DREIUNDSECHZIG

Sechs Monate später

Sanchez hasste es, wenn Fremde in seine Bar kamen. Unseligerweise sah Flake das ganz anders. Sie liebte neue Gäste und organisierte regelmäßig Events, um noch mehr Publikum ins Tapioca zu holen. Das trieb Sanchez in den Wahnsinn, aber er musste zugeben, dass sich das Tapioca durch Flake vollkommen verwandelt hatte, und auch die Einnahmen waren gestiegen.

Zum ersten Mal in seiner gesamten Geschichte fand im Tapioca eine Hochzeitsfeier statt. Dante und Kacy waren gerade in der Kirche der Heiligen Ursula getraut worden. Sanchez mochte Dante und Kacy, daher hatte er ihnen zu Ehren (und weil er es Flake versprechen musste) die Flasche mit der Pisse weggestellt und schenkte nur anständige Getränke aus.

Flake war hinten mit einer neuen Mitarbeiterin. Psycho-Beth. Die beiden hatten bei der Hochzeit die Brautjungfern gespielt und trugen noch immer die pinkfarbenen Kleider, die Kacy für sie ausgesucht hatte. Leider konnten sie aber jetzt nicht einfach die Party genießen, sondern waren damit beschäftigt, das Buffet vorzubereiten.

Zu Sanchez’ Erstaunen war Beth doch gar nicht so ein Psycho, wie man ihm immer erzählt hatte. Sie war fleißig und verstand sich gut mit Flake, in deren Anwesenheit er sie auch nicht mehr Psycho-Beth nennen durfte, weil sie ihm sonst aufs Ohr haute. Außerdem tat Beth ihm auch irgendwie leid. Der Bourbon Kid hatte sich in Luft aufgelöst, und sie war einsam zurückgeblieben, ohne zu wissen, was überhaupt aus ihm geworden war.

Dante saß am Tresen. Er trug einen Smoking und trank gerade ein Bier Marke Shitting Monkey. Wann immer Sanchez einen freien Moment hatte, unterhielten sie sich. So elegant wie heute hatte Dante noch nie ausgesehen. Das galt allerdings auch für Sanchez, der ebenfalls in einem Anzug steckte. Es war ein wunderschönes hellgelbes Modell, das er mal auf dem Flohmarkt erworben hatte.

Dante konnte den Blick kaum von Kacy abwenden. Es war ein Blick, den Sanchez inzwischen kannte, weil er begonnen hatte, Flake so anzuschauen.

»Sie sieht in dem Kleid aber auch wirklich wunderschön aus«, sagte Sanchez.

»Ja.« Dante nickte. »Sieh mal, wie glücklich sie lächelt, während sie mit den Leuten redet.«

Kacy stand in ihrem glitzernden weißen Kleid an einem Ecktisch und unterhielt sich. In der Hand hatte sie ein großes Glas Rotwein.

»Was sind das für Leute, mit denen sie gerade spricht?«, fragte Sanchez.

»Kein Ahnung«, erwiderte Dante. »Sie ist besoffen, da quatscht sie mit absolut jedem. Ich glaub nicht mal, dass die auf unserer Hochzeit waren.«

»Und was ist mit dem Typen?« Sanchez deutete mit dem Kinn auf einen Fremden, der gerade hereingekommen war und zu ihnen an die Bar wollte.

Dante schaute sich den Neuankömmling genau an. »Hoffentlich kein lang vermisster Onkel oder so was. Der ist ja total abgerissen.«

Wie eigentlich alle Fremden in Santa Mondega sah auch dieser hier sonderbar aus. Er war unrasiert und trug schäbige Klamotten. Obwohl er erst Anfang vierzig sein konnte, hinkte er leicht. Sein grauer Mantel brauchte dringend eine chemische Reinigung, und die schwarze Hose wurde von einer Kordel oben gehalten.

