ZWANZIG

Das Blut rann langsam über den Holzfußboden und genau auf Sanchez zu. Er schaute hinüber zu dem Toten mit dem pinkfarbenen Irokesenschnitt im Flur. Sein Hals war vollkommen zerfetzt, und unter seinem Hemd lief Blut heraus. Aber im Vergleich zu der Frau drinnen in der Wohnung hatte er einen schönen Tod gehabt. Sanchez schätzte sie auf Anfang dreißig. Allerdings war ihr Gesicht so entstellt, dass man das nur noch sehr schwer sagen konnte. Man hatte ihr die Augen ausgekratzt, und das ganze Gesicht war voller Blut. Ihr Kinn ist ziemlich groß, dachte Sanchez. Eine vollkommen nebensächliche Beobachtung. Über das Kinn jedenfalls lief das Blut, was auch daran lag, dass man der Frau die Zunge herausgerissen hatte. Aber sie war nicht das einzige Opfer. Es gab noch zwei andere Leichen hier, die sich beide in einem ähnlichen Zustand befanden. Vom Mörder fehlte jede Spur, von Jessica ebenfalls.

Die Bluse der Toten war aufgerissen und ihre Brust voller hässlicher Bisswunden. Sanchez war der Meinung, dass einer ihrer Nippel auf dem Boden neben seinen Füßen lag. Als er die Bluse näher inspizierte, sah er, dass sie die Aufschrift RETTUNGSDIENST trug. Daneben befand sich das Logo des städtischen Krankenhauses. Offenbar waren die Toten die Sanitäter aus dem Rettungswagen, der unten parkte, wie Sanchez in seiner neuen Eigenschaft als Polizist messerscharf kombinierte.

Die beiden anderen Leichen sahen ebenfalls nicht besonders friedlich aus. Eine von ihnen, ein Mann, der ebenfalls die weiße Sanitäter-Uniform trug, kniete auf allen vieren und steckte mit dem Kopf im Fernseher. Die andere Leiche, ein schwarzer Sanitäter, lag wie gekreuzigt mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken und starrte an die Decke. Okay, der Tote hätte jedenfalls gestarrt, wenn seine Augen noch da gewesen wären. Jemand hatte sie ihm ausgekratzt, und jetzt waren nur noch zwei dunkle Löcher übrig. Seine Uniform war genauso blutgetränkt wie die seiner Kollegin, über die Sanchez nun hinwegstieg.

Wenig überraschend stank es in der Wohnung. Mindestens eine der Leichen hatte sich in die Hose geschissen. Am liebsten hätte Sanchez großzügig Raumspray mit Tannenduft in den Räumen verteilt. Abgesehen vom Gestank war es außerdem auch noch eiskalt hier.

Das lag an dem offen stehenden Fenster, durch das der Wind hereinblies und den Vorhang aufbauschte.

»Welcher Idiot lässt denn bei dem Wetter das Fenster offen?«, überlegte Sanchez laut und umklammerte seinen Schlagstock fester.

Dann entdeckte er hinter dem Sofa zwei weitere Leichen, beide trugen blaue Polizeiuniformen.

Was zur Hölle?

Nirgendwo waren Einschusslöcher zu erkennen. Die Morde erinnerten ihn an den Tod seines Bruders Thomas und dessen Frau Audrey. Vor einem Jahr hatte er ihre Leichen gefunden, die damals genauso schlimm zugerichtet gewesen waren. Die beiden Bullen waren in Blut getränkt, die Augen fehlten, die Zungen waren zumindest nicht zu erkennen. Was zur Hölle war hier passiert? Er beugte sich über einen der Polizisten, um ihn sich genauer anzusehen. Der Mann war über vierzig, übergewichtig und hatte schon graue Haare. Im Holster an seiner Seite steckte eine Pistole. Sanchez steckte seinen Schlagstock weg und nahm sich dann ganz vorsichtig die Waffe. Sie hatte fast kein Blut abbekommen, jedenfalls am Griff nicht. Falls sich in der Nähe ein Killer versteckte, musste Sanchez sich verteidigen können. Oder zumindest anlegen und so aussehen, als meinte er es ernst. Er war zwar nicht gerade als Meisterschütze bekannt, aber es war besser, eine Pistole zu haben, als keine. Auch wenn sie nur Show war.

Während er sich noch nach anderen Sachen umsah, mit denen er sich verteidigen konnte, entdeckte er bei einem der Polizisten ein Funkgerät am Gürtel. Man hatte Sanchez noch keines gegeben, und weil sein toter Kollege es bestimmt nicht mehr brauchte, nahm er es an sich. Dann befestigte er es neben dem Schlagstock an seinem eigenen Gürtel.

