SIEBENUNDDREISSIG

Beth hatte am späten Nachmittag das Bewusstsein wiedererlangt. Sie befand sich in einem zellenartigen kleinen Raum und wurde von zwei kräftigen Soldaten bewacht, die sich als Tex und Razor vorstellten. Sie kannte die beiden von ihrem kurzen Besuch im Tapioca an Halloween. Ihre Erinnerung daran, wie sie eigentlich mit den beiden hier gelandet war, konnte man hingegen nur als schemenhaft bezeichnen. Außerdem schmerzte ihr Kopf, als hätte man ihr einen Baseballschläger übergezogen.

Darüber, warum genau sie hier festgehalten wurde, hatten die beiden ihr nicht viel gesagt, nur dass es mit JD zu tun hatte. Oder besser dem Bourbon Kid, wie sie ihn nannten. Offenbar war sie der Köder, um ihn in eine tödliche Falle zu locken. Beth versuchte den Männern zu erklären, dass sie gar nicht mehr mit JD zusammen war, aber damit traf sie auf taube Ohren. Die Soldaten interessierte das nicht, und sie hüllten sich auch darüber in Schweigen, welches Schicksal am Ende für Beth selbst vorgesehen war.

Jetzt war es früher Abend, und sie saß auf einem Sofa in ihrer Zelle und verfolgte auf einem Flachbildschirm an der gegenüberliegenden Wand die Nachrichten. Unter dem Fernseher befanden sich eine ganze Reihe von Überwachungsmonitoren. Tex, der größere ihrer beiden Bewacher, saß an einem Schreibtisch davor und starrte konzentriert auf die Monitore. Sein Haar war im Nacken und an den Seiten fast komplett ausrasiert, und Beth erkannte hässliche rote Flecken auf seiner Kopfhaut. Der andere Typ, Razor (der eine Narbe im Gesicht hatte, die doppelt so lang war wie ihre eigene), saß deutlich zu nah neben ihr und schaute ebenfalls die Nachrichten.

Der Ansager verkündete eine Eilmeldung. »Wir schalten jetzt zu Sally Feldman, die uns mit Captain Dan Harker von der Polizei Neuigkeiten im Fall Bourbon Kid berichten kann.«

Auf dem Bildschirm erschien jetzt Captain Harker, der im Fernsehstudio mit Sally Feldman an einem Schreibtisch saß. Die Reporterin war eine Blondine in den Vierzigern und trug einen eleganten roten Anzug. Bevor das Interview begann, kam Bull in die Zelle, der Hauptmann der Soldaten.

»Was geht ab, Jungs?«, fragte er.

»Wart mal«, sagte Tex und zeigte auf den Fernseher. »Sie zeigen eine Eilmeldung über den Bourbon Kid.«

Captain Harker beantwortete gerade Sally Feldmans erste Frage. »Es sind einige bisher unbekannte Tatsachen im Fall Bourbon Kid ans Licht gekommen«, sagte er und blickte mit ernstem Gesicht in die Kamera. »Ich habe Beweise dafür, dass der Bourbon Kid Bertram Cromwell nicht umgebracht hat. Wahrscheinlich hat er sogar die meisten Morde nicht begangen, für die man ihn bisher verantwortlich gemacht hat. Meiner Auffassung nach hat der Bourbon Kid die Stadt vor korrupten Polizeiangestellten und einer Vampirarmee beschützt.«

Bull verfolgte das Interview mit offenem Mund. »Was zum Teufel …?«

Tex lachte schnaubend. »Ha! Der will wohl nicht mehr lange leben!«

Bull grinste hämisch. »Bevor der Werbeblock anfängt, wird der von den Männern in den weißen Jacken abgeholt.«

Harker wartete mit noch mehr Ungeheuerlichkeiten auf. »Ja, Sie haben mich richtig verstanden. Es gibt Vampire in dieser Stadt. Das ist kein bloßes Gerücht. Und auch kein Scherz. In der Dunkelheit, die sich seit einigen Tagen über unsere Stadt gesenkt hat, haben diese Kreaturen nun die Straßen erobert. Es sind Vampire, die hinter den Überfällen stecken, die sich derzeit im gesamten Stadtgebiet ereignen. Ich rate jedem Einwohner dieser Stadt, sich zu Hause einzuschließen, bis wir offiziell Entwarnung geben. Irgendjemand steckt hinter dem Unwettereinbruch und den Wolken, die die gesamte Stadt verdunkeln. Und nun möchte ich einen Appell an den Bourbon Kid richten. Bitte suchen Sie mich auf. Ich bin auf Ihrer Seite und werde Ihnen nicht die Polizei auf den Hals hetzen. Bringen Sie sie alle um! Unseren Segen haben Sie! Wo immer Sie nun sein mögen, bitte kehren Sie in unsere Stadt zurück und retten Sie uns!«

Damit wurde wieder zurück zum Nachrichtensprecher geschaltet, der ungläubig und mit hochgezogenen Augenbrauen in die Kamera schaute.

