♦ EINUNDDREISSIG
Einem Mob wütender Zehnjähriger zu entkommen, war nicht ganz so einfach, wie es vielleicht klang. Insbesondere, wenn man beim Rennen ein so gewichtiges Werk wie das Buch des Todes dabeihatte. Das waren einfach deutlich mehr Pfunde, als Sanchez normalerweise mit sich herumschleppte. Und nach seinem Ringkampf mit einem als Weihnachtsmann verkleideten Vampir war er außerdem ganz schön erledigt. Nur dank eines ungeheuren Adrenalinschubs schaffte er es, weiterzurennen. Schwer atmend schaute er über seine Schulter. Waren die Sunflower Girls ihm wirklich so dicht auf den Fersen, wie es klang? Das Mädchen (dunkle Haare, Kugelstoßer-Figur), das die Meute anführte, holte bedenklich schnell auf. Tatsächlich war sie nah genug dran, dass Sanchez einen beginnenden Damenbart auf ihrer Oberlippe zu erkennen glaubte.
Ihm musste jetzt ganz schnell etwas einfallen. Wie zum Teufel sollte er dieser wütenden Horde entgehen? Vor ihnen davonlaufen konnte er auf Dauer nicht, das war mal klar. Ein Fluchtweg musste her. Ein Taxi! Vorzugsweise eines, das er anhalten konnte, bevor die Sunflower Girls ihn schnappten.
Normalerweise waren die Straßen von Santa Mondega voller Taxis, also scannte Sanchez den Verkehr, während er weiterrannte. Nur leider gab es gar keinen Verkehr. Weit und breit war kein einziges Auto zu sehen. Der Schnee hatte dazu geführt, dass die Bewohner sich in ihren Häusern verbarrikadierten.
Sanchez traf eine Blitzentscheidung. Vor ihm ging es links weg in eine etwas belebtere Gegend. Weil er auf dem vereisten Bürgersteig nicht mehr rechtzeitig abbiegen konnte, rutschte er aus. Seine Füße hoben komplett vom Boden ab, sein Kopf fiel zurück, seine Beine stiegen in die Höhe. Instinktiv wollte er sich mit den Armen abfangen, um den Aufprall abzumildern. Dabei musste er das Buch des Todes loslassen. Es fiel im selben Moment auf den Boden, als Sanchez hart auf seinem Hintern landete. Leider war er auf einem komplett vereisten Stück des Bürgersteigs aufgeschlagen. Bevor er noch wusste, wie ihm geschah, schlidderte er mit dem Buch um die Wette die Straße hinunter. Das Buch hatte die Führung übernommen, während der dicke Sanchez auf einem guten zweiten Platz folgte. Tatsächlich war er jetzt schneller als eben beim Laufen, was das einzig Positive an dieser ansonsten eher unangenehmen Situation war. Jetzt allerdings konnte er die Richtung seiner Flucht nicht mehr selbst bestimmen. Er rutschte mit dem Hintern vom Bordstein und weiter bis zur Mitte der Straße.
Die war weniger glatt als der Bürgersteig und so kam seine wilde Schlittenpartie zum Ende. Jetzt kam natürlich ein Auto. Es gab einen lauten Knall, als das Buch mit der Stoßstange kollidierte. Es flog in hohem Bogen durch die Luft und dann weiter über die Straße. Gequält musste Sanchez zusehen, wie es schließlich aufgeklappt mit den Seiten nach unten im Schneematsch landete. Der Fahrer trat auf die Bremse, und das Auto kam quietschend zum Stehen.
Ächzend setzte Sanchez sich auf. Gern hätte er in dieser Position noch ein wenig in Ruhe darüber nachgedacht, wie wund und zerschunden sein Hintern war. Doch das durfte er nicht, wenn er nicht den Sunflower Girls in die Hände fallen wollte, die ihn jeden Moment eingeholt haben mussten (falls sie denn ohne Begleitung Erwachsener die Straße überqueren durften). Mühsam stellte Sanchez sich auf die Füße und stellte fest, wie durchnässt seine Hose war. In diesem Moment öffnete sich die Fahrertür des Wagens und jemand rief ihm etwas zu.
»Schnell, Sanchez, steig ein!« Flake. Es war ihr Käfer, der eben mit dem Buch zusammengeprallt war. Flake hatte bereits die Beifahrertür für ihn geöffnet. Sanchez rannte zum Wagen, sprang hinein und schloss im letzten Moment die Tür, bevor die Anführerin der Sunflower Girls dagegenprallte. Sanchez drückte den Knopf herunter und streckte dem hässlichen Kind die Zunge heraus, bis Flake aufs Gas trat und der Käfer sich in Bewegung setzte.
