ZWEIUNDVIERZIG

Vom Kontrollraum im Ostturm der Casa De Ville starrte Bull aus dem langen schmalen Fenster hinaus auf den Burgplatz unter ihm. Zwar schneite es nicht mehr so stark, aber die Scheibe war beschlagen, was seine Sicht trübte. Obwohl es in der Dunkelheit und dem noch immer leichten Schneetreiben schwer war, viel zu erkennen, war er doch beeindruckt, wie perfekt die Vampire und Werwölfe sich in den Büschen verbargen. In der Dunkelheit waren diese Kreaturen wie Chamäleons. Manchmal glaubte Bull, ganz kurz eine Bewegung wahrzunehmen. Doch gleich darauf war wieder alles ruhig, als wüssten die Untoten, dass er sie beobachtete. Leider konnte auch der Bourbon Kid meisterlich mit der Dunkelheit verschmelzen. Dabei passte er sich seiner Umgebung genauso geschickt an wie diese Nachtwesen.

Auf dem Sofa hinter Bull kam Beth nach Razors Schlag gegen ihre Schläfe gerade wieder zu sich. Mit der hühnereigroßen Beule an ihrer Stirn wirkte sie auf einmal gar nicht mehr so aufgekratzt. Neben ihr saß Razor. Er hatte seinen Arm auf die Rückenlehne gelegt und war bereit, sofort einzuschreiten, falls Beth sich ohne Erlaubnis vom Fleck rührte.

Tex saß noch immer am anderen Ende des Zimmers vor den Monitoren, die er konzentriert überwachte, falls sich irgendwo ein Eindringling bemerkbar machen sollte. Die Sicherheitskameras sendeten zuverlässige Bilder vom gesamten Grundstück. So war es praktisch unmöglich, unbemerkt in die Casa einzudringen.

Bull schaute aus dem Fenster und sah, dass sich ein Strahl bläulichen Lichts einen Weg durch die Wolken gesucht hatte. Endlich war der Mond aufgegangen. Das war das Signal. Die Nacht war angebrochen. Und das bedeutete in Santa Mondega in der Regel ein neues Blutbad.

Kurz darauf hörte es ganz auf zu schneien, und man hatte eine bessere Aussicht auf den Burghof. Doch Bull kam nicht dazu, sie ausnutzen, weil Tex nach ihm rief. »Boss, ich hab hier was für Sie.«

»Was denn?«

»Eine Nachricht von Jessica.« Tex las an einem der Bildschirme eine E-Mail. »Der Bourbon Kid soll auf dem Weg hierher sein. Eine ihrer Quellen meldet, dass er vom Devil’s Graveyard zurückgekehrt ist.«

»Devil’s Graveyard?«

»Ja. Schon mal gehört?«

»Kenne ich nur aus irgendwelchen alten Legenden aus der Gegend hier. Angeblich fahren die Leute dorthin, wenn sie einen Pakt mit dem Teufel schließen wollen. Also Seele gegen Unsterblichkeit und so ein Kram, du weißt schon.«

»Meinen Sie, er war deshalb da?«

Bull zuckte mit den Schultern. »Ist mir scheißegal. Da unten erwartet ihn eine ganze Armee von Untoten. Sonst noch was?«

»Ja, es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten«, erklärte Tex.

»Was denn?«

»Es hat aufgehört zu schneien

»Das habe ich gemerkt.«

»Tja, dadurch sieht man viel besser«, sagte Tex. »Wie ist denn die Aussicht aus dem Fenster?«

»Könnte besser sein. Aber ich kann fast bis zum Tor sehen.«

»Er wird es doch nicht durch das Haupttor versuchen, oder?«

Bull starrte wieder aus dem Fenster in den Burghof unter ihm. »Genau das wird er tun, davon bin ich überzeugt.«

»Aber das wäre doch ziemlich dumm, oder?«, fragte Tex. »Er müsste doch eigentlich schlauer sein.«

»Der ist schlau«, bestätigte Bull. »Allerdings ist er auch störrisch und ein großer Angeber – er wartet nur darauf, sich einer Armee offen in den Weg zu stellen. Pass also ja weiter auf die Monitore auf. Ich beobachte weiter den Burghof.«

Tex starrte auf den Monitor, der das Tor zeigte. »Am Tor passiert absolut gar nichts, Boss«, sagte. »Da stehen die beiden Pandas, und einer von ihnen raucht eine Zigarette.«

»Rauchen? Kein Wunder, dass die Pandas eine bedrohte Art sind«, sagte Bull.

