KAPITEL 7
Stone sah eine Videoaufzeichnung der vergangenen Nacht vom Lafayette Park. Die Geschwindigkeit war verlangsamt worden, sodass er jedes Detail genau und in Ruhe betrachten konnte. Als die Schüsse fielen, rannten die Leute in sämtlichen Richtungen davon. Die Sicherheitsbeamten im Umkreis nahmen Verteidigungsposition ein und suchten nach der Quelle der Schüsse. Der Jogger rannte los – auf die kraftlose Art und Weise eines Mannes, der körperliche Betätigung nicht gewöhnt war. Seine Schritte waren kurze, zunehmend schwächere Hüpfer. Er lief mitten durch das gelbe Band. Einen Moment später fiel er in das Loch, in das der große Ahorn gepflanzt wurde. Vielleicht sprang er auch von selbst hinein.
Nun ergab das, was Stone gesehen hatte, endlich Sinn für ihn – namentlich der Mann, der sich in Luft aufzulösen schien. Es war wie ein Schützenloch, um sich vor den Kugeln in Sicherheit zu bringen.
Dann kam es zur Explosion. Stone sah, wie er selbst von den Füßen gerissen wurde und gegen das Bandenmitglied prallte. Beide gingen zu Boden. Eine Sekunde später zeigte das Bild nur noch Rauschen. Die Erschütterung der Explosion musste das Signal gestört haben.
»Beobachtungen?«, fragte Weaver.
»Spielen Sie es noch mal ab«, verlangte Stone.
Er schaute sich die Aufzeichnung noch zweimal an. Dann dachte er darüber nach, was er gesehen hatte. Der Jogger war in das Loch um den Ahorn gefallen. Sekunden später hatte sich die Explosion ereignet.
»Was hat die Detonation ausgelöst?«, fragte Stone. »Der Jogger?«
»Wir sind noch nicht sicher. Es könnte etwas in dem Loch gewesen sein.«
Stone blickte skeptisch. »In dem Loch? Sind im Park keine Gasleitungen verlegt?«
»Nein.«
»Ist Ihnen klar, was Sie damit andeuten? Eine Bombe, die im Lafayette Park versteckt wurde?«
Weavers Gesicht wurde noch dunkler. »Die Implikationen sind erschreckend, ich weiß, aber wir können die Möglichkeit nicht ausschließen.«
»Sie wollen also sagen, dass der Mann in das Loch gesprungen ist, um den Kugeln zu entgehen, und stattdessen von einer Bombe in die Luft gesprengt wurde, die zuvor dort versteckt worden war?«
»Falls es so war, hat er Pech gehabt. Er entkommt den Kugeln und stirbt trotzdem.«
»Wer ist am Tatort?«
»Derzeit das ATF und das FBI.«
Das hätte Stone klar sein müssen. Das ATF war für Ermittlungen zuständig, die mit Sprengstoff zu tun hatten, bis man zu der Ansicht gelangte, dass es sich um ein Verbrechen des internationalen Terrorismus handelte. Dann würde das FBI übernehmen. Doch Stone ging davon aus, dass eine Bombe, die vor dem Weißen Haus hochging, von vornherein als terroristischer Akt eingestuft würde. Das bedeutete, dass das FBI die Ermittlungen übernahm. Wahrscheinlich was das schon geschehen.
»Okay, lassen wir die Explosion für den Augenblick mal beiseite«, sagte Stone. »Wissen wir, wer geschossen hat? Auf dem Video schienen die Schüsse vom nördlichen Ende des Parks zu kommen. Aus Richtung H Street oder noch weiter weg.«
»Ja, das ist die vorläufige Schlussfolgerung.«
»Also von Norden nach Süden. Auf dem Video waren keine Mündungsblitze zu sehen«, betonte Stone. »Das bedeutet, dass sie vor den Kameraaugen verborgen waren.«
»Hinter Bäumen«, vermutete Weaver. »Am nördlichen Ende des Parks stehen sie ziemlich dicht. Aber die Überwachungskameras sind vor allem auf Beobachtungen auf Bodenhöhe ausgerichtet. Wenn die Schützen sich ziemlich weit oben befanden, haben die Kameras sie auf keinen Fall erfasst.«
»Sie müssen aus erhöhter Position geschossen haben«, meinte Stone.
