♦ FÜNFUNDZWANZIG
Rick hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Weil Flake sich zum Polizeidienst gemeldet hatte, war das Café geschlossen gewesen. Rick hatte den Tag damit verbracht, nach einem Ersatz für sie zu suchen, und keine fünf Minuten für sich allein gehabt. Wegen irgendeiner beschissenen Verordnung der Stadt konnte er absolut nichts dagegen tun, dass Flake bei einem Notstand zur Polizei ging.
Nachdem er alles Wichtige erledigt hatte, verließ er das Olé Au Lait und trat hinaus auf die verschneite Straße.
Der Himmel über der Stadt war noch immer wolkenverhangen, und es wurde und wurde nicht heller. Der Sturzregen und das Gewitter in der Nacht zuvor hatten Rick nichts ausgemacht, aber dieser ununterbrochene Schneefall war wirklich ein Albtraum. In dieser Stadt ging nicht alles mit rechten Dingen zu, so viel war mal klar. Mehrere Kinder hatten sich über einen durchgedrehten Fahrer beschwert, der sich einen Sport daraus machte, ihre Schneemänner umzufahren. Außerdem waren viele Senioren bei dem Glatteis ausgerutscht und mussten ins Krankenhaus.
Jetzt waren die Straßen menschenleer, was nicht weiter verwunderlich war – es war spät, es war dunkel, und es war verdammt gefährlich draußen. Obwohl eine Menge Vampire Halloween nicht überstanden hatten, befürchtete Rick trotzdem, dass immer noch ein paar auf Opfer lauerten. Bei dem Gedanken stellte er den Kragen seines Regenmantels auf.
Seine Wohnung lag nur eine Straßenecke vom Café entfernt. Normalerweise hätte er sich auf der kurzen Strecke keine Sorgen wegen einer möglichen Vampirattacke gemacht. Gäste von ihm, die das Café spät verließen, mussten schon eher Angst haben. Ihn, als den Besitzer des Cafés, ließ man hingegen in Ruhe. Auch Sanchez war vor den Vampiren sicher. Rick wusste warum – die Vampire waren scharf auf das Blut ihrer Kunden. Kein Olé Au Lait mehr bedeutete keine Leute, die abends noch einen Kaffee trinken gingen. Kein Tapioca, weniger betrunkene Idioten nachts auf den Straßen.
Als Rick um die Ecke bog, kam er auf einem Gullydeckel ins Rutschen, über dem sich eine dicke Eisschicht gebildet hatte. Glücklicherweise beobachtete ihn niemand, wie er fast gestürzt wäre – jedenfalls abgesehen von dem besoffenen Weihnachtsmann, der im Eingang eines Ladens auf der anderen Straßenseite lag. Sein ehemals weißer Bart war jetzt schmutzig grau und die rote Weihnachtsmannjacke voller Flecken. Wahrscheinlich hatte er sich mit dem Schnaps aus der Flasche bekleckert, die in einer braunen Papiertüte auf seinem Schoß lag.
»Armer alter Sack«, murmelte Rick. Bis zur Adventszeit dauerte es noch fast einen Monat, und vorher würden die Leute den alten Obdachlosen nicht gerade mit mildtätigen Gaben überschütten.
Als Rick vor seinem Haus ankam, war er vom Schnee durchnässt und wegen des eiskalten Winds vollkommen durchgefroren. Er ging die fünf Stufen hinunter, die zur Tür seiner Souterrainwohnung führten, und holte den Schlüsselbund aus der Tasche. Mit klammen Fingern suchte er nach dem passenden Schlüssel. Als er ihn endlich gefunden hatte, öffnete er damit die Tür. Im Flur schien es einigermaßen warm zu sein. Rick ging hinein. Ja, hier war es tatsächlich viel wärmer als draußen. Prüfend legte er die Hand auf den Heizkörper an der linken Wand. Ja, die Heizung lief. Allerdings würde er ihn bestimmt noch einmal etwas höherstellen müssen im Laufe der Nacht. Ricks Schuhe waren nass und schmutzig. Er strich sie an der braunen Fußmatte ab, auf der er stand, und wollte dann die Tür schließen. In dem Moment bemerkte er, dass er Besuch hatte. Und zwar keinen erfreulichen. Ein riesiger Kerl in Rot schob sich durch die Tür. Den Mund hatte er weit aufgerissen und die Vampirzähne entblößt.
»Scheiiiiiße!«
Eine große Hand legte sich über Ricks Mund und erstickte seinen Hilfeschrei. Rick starrte dem irren Vampir direkt in die Augen. Der Mann, der ihm eben noch wie ein bemitleidenswerter Obdachloser vorgekommen war, entpuppte sich nun als blutsaugender Killer. Und er sah aus, als hätte er einen ziemlichen Durst. Der Weihnachtsmann war kräftig und schob Rick durch den Flur, ohne die Hand von seinem Mund zu nehmen. Entsetzt entdeckte Rick Blutspuren im buschigen grauen Bart des Eindringlings.
Der Weihnachtsmann zog Rick fest an sich, legte ein Bein um seine Knie und drückte ihn auf den Boden. Mit einem Tritt nach hinten knallte er dabei die Tür zu.
»Ich bin der Besitzer vom Olé Au Lait«, stotterte Rick, in der Hoffnung, sich damit vielleicht doch noch zu retten.