Tex aber lachte nicht. Stattdessen schrie er los: »Oh Scheiße! Einer von den beiden ist umgekippt!«

Bull flog herum. »Was? Wo?«, bellte er.

Tex deutete auf den Monitor, der das Tor zeigte. »Einer der Pandas ist tot … Nein, warten Sie.« Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu begreifen, was er da sah. »Jetzt haben wir zwei tote Pandas. Beide Wachen am Tor liegen am Boden.«

Bull spähte aus dem Fenster hinüber zum Tor. Es war schwer, von hier aus wirklich etwas zu erkennen. »Was zum Teufel ist mit ihnen passiert?«

»Die sind tot, Sir.«

»Dann geht der Tanz also los. Er ist da.«

Tex starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm und hoffte, vielleicht doch noch einen besseren Blick auf das zu bekommen, was gerade am Tor vor sich ging. »Der eine hat seinen Kopf verloren«, berichtete er. »Der andere sieht aus, als hätte ihn jemand der Länge nach durchgeschnitten.«

»Wie – durchgeschnitten? Was meinst du?«

»Na, in zwei Hälften. Genau in der Mitte. Wie eine Scheibe Brot.«

»Scheiße!«

»Ja, das hat bestimmt wehgetan.«

Obwohl Bull vom Fenster aus nicht überprüfen konnte, was Tex ihm erzählte, glaubte er ihm jedes Wort. Jetzt hieß es, schnell zu reagieren. »Okay, Tex, stell die mittleren Suchscheinwerfer an. Ich muss sehen können, womit wir es zu tun haben.«

Tex führte den Befehl sofort aus. Er legte einen Schalter an der Konsole unter den Monitoren um, und plötzlich wurde es im Burghof draußen hell. Tex konnte die Scheinwerfer von seinem Platz aus mit den Fingerspitzen an kleinen Kontrollhebeln dirigieren. Er richtete die Scheinwerfer auf das Tor und folgte dem sich bewegenden Lichtkegel mit den Augen, der im Durchmesser bestimmt sechs Meter breit war. Darin wurden die Umrisse einiger versteckter Vampire und Werwölfe sichtbar, während er das Grundstück auf der Suche nach dem Mörder der beiden Wachen am Tor ausleuchtete.

Plötzlich schrien Bull und Tex gleichzeitig: »Da ist er!«

Tex hatte den Scheinwerfer jetzt direkt auf den Mann gerichtet, der ganz in Schwarz gekleidet mitten in der Auffahrt stand. Er trug einen langen dunklen Mantel mit einer Kapuze, die er sich in die Stirn gezogen hatte. Tex hatte ihn auf dem Monitor entdeckt, Bull im gleichen Moment beim Blick aus dem Fenster.

Hinter ihnen meldete sich jetzt auch Razor. »Der Bourbon Kid?«

Bull nickte. »Wer sonst soll das wohl sein? Pass du auf unsere Kleine auf«, befahl er Razor. »Ihretwegen ist er hier.«

Unten stand der Bourbon Kid im Licht des Scheinwerfers und rührte sich nicht. Das Tor und die beiden Leichen der Pandas befanden sich nur wenige Meter hinter ihm. Während Bull kurz seine Aufmerksamkeit auf die beiden Toten in ihren Blutlachen richtete, bemerkte er, dass sich hinter ihnen noch etwas bewegte. »Das Haupttor«, murmelte Bull vor sich hin und überlegte, was das alles zu bedeuten hatte. »Das Haupttor öffnet sich! Was zum Teufel macht er da?«

Auch Tex war verwirrt. »Ich versteh das nicht, warum macht er das Haupttor auf, wenn er schon auf dem Anwesen ist?«

»Vielleicht will er fliehen, weil wir ihn entdeckt haben?«, mutmaßte Razor.

Bull schüttelte den Kopf. »Nicht ohne das Mädchen. Was zum Teufel spielt er für ein Spiel?«

»Soll ich Sirenenalarm geben?«, fragte Tex.

