen.

Dennoch …

Er setzte sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. Noch immer fanden Untersuchungen statt. Stones Gedanken kreisten um die jüngsten Ereignisse, aber keiner verdichtete sich zu etwas Greifbarem. Sie waren wie Dunst. Sobald er sich auf etwas Vielversprechendes konzentrierte, löste es sich auf.

Sein Blick glitt zum Weißen Haus auf der anderen Straßenseite. Der Bombenanschlag hatte zweifellos die Illusion der Sicherheit des Präsidenten platzen lassen. Das professionelle Ego eines jeden Geheimdienstes, der damit zu tun hatte, dieses Stückchen Erde zu verteidigen, hatte einen harten Schlag abbekommen.

Hell’s Corner, überlegte Stone, macht seinem Namen wirklich alle Ehre.

Als er aufschaute, sah er, wie der Mann sich näherte. Er war nicht allzu überrascht.

Stone atmete tief ein und wartete.

Der Auftrag
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