KAPITEL 10
Nachdem die FBI-Agenten und Chapman gegangen waren, arbeitete Stone eine halbe Stunde auf dem Friedhof, richtete Grabsteine wieder auf, die kürzlich ein schwerer Wolkenbruch umgestürzt hatte, und beseitigte Geröll, das vom Unwetter über das Gelände verteilt worden war. Die körperliche Arbeit verschaffte ihm die Möglichkeit, klar zu denken. Und es gab eine Menge Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Als er ein paar Stöcke und kleine Zweige in einen Plastiksack warf, versteifte er sich plötzlich und drehte sich dann langsam um.
»Ich bin beeindruckt.« Mary Chapman trat hinter einem Strauch hervor. »Haben Sie Augen im Hinterkopf?«
»Manchmal.« Stone band den Müllsack zu und stellte ihn neben einen Bretterschuppen. »Wenn ich welche brauche.«
Chapman kam zu ihm. »Das ist eine erstaunliche Tarnung für einen Agenten. Ein Friedhofsarbeiter.«
»Eigentlich bin ich Hausmeister. Der Friedhof wird nicht mehr genutzt. Er ist eine historische Stätte.«
Chapman blieb stehen, hob das rechte Knie und rieb Schmutz von ihren schlichten schwarzen Pumps mit den niedrigen Absätzen. »Verstehe. Und es gefällt Ihnen, sich um die Toten zu kümmern?«
»Ja.«
»Warum?«
»Sie streiten nie mit mir.« Stone ging zu dem Häuschen zurück. Chapman folgte ihm. Beide setzten sich auf die Verandatreppe. Eine Minute verstrich schweigend, während beide dem Zirpen der Vögel lauschten, das sich mit den Geräuschen vorbeifahrender Autos mischte. Stone schien ins Leere zu schauen, während Chapmans Blick immer wieder wie ein verirrter Lichtstrahl zu ihm flackerte.
»Also Oliver Stone?«, sagte sie schließlich, ein belustigtes Funkeln in den Augen. »Ein paar von Ihren Filmen haben mir gefallen. Sind Sie hier, um Schauspieler für ein neues Projekt zu suchen?«
Stone blickte ihr ins Gesicht. »Warum sind Sie zurückgekommen?«
Chapman erhob sich und fragte zu seinem Erstaunen: »Haben Sie Zeit für eine Tasse Kaffee? Ich lade Sie ein.«
* * *
Sie fuhren in die Innenstadt von Georgetown und fanden sogar einen Parkplatz – ein fast beispielloser Glücksfall in diesem überfüllten Ballungszentrum. Das sagte Stone ihr auch.
»Ist bei uns genauso«, erwiderte sie. »Versuchen Sie mal, in London einen Parkplatz zu kriegen.«
Beide nahmen ihren Kaffee mit hinaus und setzten sich an einen kleinen Tisch. Chapman zog die Pumps aus, raffte den Rock bis zur Mitte der Oberschenkel hoch, legte die Füße auf einen leeren Stuhl, lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ die Sonne auf ihr bleiches Gesicht und die nackten Beine scheinen. »In England scheint die Sonne nur selten so kräftig«, erklärte sie. »Und wenn doch, ziehen normalerweise sofort Wolken auf, und es regnet. Das treibt eine Menge Leute an den Rand des Selbstmords. Besonders, wenn es im verdammten August regnet und man keinen Urlaub im Ausland geplant hat.«
»Ich weiß.«
Sie öffnete die Augen. »Ach ja?«
»Ich habe zwei Jahre in London gewohnt. Aber das ist lange her«, fügte er hinzu.
»Geschäftlich?«
»Ja, könnte man sagen.«
»John Carr?«
Stone trank seinen Kaffee und schwieg.
Chapman nippte an ihrem Becher, während das Schweigen sich hinzog.
»John Carr?«, sagte sie schließlich noch einmal.
»Ich habe Sie schon beim ersten Mal verstanden«, erwiderte er und musterte sie von der Seite.
Sie lächelte. »Möchten Sie wissen, wo ich diesen Namen zum ersten Mal gehört habe?«
Stone antwortete nicht, doch sie wertete sein Schweigen anscheinend als Zustimmung an und fuhr fort: »James McElroy. Er ist ein gutes Stück älter als Sie.« Sie ließ den Blick über seine große, schlanke Gestalt schweifen. »Und nicht annähernd so gut in Form.«
Stone schwieg auch diesmal.
