ZWEIUNDZWANZIG

Polizeiarbeit stellte sich als ziemlich anstrengend heraus. Sanchez hatte noch eine volle Stunde in Beth Lansburys Wohnung damit verbracht, einem anderen Polizisten zu erklären, was hier seiner Meinung nach geschehen war. Nämlich dass der Bourbon Kid diese ganzen Leute umgebracht hatte und geflohen war, als er selbst in der Wohnung auftauchte. Alle schienen von der Geschichte ziemlich beeindruckt zu sein. Sanchez freute sich schon darauf, in den Nachrichten als großer Held gefeiert zu werden. Es wurde Zeit, dass er die ihm gebührende Anerkennung für seinen Dienst an der Allgemeinheit erhielt.

Es war bereits früher Abend, als er wieder im Revier eintraf, wo Flake noch immer am Empfang saß und gerade ein Buch las. Erst als er direkt vor dem Tresen stand, bemerkte sie ihn.

»Hey, Sanchez, wie ist es gelaufen?«

Er nahm seinen Stetson ab und wischte sich den Schweißfilm von der Stirn. Obwohl es nicht gerade sehr hell im Revier war, ließ er die Sonnenbrille auf der Nase, weil er damit so cool aussah. Er fächelte sich mit dem Hut und holte tief Luft, um Flake von seinen Abenteuern zu berichten. Gespannt sah sie ihn an. »Tja«, legte er los. »Irgendwie hab ich Jessica verloren, bin dann dem Bourbon Kid begegnet und hab Bekanntschaft mit ein paar Leichen geschlossen. Das Übliche halt.«

Flake war beeindruckt. »Ehrlich? Wer sind denn die Toten? Und was ist jetzt mit dem Bourbon Kid?«

Sanchez lehnte sich gegen den Tresen. »Es hat ein paar Sanitäter, Polizisten und den Kerl mit dem Irokesenschnitt erwischt.«

»Oh Gott, wirklich?«

»Ja. Ich musste einen neuen Rettungswagen rufen. Danach hab ich dann Interviews gegeben. Ich bin jetzt nämlich ein Held, weißt du?«

»Wow, läuft das heute Abend in den Nachrichten?«

Sanchez zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«

»Cool! Ach übrigens, du musst noch einen Bericht für den Captain schreiben.«

»Meinst du?«

»Das gehört doch zu unseren Aufgaben.«

»Am Ende tauchte ein Kerl von der Spurensicherung auf, dem hab ich das Chaos dann überlassen. Bestimmt schreibt der den Bericht. Falls Captain Harker auch einen von mir will, kann ich das immer noch machen. Aber eigentlich ist der Fall klar. Der Bourbon Kid hat die Leute ermordet und ist durchs Fenster getürmt, als ich kam. Ich glaube, er hatte Schiss vor mir.«

»Wow!« Flake machte große Augen. »Da hattest du ja einen irren Tag!«

»Ach, das ist doch nichts Besonderes«, wehrte Sanchez ab.

Flake legte ein schmales Lesezeichen aus schwarzem Leder in ihr Buch und klappte es zu, um sich voll auf Sanchez zu konzentrieren. »Und was ist mit Jessica? Wieso ist sie einfach verschwunden?«

»Sie war vor mir hochgegangen. Wahrscheinlich hat sie den Bourbon Kid bemerkt und ist abgehauen, falls er wieder versucht hätte, sie zu ermorden.«

»Meinst du, sie ist okay?«

»Ich denke mal, sie ist wieder zu Hause in der Casa de Ville.«

»Aber dort willst du doch heute Abend wohl nicht mehr vorbeifahren, oder? Der Bourbon Kid rennt schließlich noch frei rum. Und dann sind da noch die ganzen Vampire!«

Sanchez schüttelte den Kopf. »Nein, heute Abend nicht mehr. Erst muss ich ihr das Buch des Todes wieder beschaffen. Wird sie bestimmt aufheitern, wenn ich es ihr morgen bringe.«

Flake machte ein zweifelndes Gesicht. »Meinst du denn, dass du es wiederfindest?«

»Heute Morgen hatte ich es noch.«

Flake lachte. »Blöder Scherz.«

»Nein, im Ernst! Ich hatte es mir aus der Bibliothek ausgeliehen.« Er unterbrach sich und schaute über seine Schulter, ob sie allein waren. »Ohne jemandem Bescheid zu sagen, dass ich es mitnehme.«

»Oh Gott!«, rief Flake. »Dann hast du es also geklaut!«

»Pst!« Sanchez schaute sich wieder um. »Ich habe es Rick gegeben, damit er es wieder zurückbringt. Als ich bei euch im Café war heute Morgen.«

»Aber warum denn Rick?«

»Damit ich mich nicht von diesem Miststück Ulrika fertigmachen lassen muss natürlich. Was denkst du denn?«

»Ah, ja, klar.«

Flake holte tief Luft und sah aus wie ein Mechaniker, der dem Kunden mitteilen muss, dass er neue Bremsen braucht. »Ehrlich gesagt würde ich mich mit dem Buch nicht blicken lassen.«

»Wie meinst du das?«

Sie zeigte auf das Hardcover vor ihr auf dem Tresen. »Da drin steht was über das Buch des Todes

»Ach echt? Und was?«

Sie schlug das Buch auf und blätterte. »Hier steht, dass es sich dabei um ein altes ägyptisches Buch handelt, in dem man die Namen der Toten aufgelistet hat.« Sie suchte noch immer die entsprechende Seite. »Und dass es in Ägypten einen Herrscher gab, der ein Schwarzmagier war. Offenbar hat er einen Weg gefunden, wie man die Namen da reinschreibt, bevor die Leute tatsächlich gestorben sind.«