»Wie kommen Sie darauf?« Riley fragte es in einem Tonfall, der Stone vermuten ließ, dass er die Antwort bereits kannte und ihn auf die Probe stellen wollte.
Stone beschloss, vorerst mitzuspielen. »Hätten sie hinter den Bäumen auf Straßenebene geschossen, wären die Kugeln wahrscheinlich über den Park und die Pennsylvania Avenue hinaus bis zum Weißen Haus getragen worden.«
»Und woher wissen Sie, dass das nicht der Fall war?«
»Weil Sie es mir anderenfalls gesagt hätten, oder weil ich ansonsten von mehr Todesfällen gehört hätte. Vor dem Weißen Haus halten sich immer sehr viele Menschen auf, auf der Pennsylvania Avenue waren Fahrzeuge. Wachen gingen Streife. Unvorstellbar, dass niemand getroffen worden wäre. Also Schüsse von oben nach unten. Stimmt mit meinen Beobachtungen überein. Ich habe gesehen, wie die Kugeln in den Boden schlugen. Und wenn sie zuerst die Baumkronen durchschlugen, müssen sie aus dieser Höhe oder noch darüber abgefeuert worden sein. Viele der Bäume sind ziemlich hoch und haben dichte Kronen. Hat jemand am nördlichen Ende des Parks etwas gesehen, was uns weiterhelfen könnte?«
»Da war das Wachpersonal. Und die Parkpolizei. Dazu ein paar uniformierte Agenten vom Secret Service und die Führer von Bombensuchhunden. Sie werden noch vernommen, hatten bislang aber nicht viel zu der Quelle der Schüsse zu sagen.«
Stone nickte. »Warum wurde der Park gestern Abend nicht geräumt?«
Weavers Gesichtsausdruck verriet, wie sehr ihm diese Frage missfiel. »Ich möchte nur Ihre Beobachtungen hören, wenn Sie sich dieses Video anschauen.«
»Ich hätte gern ein besseres Verständnis dafür, was vor sich geht, bevor ich mich aus dem Fenster lehne.«
»John Carr«, sagte Weaver erneut. »Ihre Akte ist so geheim, dass selbst ich sie nicht vollständig gesehen habe.«
»Manchmal kann selbst eine Regierung erfrischend diskret sein«, stellte Stone fest. »Aber wir sprechen über die Herkunft der Schüsse und die Parksicherheit, oder besser gesagt den Mangel daran.«
»Was die Herkunft der Schüsse angeht, wird noch ermittelt. Die Parksicherheit fällt unter die Zuständigkeit des Secret Service, und ich habe noch keinen Bericht von denen.«
»Natürlich haben Sie den.«
Weaver musterte ihn verwundert. »Wieso?«
»Die Sicherheit des Präsidenten geht über alles, was dem Secret Service absoluten Vorrang gibt, falls er den nicht sowieso schon hatte. Was nach Schüssen aus Automatikwaffen und einer Explosion direkt vor dem Weißen Haus aussieht, ist vor über fünfzehn Stunden passiert. Sie haben jeden Morgen um sieben Uhr eine Besprechung mit dem Präsidenten über die täglichen nationalen Sicherheitsvorkehrungen. Hätten Sie noch nicht mit dem Secret Service gesprochen, hätten Sie den Präsidenten heute Morgen in dieser Angelegenheit nicht unterrichten können. Und hätten Sie den Präsidenten heute Morgen nicht über einen Anschlag unterrichtet, der sich praktisch in seinem Vorgarten ereignet hat, wären Sie nicht mehr NIC-Direktor.«
Ein Zucken von Weavers rechtem Lid zeigte, dass dieses Gespräch für ihn nicht planmäßig verlief. Die beiden Männer, die sich gegen die Wand lehnten, verlagerten unbehaglich ihr Gewicht.
»Der Service behauptet, er habe den Park räumen wollen, die Pläne dann aber geändert. Da der Premierminister direkt zum Blair House fahren würde, war der Service der Meinung, vom Park ginge keine Bedrohung aus. Der Secret Service war der Ansicht, er habe den Park abgedeckt. Beantwortet das Ihre Frage?«
»Ja, aber es wirft eine andere auf.«
Weaver wartete gespannt.