»Er ist eine Legende in englischen Geheimdienstkreisen. Hat jahrzehntelang den MI6 geleitet. Aber das wissen Sie vermutlich alles. Jetzt hat er irgendeinen hochtrabenden Titel – welchen, weiß ich nicht genau. Aber er macht, was er will. Und das ist verdammt gut für das Land, das kann ich Ihnen sagen.«
»Geht es ihm gut?«
»Ja. Offensichtlich hat er das zu einem Teil auch Ihnen zu verdanken. Iran, 1977. Sechs Fanatiker wollten seinen Kopf auf einen Speer aufspießen. Sechs tote Fanatiker, nachdem Sie mit ihnen fertig waren. Er hat gesagt, er hätte nicht mal die Zeit gehabt, seine Waffe zu ziehen, um Ihnen zu helfen. Dann waren Sie verschwunden, einfach so. Er bekam nie Gelegenheit, Ihnen zu danken.«
»Ich habe keinen Dank verlangt. Er war unser Verbündeter. Es war mein Job.«
»Tja, dessen ungeachtet sagt er, dass er Ihnen seit Jahrzehnten ein Bier ausgeben will, weil Sie ihm den Hintern gerettet haben, nur sind Sie nie wieder aufgetaucht. Er will Ihnen noch immer einen ausgeben.«
»Ist nicht nötig.«
Chapman streckte sich, setzte die Füße auf den Bürgersteig, zog den Rock herunter und schlüpfte wieder in die Pumps. »Wie der Zufall es will, ist er in der Gegend.«
»Sind Sie deshalb zurückgekommen?«
»Ja und nein.«
Stone blickte sie erwartungsvoll an.
»Ja, weil ich wusste, dass er Sie gerne sehen würde. Nein, weil ich meine eigenen Gründe hatte.«
»Und die wären?«
Sie beugte sich vor. Stone sah die Walther PPK, die in dem schwarzen ledernen Schulterhalfter hing, das durch die Lücke zwischen ihrer Kostümjacke und der Bluse zu sehen war.
Er deutete mit dem Kopf auf die Pistole. »Ein ziemlicher Abzugswiderstand, nicht wahr?«
»Man gewöhnt sich daran.« Sie rührte den Rest des Kaffees mit einem Holzstäbchen um. »Sehen wir den Dingen ins Auge. Diese Sache ist von Anfang an verpfuscht. Die Amerikaner haben so viele Geheimdienste, dass ich von keinem eine klare Antwort bekomme. Mein Chef teilt diese Ansicht. Aber die USA sind unser wichtigster Verbündeter, und wir möchten nichts unternehmen, was unser Verhältnis beeinträchtigen könnte. Aber unser Premierminister wurde in Lebensgefahr gebracht, und wir sind verpflichtet, der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Und da sind Sie zu mir gekommen? Wieso?«
»James McElroy vertraut Ihnen, also vertraue ich Ihnen auch. Und Sie waren gestern Abend dort. Das macht Sie wertvoll.«
»Vielleicht. Aber der Iran ist lange her, Agent Chapman.«
»Manche Dinge ändern sich nie. McElroy sagt, Sie gehörten dazu.«
»Dann setzen Sie voraus, dass ich wirklich John Carr bin.«
»Oh, das sind Sie. Da habe ich keinen Zweifel.«
»Wie können Sie so sicher sein?«
»Als wir Sie besucht haben, war ich kurz pinkeln. Dabei habe ich Fingerabdrücke von einem Glas in Ihrer Toilette genommen. Mein Chef hat genug Einfluss, dass ich eine Dringlichkeitssuche in den Datenbänken des NIC durchführen lassen konnte. Trotzdem musste ich acht Sicherheitsüberprüfungen über mich ergehen lassen, ein paar Computer brannten durch, und es waren zwei Autorisierungen von höchster Stelle nötig, bevor ich das Ergebnis bekam.« Sie runzelte die Stirn. »John Carr von der seligen 666-Abteilung der CIA.«
»Die offiziell nie existiert hat.«
»Das interessiert mich nicht. Ich lag noch in den Windeln, als die 666 den letzten Schuss abgefeuert hat, ob offiziell oder nicht.« Sie stand auf. »Sind Sie jetzt bereit, mit dem Mann zu sprechen, dem Sie das Leben gerettet haben? Er will Ihnen das Bier unbedingt ausgeben, Mr. Carr.«