♦ SECHSUNDVIERZIG
Bulls Hände waren feucht von Schweiß. Dabei war er schon in viel gefährlicheren Situationen als dieser gewesen und vollkommen ruhig geblieben. Aber das hier war etwas anderes. Er stand in der riesigen Haupthalle der Casa De Ville und wartete darauf, dass sich die Aufgabe seines Lebens endlich erfüllte – seinen Vater zu rächen. Ein paar Mal war er schon ganz nah dran gewesen. Ja, sogar erst vor zwei Tagen hatte er einem Mann den Kopf abgesäbelt, nur um dann herausfinden zu müssen, dass man ihn aufs Kreuz gelegt und er den Falschen erwischt hatte. Jetzt würde es anders laufen. Angesichts des apokalyptischen Blutbads draußen im Burghof schien diese Konfrontation etwas Endgültiges zu haben. Heute Nacht war der Moment der Entscheidung gekommen. Leider war aber noch nicht vorherzusagen, mit welchem Ausgang. Eines jedoch war klar: Entweder würde er den Bourbon Kid heute töten oder selbst dabei draufgehen.
Bull fixierte die Türen am anderen Ende der Halle. Jeden Augenblick konnte es nun so weit sein, und seine Nemesis würde durch eine dieser Türen hereinstürmen. Genau aus dem Grund war er froh, dass Tex bei ihm war. Er war spezialisiert auf militärische Aufklärung und hatte wahrscheinlich jeden möglichen Zugang zur Halle genau in seinem Kopf abgespeichert – von den Türen bis zu den Luftschächten, falls es Letztere hier überhaupt gab. Außerdem hatte Tex ebenfalls ein Motiv, den Bourbon Kid zu erledigen. Rache für Silvinho.
Bull hatte sich hinter einer weißen Betonsäule versteckt, die auf der linken Seite der riesigen Halle stand. Tex hingegen war hinter der gleichermaßen breiten wie hässlichen Statue eines Zentauren verborgen. Sie befand sich ganz in der Nähe des Aufgangs zum Kontrollraum, wo Razor Beth bewachte.
Bull richtete seine Waffe auf die Türen. Jede Sekunde kam ihm wie eine Minute vor, während er auf seinen Erzfeind wartete. Nur einmal wandte Bull die Augen kurz von den Türen ab und blickte hinüber zu Tex. Der drehte und wendete unablässig seinen Kopf und überprüfte so immer wieder seine gesamte Umgebung. Falls jemand versuchte, sich an ihn heranzuschleichen, würde ihm das auf diese Art nicht entgehen. Die Blicke der beiden Männer trafen sich. Im Laufe ihrer Karriere hatten sie einen solchen Blick schon oft ausgetauscht. In ihm lagen Vertrauen und gegenseitiger Respekt. Bull sah in dem Wissen wieder zur Tür, dass er seinen besten Mann dabeihatte, der ihm den Rücken freihielt.
Doch dann änderte sich innerhalb eines schrecklichen Moments auf einmal alles. Die ganze Halle lag nämlich plötzlich im Dunkeln da.
Sofort analysierte Bull die Situation. Entweder war der Strom ausgefallen oder jemand, der sich hier in der Halle befand, hatte das Licht ausgeknipst. Angestrengt lauschte er in die Stille hinein. Doch leider kamen die einzigen Geräusche von weit weg. Der Kampf der Untoten auf dem Burgplatz dauerte nach wie vor mit gleicher Heftigkeit an. In der Halle allerdings war das ganz anders. Absolut nichts bewegte sich, und es war nicht der kleinste Ton zu vernehmen.
Nach einer halben Minute in der Dunkelheit nahm Bull zum ersten Mal etwas wahr. Hinter sich hörte er etwas wie ein leises Klatschen und einen gedämpften leisen Schrei. Bull flog herum, sah jedoch nichts außer tiefschwarzer Dunkelheit. Trotzdem wusste er genau, wo er sich im Raum befand, kannte seinen Abstand zu jeder Säule, den Wänden, jeder Statue. Aber war Tex noch bei ihm?
»Tex«, flüsterte er laut. »Alles okay?«
Tex antwortete nicht. Bull war kein Idiot, er wusste, was das zu bedeuten hatte. Höchstwahrscheinlich war Tex tot, was auch den unterdrückten Schrei erklärte. Der Bourbon Kid war hier in der Halle. In der Dunkelheit.
Ein neues Geräusch durchbrach die tödliche Stille. Es kam von oben und vom anderen Ende der Halle. Es klang wie splitterndes Glas. Dasselbe Geräusch wiederholte sich dann noch zweimal, allerdings aus unterschiedlichen Richtungen. Bull blieb keine Wahl. Er brauchte Licht. Hinter ihm an der Wand befand sich ein Lichtschalter. Irgendwie musste er es schaffen, den zu erreichen, bevor der Kid ihn erreicht hatte. Dank seiner Kampferfahrung wusste er, wie man sich leise bewegte. Bull schlich rückwärts und hatte dabei einen Arm nach hinten ausgestreckt, bis seine Fingerspitzen die Wand berührten. Er tastete über den glatten Putz und suchte den Lichtschalter. In der anderen Hand hielt er die schussbereite Pistole, den Zeigefinger am Abzug. Wenn er auch nur das leiseste Geräusch vernahm, würde er sofort schießen.