»Halt an!«, schrie Sanchez. »Da vorn neben dem Buch.«
Flake steuerte den Wagen zu der Stelle, wo das Buch aufgeklappt im Schnee lag. Sanchez öffnete seine Tür wieder und beugte sich hinaus, um das Buch einzusammeln. Flake verlangsamte das Tempo und hielt dann direkt neben dem Buch. Obwohl sie nach Sanchez’ Meinung eine miserable Fahrerin war, hatte sie das jetzt doch erstaunlich genau hinbekommen. Sanchez schnappte sich den vorderen Buchdeckel, zog es aus dem Schnee und ins Auto. Dann ließ er es auf seinen Schoß fallen und knallte die Tür erneut zu.
»Okay, drück auf die Tube!«, befahl er.
Das ließ Flake sich nicht zweimal sagen. Sie raste los Richtung Stadtzentrum und ließ den Mädchenmob zurück.
»Alles okay mit dir?«, fragte sie Sanchez, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Was ist denn nur passiert? Warum waren diese Kinder hinter dir her?«
Sanchez schaute sich das Buch genauer an. Der Buchdeckel war beschädigt und an mehreren Stellen zerschrammt. Was aber noch schlimmer war – die meisten Seiten waren durchnässt.
»Verdammt, Flake, weil du so eine miese Fahrerin bist, ist das Buch jetzt ruiniert, und ich bin möglicherweise meine Belohnung los. Gott, Jessica wird stinksauer sein«, jammerte er stöhnend.
»Tut mir leid, das war wirklich keine Absicht. Aber es sah so aus, als würdest du in ziemlichen Schwierigkeiten stecken, da habe ich alle Vorsicht in den Wind geschossen.«
»Keine Sorge, mit der Situation wäre ich schon fertiggeworden.«
Sanchez pustete angestrengt auf ein paar nasse Seiten, um sie zu trocknen, was aber nicht von Erfolg gekrönt war.
Kopfschüttelnd blätterte er im Buch, bevor ihm irgendwann auffiel, dass Flake plötzlich still geworden war. Er gestand sich ein, dass er eben wirklich ein wenig kurz angebunden zu ihr gewesen war. Die Vermutung bestätigte sich, als er Flake leise schluchzen hörte, auch wenn sie versuchte, das vor ihm zu verbergen und ihre Tränen herunterzuschlucken. Sanchez seufzte.
»Was ist denn los?«, fragte er.
»Rick ist tot. Jemand hat ihn wegen des Buchs umgebracht.«
Das erwischte Sanchez eiskalt. Da hatte er diesem Rick am Tag vorher noch eine ganze Flasche Schnaps geschenkt. Was für eine Verschwendung! Und wer, bitte schön, war bereit, wegen eines Buchs einen Mord zu begehen. »Oh scheiße!«, platzte es aus ihm heraus. »Weiß man, wer es getan hat?«
Flake schüttelte den Kopf. »Nein, aber seine Nachbarin, Crazy Annie, meinte, sie hätte gestern Nacht was gehört.«
»Annie McFanny?«
»Ja, ich habe heute Morgen mit ihr gesprochen. Sie war völlig hysterisch.«
»Warum? Was hat sie denn gesagt?«
»Sie meinte, Rick ist die ganze Nacht gefoltert worden, und dass der Killer hinter einem Buch her war.«
»Hinter dem Buch des Todes?«
»Weiß nicht, aber das war das einzige Buch, das Rick hatte. Und da dachte ich mir, wenn der Killer als Nächstes in der Bibliothek nach dem Buch sucht, könntest du in Schwierigkeiten stecken.«
»Hat Annie den Killer gesehen?«
»Das habe ich nicht so genau verstanden. Sie meinte, es war der Weihnachtsmann mit seinen Knechten.«
»Heilige Scheiße!«, rief Sanchez. »Hast du eben Weihnachtsmann gesagt?«
»Ja, na ja, sie ist eben nicht ganz dicht und von dem, was sie erzählt, ist die Hälfte natürlich Unsinn.«
»Trotzdem könnte sie diesmal recht haben.«
»Womit? Mit dem Weihnachtsmann?«
»Ja.«
»Echt?«
»Mhm. Vorhin hat ein riesiger Vampir in einem Weihnachtsmannkostüm versucht, mir das Buch abzujagen. Und rate mal, was – er hatte einen Flachmann mit einer grünen Flüssigkeit dabei. So ein Zeug, das die Opfer lähmt.«
Flake holte erschrocken Luft. »Oh Gott, Rick hatte grüne Lippen, als man ihn gefunden hat. Wo steckt dieser Weihnachtsmann denn jetzt?«
»Ich habe ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen.«
»Meinst du das grüne Zeug?«
»Ja. Danach habe ich seinen Bart in Brand gesteckt. Hat gebrannt wie Zunder. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der nicht mehr lebt.«
Flake drosselte das Tempo, weil sie jetzt auf eine rote Ampel vor einem Zebrastreifen zufuhren. Die Reifen blockierten auf dem Eis, und der Wagen rutschte über den Zebrastreifen, ohne anzuhalten, wobei er einen Jungen knapp verfehlte. Ein paar Meter weiter blieb der Käfer dann doch stehen, und Flake gab wieder Gas. »Rick wäre dir dankbar«, sagte sie und wischte sich eine Träne von der Wange.