»Jessica?«, rief er. »Jessica? Bist du hier irgendwo? Hallo? Ist hier überhaupt jemand?«

Doch außer den Vorhängen, die im Wind flatterten, rührte sich absolut nichts. Rechts von Sanchez befand sich der Kochbereich, und in einer Ecke eine weitere Tür zum Flur. Mit gezückter Waffe ging Sanchez los, um die Wohnung weiter zu durchsuchen. Vielleicht warteten hinter der Tür noch mehr Leichen oder gar Schlimmeres. Möglicherweise versteckte der Killer sich im Schlafzimmer. Andererseits konnte es auch sein, dass Jessica sich noch in der Wohnung befand. Wenn das auch nicht sehr wahrscheinlich sein mochte. Trotzdem, es war auf jeden Fall einen Blick ins Schlafzimmer wert. Außerdem – wo steckte eigentlich Beth Lansbury? Vielleicht hatte sie ja diese ganzen Leute umgebracht? Wäre schließlich kein Wunder bei so einer Psychopathin. Außerdem war das hier immerhin ihre Wohnung.

Sanchez betrat den Flur. Links entdeckte er noch eine weitere Tür. Das Bad? Er streckte die Hand nach der Klinke aus und hob die Waffe. Die Tür quietschte, als sie sich nach innen öffnete, und gab den Blick auf eine weiße Toilette frei. Sanchez, das große Ermittlergenie, schloss daraus, dass es sich tatsächlich um das Bad handelte. Hier gab es nicht das geringste Anzeichen für Gewalt. Er schaute vorsichtshalber noch einmal hinter die Tür, doch auch dort versteckte sich niemand.

Sanchez schlich nun auf Zehenspitzen zur Tür am Ende des Flurs. Sein Herz klopfte, und sein Atem ging stoßweise. Voller Angst vor dem, was ihn dahinter erwarten würde, holte er tief Luft und drückte die Klinke herunter. Er stieß die Tür auf und sprang zurück. Jetzt hatte er den Blick auf die gegenüberliegende, blau gestrichene Zimmerwand hinter dem Bett frei. Sanchez machte einen Schritt ins Zimmer hinein und spähte hinter die Tür. Es gab absolut nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Das Bett war ordentlich gemacht, ansonsten befanden sich noch eine Kommode und ein Einbauschrank im Schlafzimmer. Mehr nicht. Hier schien sich nichts abgespielt zu haben, das Blutbad hatte allein im Hausflur und im Wohnzimmer stattgefunden. Mit einem Seufzer der Erleichterung steckte er die Pistole hinten in seinen Hosenbund, ging aus dem Zimmer und verschloss die Tür wieder.

Es sah aus, als wäre der Killer geflohen. Vielleicht, weil er gesehen hatte, wie Sanchez kam. Jedenfalls war er jetzt allein in der Wohnung. Am besten forderte er Verstärkung an. Sanchez zog das Funkgerät vom Gürtel und setzte einen Ruf ab.

»Hier spricht Detective Sanchez Garcia. Bitte um Verstärkung. Ich befinde mich im dritten Stock des Remington Tower in der 54. Straße und habe hier ein paar noch nicht identifizierte Leichen gefunden. Überall klebt Blut. Ich glaube, dass die Morde gerade erst passiert sind und sich der Killer noch immer in der Nähe aufhalten könnte. Bitte schicken Sie Verstärkung oder ich verpiss mich.« Weil er sicher war, dass niemand auftauchen würde, wenn er die Motivation dafür nicht etwas erhöhte, fügte er hinzu: »Ich habe auch Donuts hier.«

Aber nun die wichtigen Dinge zuerst. Nachdem der Adrenalinstoß nach dem Anblick der Leichen nun langsam abebbte, musste er erst mal dringend pinkeln.

Sanchez ging zurück ins Bad und klappte den Toilettensitz hoch. Dann klemmte er das Funkgerät wieder an seinen Gürtel und öffnete den Hosenschlitz. Es ging doch nichts über einen kräftigen Strahl, um sich zu entspannen. Seufzend genoss er das Gefühl der Erleichterung und überlegte dabei, was wohl aus Jessica geworden sein mochte. War sie durch das offene Fenster im Wohnzimmer geflohen? Durchaus möglich. Die Frau war schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Oh Gott, hing sie vielleicht am Fenstersims und wartete darauf, dass er sie rettete? Verdammt, da sollte er doch besser gleich mal nachsehen!

Schnell schloss er seinen Hosenstall wieder. Als er sich dann vorbeugte, um zu spülen, rutschte ihm die Waffe aus dem Bund. Nein, sie wurde herausgezogen.