»Ja, sobald der losgeht, überwältigen die Vampire ihn ganz schnell.« Bull drehte sich zu Beth um. »Willst du herkommen und zusehen? Dein Freund hat noch gute zehn Sekunden, bis er den Löffel abgibt.«

Beth schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich kann den Monitor von hier aus gut erkennen.«

Tex drückte auf einen Knopf, und schon gingen draußen im Burghof die Sirenen los. Beth konnte beobachten, wie Horden von Vampiren und Werwölfen sich in Bewegung setzten. Sie krochen aus ihren Verstecken hinter Büschen und Bäumen auf den Burgplatz. Und es waren viele. Verdammt viele. Langsam näherten sie sich dem Bourbon Kid.

»Okay, jetzt alle Scheinwerfer an«, bellte Bull.

Tex legte ein paar Schalter um, und sofort war der gesamte Burgplatz gleißend hell erleuchtet. Tausende von Vampiren und Werwölfen bewegten sich auf den Bourbon Kid zu, der jetzt keinen Spot mehr für sich ganz allein hatte. Noch immer stand er regungslos da und stellte sich der Armee der Untoten.

»Macht euch bereit«, sagte Bull. »Es kann nur noch Sekunden dauern, bis er irgendwas macht.«

»Was denn?«, fragte Razor.

»Keine Ahnung, bereitet euch trotzdem darauf vor, weil die Vampire ihn dann in Stücke reißen werden.«

Immer näher und näher kamen die Untoten dem Kid. Natürlich musste er sie bemerkt haben, aber er reagierte in keiner Weise. Die gesamte Armee der Untoten stand nun aufgereiht auf dem Burgplatz und wartete darauf, dass der Kid den Erstschlag ausführte oder aber Bull ihnen das Zeichen zum Angriff gab.

»Wir haben da unten ungefähr dreitausend Leute«, sagte Bull hämisch. »Nicht gerade das, was man einen fairen Kampf nennt.«

Beth starrte mit einem leisen Lächeln auf die Monitore. »Da haben Sie recht. Gegen ihn bräuchten Sie viel mehr Leute, wenn es ein fairer Kampf sein soll.«

Bull ignorierte sie und blickte aus dem Fenster.

Plötzlich brüllte Tex: »Granaten!«

Einer der Bildschirme zeigte eine große Rauchwolke, die aus dem Boden rund um den Kid aufstieg und ihn kurz darauf vollkommen einhüllte, sodass man ihn nicht mehr sehen konnte.

»Scheiße!«, brüllte Bull. »Das sind Rauchbomben!«

Beth schaute gespannt auf den Bildschirm und verfolgte, wie es mit JD nun weiterging. Die Armee der Untoten formierte sich in einem Halbkreis um die Rauchwolke.

»Was macht er jetzt?«, fragte Bull verwirrt. »Warum schießt er nicht oder so was? Worauf zum Teufel wartet er noch?«

»Haben Sie es immer noch nicht kapiert?«, fragte Beth verachtungsvoll.

Bull flog herum, alle anderen starrten gebannt zu den Monitoren auf der linken Seite. Sie zeigten die enorme Rauchwolke, in der der Kid noch immer stecken musste.

»Er ist doch noch da, oder?«, fragte Bull.

»Ja«, erwiderte Tex und kniff die Augen zusammen.

Beth räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu lenken. »Sie schauen alle auf den falschen Monitor.«

Bull sah sie an, und sein Zorn spiegelte sich in seiner Miene wider. »Was?«

Beth zeigte auf den rechten Monitor. »Sie müssen auf den da achten.«

Ihre drei Bewacher blickten nun zum anderen Monitor, auf dem man das Gelände direkt vor dem Haupttor beobachten konnte. Diesen Monitor hatten sie vergessen, seit der Bourbon Kid im Burghof gesichtet worden war.

»Was zum Teufel ist das?«, fragte Tex. Von seinem Platz aus hatte man den besten Blick auf den Bildschirm, der das Haupttor zeigte. Bull rannte zu seinem Untergebenen hinüber, und Razor sprang vom Sofa auf, um sich zu den beiden anderen Männern zu stellen. Hinter dem Tor bewegte sich etwas Riesenhaftes. Tatsächlich war es nicht nur eine Bewegung, nein, es waren unglaublich viele. Aus dem Wald auf der anderen Straßenseite kam eine große dunkle Flutwelle auf die Casa De Ville zugerollt. Geschockt verfolgten die drei Männer, was sich auf dem Bildschirm abspielte.

Dann begriffen sie es. Bull sprach aus, was sie alle dachten: »Grundgütiger, steh uns bei.«