Der Fremde nahm am Tresen Platz, genau neben Dante. »Hey, Barmann, einen dunklen Rum bitte!«

Sofort ärgerte Sanchez sich, dass er seine Pisseflasche nicht griffbereit hatte. Missmutig schenkte er dem Kerl echten, guten Rum ein. »Macht drei Dollar.«

Der Mann holte einen Fünfdollarschein aus der Tasche und gab ihn Sanchez. »Wissen Sie, wo ich eine Beth Lansbury finden kann?«

Es wurde auf einmal still im Tapioca, und bevor Sanchez noch etwas erwidern konnte, kamen Flake und Beth aus der Küche, um zu sehen, wer das wissen wollte.

»Und wen interessiert das?«, erkundigte sich Sanchez.

»Na, offensichtlich mich«, antwortete der Mann. »Deshalb frag ich ja.«

Sanchez spielte nicht gern den großen Beschützer, aber es war klar, dass jeder Feind des Bourbon Kid auch für Beth zur Bedrohung werden konnte. Deshalb tat er ganz cool und fragte weiter: »Worum geht es denn überhaupt?«

»Dann wissen Sie, wo sie ist?«

»Kommt darauf an, was Sie von ihr wollen.«

»Ich habe was für sie.«

»Das geben Sie am besten mir, ich reich es dann weiter.«

Es war noch immer mucksmäuschenstill in der Bar, nur der große Ventilator an der Decke surrte vor sich hin.

Der Mann roch erst an seinem Glas, bevor er einen Schluck trank. »Sie müssen Sanchez sein, richtig?«

»Möglicherweise.«

»Ja, ich hab schon gehört, dass Sie ein ziemlicher Idiot sein können.«

Dante beugte sich zu dem Fremden hinüber und stieß ihm gegen den Arm. »Hör mal, Kumpel, pass bloß auf, wie du mit mir redest.«

Sanchez machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon okay, Dante, da habe ich schon schlimmere Beleidigungen zu hören bekommen.«

Der Fremde seufzte. »Okay, lassen Sie mich mal erklären, wieso ich hier bin.«

Sanchez nahm sich ein Wischtuch und polierte den Tresen und tat so, als würde ihn das nicht sonderlich interessieren. »Hört, hört, jetzt will er uns auch noch eine Geschichte erzählen.«

Der Fremde blickte sich um, und als er merkte, dass alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war, sprach er etwas lauter. Nur damit ihn auch alle hören konnten.

»Ich komme aus einer kleinen Gemeinde im Süden. Heißt Lakeland. Irgendjemand schon mal gehört?«

Niemand antwortete.

»Na, ist ja auch egal. Wir hatten jedenfalls jahrelang Ärger mit so einer Rockergang. Nicht die Hells Angels, nein, unsere waren viel schlimmer! Oft genug haben wir am Morgen unsere Nachbarn tot auf der Straße entdeckt. Diese Rocker haben ihnen Unsägliches angetan. Kannibalismus, Dinge, die man für unmöglich hält. Wir lebten schon eine ganze Ewigkeit in ständiger Angst. Manchmal ließen sie uns ein paar Monate in Ruhe, doch dann kamen sie jedes Mal wie aus heiterem Himmel plötzlich zurück. Sie brachen in unsere Häuser ein, zerrten die Kinder aus dem Bett. Wir waren machtlos gegen sie und konnten uns nicht verteidigen. Wenn sich jemand gegen sie auflehnte, wurde er auf satanische Art gefoltert und durch einen Ritualmord hingerichtet. Manche von uns wurden sogar auf offener Straße verspeist.«

Sanchez hustete. »Ist Ihnen klar, dass wir hier gerade eine Hochzeit feiern?«

»Ja, tut mir auch leid«, sagte der Mann und hob entschuldigend die Hände. Er schaute zu Kacy hinüber. »Nettes Kleid!«