Oh scheiße, das war gar nicht gut.

Er hörte ein lautes Klicken. Jemand hatte die Pistole entsichert.

Scheiße.

Während die Toilette noch rauschte, drehte Sanchez sich langsam um. Er kannte den Mann, der jetzt mit einer Pistole auf seinen Kopf zielte. Der Mann trug Jeans, ein weißes T-Shirt und eine schwarze Lederjacke. Wenn er sonst auch anders angezogen war, wusste Sanchez sofort, wen er vor sich hatte. Es war niemand anderer als der Bourbon Kid.

Langsam hob er die Arme, um sich zu ergeben. Bisher war er jedes Mal ungeschoren aus einer Begegnung mit dem Bourbon Kid davongekommen, und er konnte nur hoffen, dass diese Glückssträhne jetzt nicht abriss. Der Kid sah gerade ernsthaft wütend aus. Wohnte er etwa hier? Falls ja, betete Sanchez im Stillen, dass er die kleinen Pissflecken vor der Toilette nicht bemerkte. Da hatte er eben nämlich nicht richtig gezielt. Einmal Fingerkrümmen, und Sanchez würde sich von dieser Welt verabschieden.

»Wo ist Beth?«, fragte der Kid. »Was zum Teufel ist hier passiert?« Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er Sanchez von oben bis unten. »Und wieso steckst du in dieser beschissenen Polizeiuniform?«

Diese Fragen verwirrten Sanchez. Ganz offensichtlich hatte der Bourbon Kid auch keine Ahnung, was hier geschehen war. Aber er war doch wohl der Mörder, oder etwa nicht?

»Warum fragst du mich das?«, entgegnete Sanchez. »Ich meine, du hast die Leute hier schließlich umgebracht! Und Jessica auch. Was hast du mit ihr gemacht?«

Jetzt war der Kid verwirrt. »Was?«

»Jessica! Wo ist sie? Sie ist vor mir hier raufgegangen, aber als ich ankam, war sie weg, und es lagen lauter Leichen rum. Was hast du mit ihr gemacht? Und wieso versuchst du immer wieder, sie umzubringen?«

Der Kid ließ die Waffe sinken. »Jessica war hier?«

»Ja. Hast du sie nicht gesehen?«

»Die hab ich letztes Jahr während der Sonnenfinsternis getötet.«

»Nein«, widersprach Sanchez. »Ich habe sie wieder gesund gepflegt, nachdem du auf sie geschossen hattest. Ihr geht es wieder gut. Oder zumindest ging es ihr gut, bis sie hier heraufgekommen ist. Jetzt ist sie verschwunden. Dabei muss sie eigentlich noch irgendwo hier stecken.«

Der Kid hob die Waffe wieder und zielte auf Sanchez’ Nase. »Wo zum Teufel ist Beth?«

»Psycho-Beth?«

»Wer?«

»Beth Lansbury.«

»Ja, Beth Lansbury. Wo steckt sie?«

Sanchez zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Die war nicht hier, als ich angekommen bin.«

Der Kid ließ ihn stehen und ging ins Schlafzimmer.

»Da ist niemand«, rief Sanchez ihm hinterher. »Ich habe grad nachgesehen.«

Er hörte, wie der Kid die Schlafzimmertür öffnete, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Sanchez steckte den Kopf aus dem Bad und spähte um die Ecke, weil er sehen wollte, was der Kid genau machte. Eine Sekunde später kam der Kid wieder aus dem Schlafzimmer und stürmte über den Korridor auf ihn zu. Sanchez flüchtete zurück ins Bad. Der Kid raste an ihm vorbei und lief ins Wohnzimmer. Glücklicherweise schien er zumindest nicht zwingend vorzuhaben, Sanchez sofort und auf der Stelle zu erschießen. Außerdem hatte er offenbar wirklich keine Ahnung, was mit Jessica passiert war. Sanchez vermutete, dass sie wahrscheinlich aus dem Fenster geklettert war, als sie den Kid bemerkt hatte.

Vorsichtig schlich Sanchez sich zurück ins Wohnzimmer. Der Bourbon Kid stand am Fenster und starrte auf die schneebedeckte Straße darunter. Dann drehte er sich um und blickte Sanchez an.