Sanchez stellte sich neben Flake und schaute ihr über die Schulter. »Wie hat er das denn geschafft?«

Flake blätterte weiter, bis sie die Stelle endlich gefunden hatte. »Sieh mal.« Sie zeigte auf einen der Absätze. »Hier steht, dass er den Namen seiner Feinde im Buch des Todes notiert hat. Auf denen lag dann ein Fluch, und sie sind an dem Tag gestorben, unter dessen Datum ihr Name im Buch eingetragen war.«

Sanchez kratzte sich am Kinn und überlegte. »Das Buch des Todes, das ich Rick gegeben hab, war voller Namen, und oben auf jeder Seite stand ein Datum, aber das waren römische Zahlen, deshalb konnte ich die nicht wirklich entziffern.«

Flake schüttelte den Kopf. »Findest du nicht auch, dass man so ein Buch eigentlich zerstören muss?«

»Weiß nicht«, sagte Sanchez. Er zeigte auf das Buch auf dem Tresen. »Was genau liest du da überhaupt?«

»Das Buch, mit dem wir die Bibliothekarin erledigt haben.«

»Wie heißt das nochmal?«

»Es hat keinen Namen oder Titel.«

Sanchez trat vom Tisch zurück. »Oh mein Gott! Das Buch ohne Namen?«

»Ja.«

»Scheiße! Das hast du mir nicht gesagt!«

»Warum? Was ist denn mit dem Buch?«

»Das Buch ist vor einiger Zeit mal in den Nachrichten erwähnt worden. Jeder, der es gelesen hat, ist gestorben. Die Bullen haben nie rausgefunden, wieso. Ich hab gestern in der Bibliothek gerade nach einer Ausgabe dieses Buchs gesucht, als ich das Buch des Todes entdeckt hab.«

»Ich hab bestimmt schon hundert Seiten gelesen«, stellte Flake erschrocken fest. »Muss ich jetzt sterben?«

»Kann sein. Ich weiß es nicht.«

»Merkwürdig, oder?«

»Was denn?«

»Damit hätten wir dann schon zwei Bücher, die den Tod bringen.«

Sanchez überlegte ein paar Sekunden. »Sieht so aus«, stimmte er schließlich zu.

»Welches von beiden ist wohl schlimmer?«

»Ich würde mal sagen, die sind alle beide ziemlich schlimm.«

Flake verzog das Gesicht. Sie schien sich wirklich Sorgen um Leib und Leben zu machen. »Na ja«, sagte sie dann schließlich. »Ich bin schon froh, dass ich nur die ersten hundert Seiten im Buch ohne Namen gelesen habe – und dass mein Name nicht im Buch des Todes steht.«

Sanchez nahm nun doch die Sonnenbrille ab, damit er das Buch ohne Namen besser erkennen konnte. »Hast du Captain Harker das alles schon erzählt?«

»Nein, er ist unheimlich beschäftigt mit irgendeinem Kindermörder. Er war den ganzen Tag immer wieder in den Nachrichten deswegen.«

»Kindermörder sagst du?«

»Ja, irgendein Irrer hat eine Menge Kinder vergiftet und sie dann ausbluten lassen.«

»Bestimmt einer von diesen beschissenen Vampiren.«

Flake nickte. »Ja, Harker glaubt, es könnte sich um Hunderte von Opfern handeln. Die meisten waren wohl Waisen.«

»Tja, da haben wir ja Glück, dass wir schon erwachsen sind.« Sanchez versuchte, diesen verstörenden Neuigkeiten etwas Positives abzugewinnen.

»Ist das nicht alles furchtbar?«

»Absolut. Stell dir nur mal vor, was passiert, wenn der keine Kinder mehr zum Ausbluten findet. Nimmt er sich dann Erwachsene vor? Gar nicht auszudenken!«

Flake runzelte die Stirn. »Hoffentlich gerät er dann an uns beide. Wir haben ja schließlich dieses Buch, mit dem man Vampire unschädlich machen kann.«

»Ja, gut dass du daran gedacht hast!«, rief Sanchez. Für eine Kellnerin hatte Flake manchmal wirklich erstaunlich helle Momente. Er schaute auf seine Uhr. »Die Bibliothek ist jetzt schon dicht. Dann gehe ich morgen hin und bringe ein anderes Buch zurück, das ich auch ausgeliehen habe. Dabei kann ich dann das Buch des Todes suchen, ohne weiter aufzufallen.«

»Ich begleite dich«, erbot sich Flake.

»Nee, lass mal, schon okay.«

»Komm doch vorher ins Olé Au Lait. Dann frühstücken wir noch zusammen«, schlug Flake vor.

Während er über ihr Angebot nachdachte, setzte Sanchez seinen Stetson wieder auf. Offenbar wollte Flake unbedingt was von der Belohnung abhaben, die Jessica für das Buch des Todes ausgesetzt hatte. Schnell schob er sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase, damit Flake ihm nicht ansah, dass er log.

»Ja, okay, wir sehen uns morgen früh um neun im Café.«

»Super!« Flake strahlte und plapperte noch irgendwas vor sich hin, als Sanchez schon auf dem Weg nach draußen war. Er hatte nicht die geringste Absicht, im Olé Au Lait zu frühstücken. Als Erstes würde er am nächsten Morgen in die Bibliothek gehen.