Kaum hatten seine Fingerspitzen den Lichtschalter entdeckt, legte er ihn um. Die plötzliche gleißende Helligkeit blendete Bull für einen Moment. Sobald sich seine Augen daran gewöhnt hatten, schaute er sich nach seinem Feind um. Das Erste, worauf sein Blick fiel, war jedoch Tex’ Leiche, die neben der Statue des Zentauren lag. Man hatte ihm das Genick gebrochen. Bull brauchte nur eine Millisekunde, um das zu erkennen. Jetzt blieb ihm allerdings keine Zeit zum Trauern. Sein Blick huschte gehetzt hin und her, tastete die Säulen, die Statuen, die Treppen ab. Nur den Bourbon Kid fand er nicht.
Bull atmete aus und merkte erst jetzt, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Als er wieder einatmete, tauchte ein Schatten vor seinen Augen auf.
Von oben.
Und dann erschien das Gesicht des Bourbon Kid genau vor ihm. Wie aus dem Nichts war es aufgetaucht, und plötzlich waren die beiden Männer nur noch Zentimeter voneinander entfernt. Bevor Bull reagieren konnte, wurde seine Hand, mit der er die Waffe hielt, gegen die Wand geschlagen. Gleichzeitig brach seine Nase, die sein Feind ihm mit seinem Schädel eingeschlagen hatte. Bulls Handknöchel prallten hart gegen die Wand, genauso wie sein Hinterkopf, und er ließ die Pistole fallen. Dieser Blitzangriff hatte Bull vollkommen überrumpelt. Als er endlich zu sich kam und sich wehren wollte, hatte der Kid bereits die Hand eng um seine Kehle gelegt.
Instinktiv wollte Bull zu einem Schlag gegen die Rippen des Kid ausholen, als er die kleine silberne Armbrust in der rechten Hand des Kid bemerkte. Langsam hob der Kid die Armbrust vor Bulls Gesicht und hielt sie ihm dann unter die Nase. Der winzige Pfeil war auf das Nasenloch gerichtet.
Bull kannte solche Waffen. Es handelte sich um eine halbautomatische Leichtgewichts-Armbrust. Es war eine Sonderanfertigung, die geräuschlos abgefeuert und problemlos in einem weiten Ärmel verborgen werden konnte. Die perfekte Waffe, wenn man lautlos töten wollte.
In dem Mann, der vor ihm stand, erkannte Bull sofort den Mörder seines Vaters wieder. Obwohl er die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte und es so halb im Schatten lag, war er doch eindeutig zu identifizieren.
»Wieso steckst du auf einmal mit diesen Vampirwichsern unter einer Decke?«, fragte der Bourbon Kid mit seiner rauen Stimme.
Die Hand des Kid drückte ihm die Kehle zu, und Bull bekam fast keinen Ton heraus. »Wenn ich die Wahl habe zwischen dir und diesen Vampiren, nehme ich auf jeden Fall die Vampire«, stammelte er.
Der Kid deutete mit dem Kopf auf Tex’ Leiche. »Und jetzt sind deine Männer tot. Gefällt es dir, dass ich ihm sein Genick gebrochen habe? Ist doch sehr symbolträchtig, oder?«
Damit Bull Luft holen konnte, lockerte der Kid seinen Griff um dessen Kehle leicht. Bull atmete tief ein und antwortete dann, ohne den Blick von der kleinen Armbrust abzuwenden. »Du bist Abschaum, Mann. Ich hab dir gar nichts getan«, erklärte er keuchend. »Aber du hast meinen Vater umgebracht. Dafür sollte ich dich töten und nicht umgekehrt du mich. Ich habe den Tod nicht verdient.«
»Jammer mir nichts darüber vor, was du verdient hast«, entgegnete der Kid. »Sag mir, wo das Mädchen ist.«
Bull blickte hinüber zur Treppe in der Mitte der Halle. »Sie ist da oben. Es kann übrigens jede Sekunde knallen. Sobald nämlich mein Kamerad im Kontrollraum auf dem Überwachungsmonitor mitbekommt, wie du mich umlegst, erschießt er sie. Und zwar ohne zu zögern. Übrigens hat er sie heute auch schon ins Gesicht geschlagen.«
Der Kid grinste. »Glaubst du ernsthaft, ich bringe dich jetzt nicht um, weil du mir so was erzählst?«
»Ja, es wäre nämlich saublöd. Sobald er das sieht, erschießt er sie. Willst du das Risiko wirklich eingehen?«
Der Kid drückte Bulls Kehle wieder enger zu. »Da ich eben alle eure Sicherheitskameras hier drin ausgeschaltet hab, seh ich das ganz entspannt.«
Jetzt begriff Bull, was das für Geräusche gewesen waren, die er vorhin gehört hatte. Das Splittern von Glas. Alle drei Kameras in der Halle waren zerstört. »Und was, wenn du eine Kamera übersehen hast?«, fragte er, doch es klang verzweifelt.
»Ich übersehe nie etwas.«
Damit schoss der Kid den kleinen silbernen Pfeil in Bulls linkes Nasenloch. Er drang durch den Augapfel ins Gehirn ein und durchschlug schließlich die Schädeldecke, wo er stecken blieb. Blut spritzte aus der Wunde wie Lava aus einem Vulkan.
Bevor der Kid Bulls leblosen Körper zu Boden gleiten ließ, machte er das Licht wieder aus. In dem sicheren Gefühl, dass niemand den Mord beobachtet hatte, ließ er Bull dann los, und die Leiche fiel auf den Boden.
Weit oben auf der Galerie versteckt hatte Jessica, die Königin der Vampire, alles beobachtet, was passiert war. Bisher lief alles nach Plan. Sie hatte den Kid jetzt genau da, wo sie ihn haben wollte. Endlich konnte sie all die Qualen rächen, die er Vampiren angetan hatte, die ihr nahegestanden hatten. Nun fehlte nur noch das letzte Puzzleteil in ihrem Spiel – Beth vor den Augen des Kid zu exekutieren.