»Kann sein, die kleinen Mädchen vorhin sahen das aber ganz anders.«
»Oh, waren sie deshalb hinter dir her?«
»Ja. Blöde Schlampen.«
Flake bog rechts ab. »Ich finde, wir machen uns ganz gut bei der Polizei, du nicht auch?«, fragte sie.
»Was?«
»Na ja, du hast das verschwundene Buch aufgetrieben.«
Sanchez nickte. »Ja, stimmt.«
»Und du hast gerade den Kindermörder erledigt.«
»Korrekt.« Sanchez gratulierte sich innerlich zu diesen wirklich überragenden Leistungen. »Und was ist mit dir? Was hast du Tolles gemacht?«
»Ich hab dich gerade vor den Sunflower Girls gerettet.«
»Bieg da vorn links ab.«
»Warum das denn? Sollten wir nicht besser direkt zum Revier fahren? Wir müssen das alles unbedingt Captain Harker melden. Der wird sich richtig freuen. Außerdem kommen wir jetzt schon zu spät zur Arbeit.«
»Ich würde gern erst einen Stopp im Tapioca einlegen, damit ich versuchen kann, das Buch wieder auf Vordermann zu bringen.«
»Ah, verstehe!« Flake kurbelte am Steuer, und der Wagen schlitterte nach links um die Kurve. »Brauchst du Hilfe dabei?«
»Nein danke«, sagte Sanchez und starrte wieder das Buch an. »Deinetwegen ist es ja so kaputt.«
»Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut.«
»Weiß ich.« Er seufzte. »Lass mich einfach beim Tapioca raus. Ich komm dann später allein ins Revier und bring das Buch mit.«
»Okay.«
»Aber erzähl niemandem, dass ich es hab, ja?«
Flake runzelte die Stirn. »Warum denn nicht?«
»Weil sonst bestimmt ganz schnell die Kumpel vom Weihnachtsmann hinter mir her sind.«
»Hä?«
»Na ja, offenbar ist das Buch manchen Leuten einen Mord wert.«
»Was mich nicht wundert«, sagte Flake. »Ich meine, es ist ja auch ziemlich gefährlich. Schreib da bloß keine Namen rein!«
»Das könnte ich nicht mal, wenn ich es wollte. Die Seiten sind völlig durchweicht. Sobald ich im Tapioca bin, wandert das Buch auf die Heizung. In diesem Zustand kann ich es schlecht Jessica bringen.«
Flake holte tief Luft. »Wie gut kennst du sie eigentlich?«
»Ziemlich gut«, antwortete Sanchez. »Ich habe sie wieder gesund gepflegt, nachdem der Bourbon Kid versucht hatte, sie zu erschießen. Zwei Mal sogar.«
»Ja, aber was weißt du alles über sie?«
»Was kümmert dich das denn?«
»Hast du mal darüber nachgedacht, ob sie zu den Leuten gehört, die bereit sind, für das Buch über Leichen zu gehen? Ehrlich gesagt fand ich sie gestern im Revier nicht besonders sympathisch. Irgendwas an ihr gefällt mir nicht.«
Sanchez traute seinen Ohren kaum. »Wie kann man Jessica denn nicht mögen?«
»Mir kam sie vor wie ein richtiges Miststück.«
»Hey, pass auf, was du sagst! Du kennst sie doch kaum.«
»Tut mir leid, Sanchez, aber ich vertraue ihr einfach nicht. Du solltest vorsichtig sein, was sie angeht. Mann, die wohnt in einem Haus, das Casa De Ville heißt! Klingt das in deinen Ohren nicht böse und bedrohlich?«
Sanchez schüttelte den Kopf. »Dann magst du sie also nicht, weil dir der Name von ihrem Haus nicht gefällt? Das ist wirklich lächerlich!« Er wandte den Kopf ab und blickte während der restlichen Fahrt aus dem Fenster, damit Flake bemerkte, wie sauer er war.
Als sie vor dem Tapioca ankamen, stieg Sanchez aus und bedankte sich missmutig bei Flake. Er hatte es eilig damit, das Buch auf die Heizung zu befördern, damit es möglichst schnell trocken wurde. Dann würde er es Jessica in die Casa De Ville bringen.
»Böse und bedrohlich!« Er lachte. Diese Flake war schon dämlich. Bestimmt würde man ihn in der zweifellos gemütlichen Casa herzlich willkommen heißen, wenn er das Buch hinbrachte.