»Danke!« Kacy strahlte. »Hab ich mir maßanfertigen lassen!«

»Wie schön«, entgegnete der Mann. Dann blickte er Dante an. »Ist sie blau?«

»Ja.«

»Okay, jedenfalls kommt vor einem Monat dann dieser Mann in unsere kleine Stadt. Er sah aus wie ein richtig harter Kerl – einer, mit dem man sich besser nicht anlegt. Und seitdem hat sich alles geändert.«

Beth hatte die ganze Zeit hinter Flake gestanden, während der Mann erzählte. Jetzt trat sie vor. »Wie sah er denn genau aus?«

»Ist schwer zu beschreiben. Wir haben sein Gesicht nie wirklich gesehen. Das hatte er meistens unter einer schwarzen Kapuze versteckt. Aber er hatte eine sehr heisere Stimme.«

»Und wie hieß er?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Seinen Namen hat er nie erwähnt. Wir nannten ihn erst den Bourbon-Trinker, weil er den so sehr mochte. Aber das sollte sich ändern. Und zwar an dem Tag, als er sich ganz allein draußen auf der Straße den Rockern entgegenstellte. Niemand von uns wird das je vergessen. Wir hatten schon die Rocker bis dahin für blutrünstig und gnadenlos gehalten. Doch dieser Kerl war schlimmer als die alle zusammen. Und jetzt nennen wir ihn den Mann, der uns gerettet hat. Heutzutage ist es wieder schön, in Lakeland zu wohnen. Man kann sogar nachts auf die Straße gehen.« Er nahm sein Glas und trank einen Schluck Rum, bevor er hinzufügte: »Was aber niemand macht.«

Beth schob Sanchez aus dem Weg, damit sie mit dem Fremden reden konnte. »Ich bin Beth Lansbury«, erklärte sie. Der Mann lächelte. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Beth.«

»Der Unbekannte, von dem Sie erzählt haben, heißt JD. Wissen Sie, wo er jetzt ist?«

Wieder trank der Mann einen Schluck Rum und stellte dann das Glas zurück auf den Tresen. »Kann ich noch einen bekommen?«, fragte er Sanchez.

»Wieder Rum?«

»Ja, einen doppelten diesmal.«

Sanchez holte die Rumflasche und schenkte dem Mann in Höchstgeschwindigkeit ein, weil er wissen wollte, wie die Geschichte weiterging. Der Mann nahm das Glas und machte keinerlei Anstalten, dafür zu zahlen. Wieder wandte er sich Beth zu.

»Er sagte uns, er hätte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Und jetzt muss er auf der ganzen Welt die Untoten auslöschen – so wie bei uns in Lakeland.«

»Hat er erwähnt, ob er bald hierher nach Santa Mondega zurückkehren will?«, fragte Beth, und man spürte ihre Verzweiflung.

»Nein, nicht in der nahen Zukunft jedenfalls. Er darf erst ruhen, wenn der letzte verdammte Untote in der Hölle schmort. Klingt nach einer Lebensaufgabe.«

Beth machte ein enttäuschtes Gesicht. »Und er hat Sie hierher geschickt, um mir das alles zu erzählen?«

Der Fremde holte ein Stück Stoff aus seinem Mantel. »Nein, ich soll Ihnen das hier geben. Er meinte, Sie wüssten schon, was es zu bedeuten hat.«

Beth griff nach dem Stoff und faltete ihn auseinander. Neugierig spähte Sanchez über ihre Schulter. Es war nur ein braunes Tuch, auf das ein Herz genäht war, in dessen Mitte sich die Initialen JD befanden. Beth drehte sich um und presste das Tuch gegen ihre Brust. Tränen standen ihr in den Augen.

Sanchez konnte das wirklich gut verstehen und wollte etwas Tröstliches sagen: »Ich weiß, Beth, das ist eine etwas vage gehaltene Nachricht, nicht wahr?«

ENDE (vielleicht …)