»Welche Pläne genau haben sich geändert?«
Die Antwort auf Stones Frage war der lange Blick eines Marines. »Teilen Sie mir einfach die weiteren Beobachtungen mit, falls Sie welche haben.«
Stone sah den Mann an und erkannte die Absicht hinter den unverblümten Worten. Er konnte diese Sache auf vielerlei Art durchziehen. Manchmal bedrängte man sein Gegenüber, manchmal nicht.
»Zu viele Personen im Park haben Dinge getan, die sie zu dieser Stunde nicht hätten tun sollen«, sagte er.
Weaver lehnte sich im Sessel zurück. »Fahren Sie fort.«
»Ich habe viel Zeit im Lafayette Park verbracht. Um elf Uhr abends sind normalerweise nur noch die Leute von der Sicherheit dort. Gestern Abend waren vier Personen im Park, die dort nichts zu suchen hatten. Das Bandenmitglied, der Mann im Anzug, die Frau auf der Bank und der Jogger.«
»Sie alle hätten einen Grund für ihre Anwesenheit haben können«, hielt Weaver dagegen. »Es war ein warmer Abend. Und es ist ein öffentlicher Park.«
Stone schüttelte den Kopf. »Der Lafayette ist nicht der bevorzugte Ort, an dem man abends sitzt oder die Zeit totschlägt. Und der Service mag es nicht, wenn dort jemand herumhängt. Er wird Ihnen dasselbe sagen.«
»Das hat er schon«, gab Weaver freiwillig preis. »Was also glauben Sie?«
»Das Bandenmitglied hatte eine Waffe. Ich konnte sie auch ohne optische Hilfsmittel deutlich erkennen. Die Scharfschützen hätten sie sehen und die Information an die Kräfte auf dem Boden weitergeben müssen. Der Bursche hätte festgenagelt werden müssen, als er einen Fuß in die rote Zone setzte. Aber das war nicht der Fall.«
Weaver nickte. »Okay. Weiter.«
»Die Frau war gut gekleidet. Vielleicht arbeitet sie in einem Büro. Sie hatte eine Handtasche dabei. Aber um diese Stunde auf einer Bank zu sitzen, ergibt keinen Sinn. Sie telefoniert mit dem Handy und steht dann auf, als sich die Wagenkolonne nähert. Ein Glück für sie, da sie deshalb den Schüssen entgangen ist.«
»Weiter«, ermutigte Weaver ihn.
»Der Mann im Anzug betrachtete die Statue. Er ließ sich viel Zeit. Als die Frau denn den Park verließ, ging er weiter zum Decatur House. Als die Schüsse fielen, hatte ich beide aus den Augen verloren. Danach schaute ich zu dem Jogger, der zur Statue von Jackson rannte. Er schien einfach zu verschwinden, aber jetzt weiß ich, dass er in Wirklichkeit in das Loch gesprungen ist, um den Kugeln zu entgehen.«
»Und zum Dank für seine Mühe in die Luft gejagt wurde«, sagte Weaver.
»Trotzdem können eine oder mehrere der anderen Personen, die gestern Abend im Park waren, in die Sache verwickelt sein.«
Weaver schüttelte den Kopf. »Das ist zu weit hergeholt. Wir haben ein paar Salven Automatikfeuer und eine Bombe, die bereits dort versteckt war und wahrscheinlich zufällig von dem armen Schwein ausgelöst wurde, das versucht hat, vor den Kugeln in Deckung zu gehen. Der Bursche hat uns einen Gefallen getan. Er hat eine Bombe hochgejagt, bevor sie verheerende Schäden anrichten konnte. Jetzt müssen wir das Wer, Wie und Warum bei den Schüssen und der Bombe herausfinden.« Weaver betrachtete Stone. »Möchten Sie diesen Erkenntnissen noch etwas hinzufügen? Denn ehrlich gesagt, ich bin enttäuscht von dem, was Sie mir zu sagen hatten. Ich dachte, Sie wären spitzenklasse, aber Sie haben mir nichts gegeben, was ich nicht schon selbst herausgefunden hatte.«
»Ich wusste nicht, dass es mein Job ist, Ihren Job zu tun. Aber eine Beobachtung bekommen Sie noch kostenlos dazu«, fügte Stone hinzu. »Das Bandenmitglied war in Wirklichkeit ein Cop, nicht wahr?«
Nach dieser Bemerkung wurde der Bildschirm augenblicklich dunkel.