»Ich weiß«, knurrte der Weihnachtsmannvampir. »Das wird dir aber nichts helfen.«
Rick musterte seinen Angreifer. Der Kerl war wirklich furchteinflößend. Was man von seinem Gesicht trotz des schmutzigen Barts erkennen konnte, war fleckig und rot. Und falls er kein Kissen unter der Jacke trug, hatte er ziemliches Übergewicht. Seine Arme waren lang und kräftig, der Kopf so groß wie ein Kürbis. Seine Weihnachtsmannmütze hatte er anscheinend in XL gekauft. Ihr Zipfel hing neben seinem Gesicht herunter.
»Bitte«, flehte Rick verzweifelt. »Ich bin wirklich ein guter Mensch, das schwöre ich.«
Der Vampir beugte sich über ihn. »Ich habe in letzter Zeit eine ganze Menge Kinder getroffen, die auch alle gute, unschuldige Menschen waren. Das hat sie nicht gerettet, und dich wird es auch nicht retten.«
Rick packte den Bart seines Widersachers, doch als er daran zog, löste der sich einfach von dessen Gesicht. Der Bart war aus Tierhaar gewebt und wurde nur von einem Gummiband hinter den Ohren festgehalten. Er roch unangenehm nach Ziege.
»Bitte«, bettelte Rick nun wieder. »Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen. Lassen Sie mich nur gehen.«
»Dann erzähl mir mal, wo das Buch des Todes steckt.«
»Das Buch des Todes?«
»Ganz genau. Du hattest es heute Morgen im Olé Au Lait. Ich habe dich damit gesehen. Wo ist es jetzt?«
Rick schluckte. »Ich habe es zurück in die Bibliothek gebracht«, sagte er schließlich.
Der Weihnachtsmann kam Ricks Gesicht ganz nahe, um zu sehen, ob er auch wirklich die Wahrheit sagte. Die Fahne dieses Ungeheuers war wirklich unerträglich, als er dann sagte: »In der Bibliothek war ich schon. Da hat man mir gesagt, dass das Buch verschwunden ist.«
»Ich habe es nicht offiziell zurückgegeben, sondern es zwischen die Referenzwerke ins Regal gestellt.«
»Warum? Warum hast du es nicht der Bibliothekarin gezeigt?«
»Weil ich es für meinen Freund Sanchez zurückgebracht hab. Er hatte es ohne Erlaubnis ausgeliehen, also musste ich es unauffällig ins Regal stellen.«
Der Weihnachtsmann verpasste Rick ein paar Ohrfeigen. »Ich glaube dir kein Wort!«, knurrte er.
»Wenn Sie wollen, gehe ich morgen früh mit Ihnen hin und zeige Ihnen, wo es steht.«
Der Weihnachtsmann setzte sich auf Ricks Brust. »Du hast doch eben behauptet, es wäre bei den Referenzwerken. Da werde ich es ja wohl auch allein finden.«
»Okay, wie Sie meinen. Aber dann ist doch zwischen uns alles klar, und Sie können mich jetzt in Ruhe lassen, oder?« Rick hoffte wirklich, dass die Sache damit ausgestanden war.
Der Weihnachtsmann griff in seine Jacke und holte eine braune Papiertüte heraus, aus der er dann einen silbernen Flachmann zog. Mit der freien Hand hielt er Rick die Nase zu und drückte seinen Kopf auf den Boden. »Mach den Mund auf«, befahl er und setzte Rick den Flachmann an die Lippen. »Komm schon, schmeckt gut!«
Ricks Lungen schrien nach Sauerstoff. Keine Luft mehr zu bekommen, versetzte ihn in vollkommene Panik. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Mund zu öffnen und verzweifelt nach Atem zu ringen. Zu seinem Entsetzen nutzte der Vampir diesen Moment, um ihm aus dem Flachmann ein paar Tropfen einer warmen grünen Flüssigkeit einzuflößen. Der Geschmack erinnerte ein bisschen an eine Zitrone und war nicht einmal unangenehm. Auf jeden Fall besser als die Pisse, die Sanchez Rick in all den Jahren vorgesetzt hatte.
Schließlich ließ der Weihnachtsmann seine Nase los. Rick holte Luft und musste husten. Noch immer konnte er die grüne Flüssigkeit auf seinen Lippen schmecken.
Zu Ricks Überraschung stand der Vampir nun auf. Wieder atmete Rick tief ein, doch jetzt schnürte sich ihm die Kehle zu, und eine Last schien auf seinem Brustkorb zu liegen. Dann wurde ihm auf einmal warm, was nach der Kälte draußen ein angenehmes, wohliges Gefühl war, das auch seine Angst verscheuchte. Leider war es damit schnell wieder vorbei. Es folgte eine vollkommene Benommenheit, die in Sekundenschnelle von seinem gesamten Körper Besitz ergriff. Rick wollte etwas sagen, fragen, was mit ihm geschah. Doch er musste feststellen, dass ihm Zunge und Lippen den Dienst versagten.
Der Vampir nahm die rote Mütze ab. Darunter kam dunkles, fettiges Haar zum Vorschein. Er grinste den Cafébesitzer breit an und entblößte dabei seine riesigen Vampirfänge.
»Das Mittel, das ich dir eben verabreicht habe, lähmt dich«, erklärte er. »Du wirst also ruhig daliegen und alles mitbekommen, während ich mich über dich hermache. Normalerweise geb ich das Zeug nur Kindern, aber für dich mache ich eine Ausnahme. Genieß es also. Du wirst die ganzen Schmerzen spüren, während ich dir das Blut aussauge, ohne dass du irgendetwas dagegen tun kannst. Bis ich fertig bin, wird es mehrere Stunden dauern. Fröhliche Weihnachten!«