»Hast du das Fenster aufgemacht?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Sanchez und hob erneut die Hände. »Das war schon offen, als ich ankam. Ist da draußen irgendwas zu sehen?«

»Nur ein paar Fußabdrücke im Schnee.«

»Dann ist Jessica dir wohl wieder entwischt.«

Der Kid schüttelte den Kopf. »Nur hat sie diesmal Beth mitgenommen.«

»Sind alle beide geflohen, was?«

Der Kid zeigte auf die im Zimmer verteilten Leichen. »Was glaubst du wohl, wer die Penner alle umgebracht hat?«

Sanchez überlegte, ob das eine Fangfrage sein sollte. »Na du, vermute ich«, sagte er schließlich.

»Wie beschissen dämlich bist du eigentlich? Die gehen auf Jessicas Konto.«

»Das ist doch lächerlich!«

»Nein, ist es nicht.«

»Ja, nee, schon klar!«

Der Kid schaute wieder aus dem Fenster, holte sein Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer. Das war die Gelegenheit, auf die Sanchez gewartet hatte. Bestimmt hatte der andere der beiden toten Polizisten auch eine Waffe dabeigehabt. Während der Kid weiter abgelenkt war, kroch Sanchez hinüber zu seinem toten Kollegen und wollte sich dessen Waffe holen. Ein Donnergrollen wie ein Paukenschlag ließ ihn hochfahren. Es folgte ein Blitz, dann peitschte Hagel gegen die Feuerleiter vor dem Fenster. Den Kid beeindruckte das alles nicht, er starrte mit dem Handy am Ohr weiter ungerührt aus dem Fenster.

Sanchez griff nach der Pistole im Holster des Polizisten. Sie ließ sich ganz leicht herausziehen. Das war seine Chance. Er bekam Herzklopfen, und seine Hände zitterten. Würde er es wirklich wagen, dem Bourbon Kid in den Rücken zu schießen? Um Jessica ein für alle Mal vor ihm zu retten? Sanchez holte tief Luft, hob die Waffe und zielte auf den Nacken des Kid. Doch bevor er abdrücken konnte, klingelte irgendwo im Zimmer ein Handy.

Der Bourbon Kid flog herum, um zu sehen, woher das Klingeln kam. Sanchez ignorierte er komplett und marschierte einfach an ihm vorbei. Neben dem Sofa auf dem Boden fand der Kid, was er gesucht hatte, und hob das Handy auf. Dass Sanchez eine Pistole hatte, schien ihm immer noch nicht aufzufallen. Der dickliche Neu-Polizist zielte wieder auf den Rücken des Kid und bereitete sich innerlich darauf vor, gleich abzudrücken. Indessen studierte der Kid die SMS, die eben auf dem Handy eingegangen war. Was er da las, regte ihn ganz offensichtlich auf. Mit voller Wucht warf er das Handy gegen die Wand.

»Wirf die Knarre weg, du fetter Penner«, sagte er dann, ohne Sanchez eines Blickes zu würdigen.

Sanchez ließ die Waffe sinken, behielt sie aber in der Hand. »Wessen Handy ist das?«, fragte er dann.

»Das von Beth. Sie ist verschwunden, verdammt!« Der Kid drehte sich zu Sanchez um, und sein Gesichtsausdruck verriet seine Verzweiflung. »Bevor du das nächste Mal jemanden gesund pflegst, solltest du erst mal nachsehen, ob dein Patient vielleicht ein Vampir ist, du dämlicher Idiot!«

»Hä?«

»Gib mir die Pistole.«

Sanchez übergab brav die Waffe, und der Kid schaute nach, ob sie geladen war. Tatsächlich war die Trommel voller Patronen. »Wo wohnt Jessica?«, wollte er von Sanchez wissen.

Sanchez zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Der Kid richtete die Waffe auf Sanchez’ Kopf.

»Sie wohnt in der Cinnamon Street.«

»Letzte Chance.«

»Casa de Ville. Sie meinte, sie wohnt in der Casa de Ville.«

Der Kid rammte Sanchez den Pistolenlauf mit einer solchen Wucht gegen die Brust, dass er gegen die Wand fiel. Dann lief der Kid zum Fenster und kletterte hinaus.

»Wo willst du hin?«, rief Sanchez ihm hinterher.

»Denk mal scharf nach!«

Der Kid verschwand aus Sanchez’ Blick. Mit einem erleichterten Seufzen betrachtete Sanchez die Leichen im Wohnzimmer. Dieses Blutbad konnte unmöglich Jessica angerichtet haben. Und ein Vampir war sie auch nicht, ganz egal was der Bourbon Kid behauptete. Laut Bericht sollte ein Mann Silvinho umgebracht haben – bestimmt war der Kid also auch für die anderen Morde verantwortlich. Und jetzt sollte Jessica sein nächstes Opfer werden.

Sanchez musste sie warnen. Und er würde ihr das Buch des Todes zurückbringen.