»Was für ein interessantes Interview«, stellte er fest.

Beth hatte Captain Harker ebenso erstaunt zugehört wie die anderen. Sollte der Bourbon Kid tatsächlich ein Held sein? Wahrscheinlich eher nicht, aber er erledigte immerhin Vampire. Offenbar hatte sie JD vorschnell verurteilt, als er Silvinho vor ihren Augen umgebracht hatte. Im Moment sah es jedenfalls so aus, als wäre er Santa Mondegas letzte Chance, den großen Vampirangriff zu überstehen. Jetzt bereute sie es zutiefst, dass sie ihm Caspers Herz vor die Füße geworfen hatte.

Bull sah Beth an, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Glaub bloß diesen Scheiß nicht! Dein Freund hatte Hunderte von Unschuldigen auf dem Gewissen und nicht nur Vampire. Dieser bescheuerte Bulle hat keine Ahnung, wovon er redet.«

»Da hast du bestimmt recht.« Beth nickte. »Aber was ist denn mit dir? Du hältst mich im Auftrag einer Horde Vampire hier fest, die mich umbringen werden, sobald ich ihnen nicht mehr nützlich bin. Das macht dich auch nicht gerade zu einem großen Helden.«

Bull wirkte etwas überrascht über diesen plötzlichen Ausbruch. Er war es nicht gewöhnt, dass jemand derart respektlos mit ihm sprach. »Jetzt hör mal genau zu, du blöde Schlampe«, fuhr er Beth an. »Ich und meine Jungs haben Jahre damit verbracht, Leute wie dich zu beschützen. Wir haben in Kriegen für die Freiheit gekämpft, die du für selbstverständlich hältst. Haben den Kopf aus der Deckung gestreckt, während uns die Kugeln nur so um die Ohren pfiffen. Haben hinter den feindlichen Reihen unsere Mission erfüllt. Und wofür? Für ein Land voller Leute wie dich, die nicht mal ein Dankeschön für uns übrig haben. Dein Freund hat heute Morgen einen Kriegshelden ermordet. Silvinho musste sein Leben in einem schäbigen Mietshaus beenden. Das ist kein würdiger Tod für einen Soldaten. Nicht nach allem, was er für dieses Land getan hat. Wenn du also jetzt über mich und meine Jungs den Stab brichst, denk immer daran, dass dein Freund seine Opfer nur zu seinem persönlichen Vergnügen umbringt. Vampire töten, um zu überleben. Dafür brauchen sie Blut, genauso wie du Wasser und Essen brauchst. Und sie bezahlen uns gut dafür, dass wir versuchen, ihr Überleben zu sichern. Ihnen ist es egal, welche Methoden wir dabei anwenden. Sie stellen uns nicht infrage. Und wenn du, meine Liebe, dabei für die gute Sache draufgehst, kann ich damit leben. Mit dir als Köder werden wir den Bourbon Kid erledigen, und damit retten wir Tausende Menschen, die sonst seine Opfer geworden wären, da kannst du sicher sein.«

»Die Vampire töten viel mehr Menschen, als er das jemals könnte«, gab Beth zurück.

»Das stimmt«, sagte Bull. »Aber die Menschen sterben dann wenigstens aus einem guten Grund. Sie werden Teil der Nahrungskette. Meinen Vater hat dein lieber Bourbon Kid aus reinem Trotz erschossen. Das ist ehrlos. Die Vampire töten, um zu überleben. Das ist ehrenvoll.«

»Ehre? Beruhigst du damit dein schlechtes Gewissen?«

Bull runzelte die Stirn. »Du solltest aufpassen, in welchem Ton du mit mir sprichst, Fräulein.«

Beth schaute wieder zum Fernseher. Hinter dem Nachrichtensprecher wurde ein Bild von JD eingeblendet. Beth starrte es einen Moment an, bevor sie Bull antwortete. »Ich habe keine Angst vor dir.«

Bull lächelte. »Musst du auch nicht, Süße. Wenn du stirbst, wird es ganz schnell gehen, das verspreche ich dir.«

»Schade, dass ich dir nicht dasselbe versprechen kann.«

»Bitte?« Bull klang beleidigt. »Seit wann bist du so ein Großmaul?«

»Seit ich weiß, wer mein Freund ist.«

»Dafür solltest du dich eher schämen.«

»Tatsächlich? Für mich hat sich das Blatt gerade gewendet. Mein Freund tötet seit Jahren Vampire und ist immer noch am Leben. Ja, nicht nur das, er ist auch im Fernsehen. Von euch sehe ich da nichts. Niemand redet darüber, wie viele Leute ihr umgebracht habt – mal abgesehen von euch selbst. Macht euch also besser eines ganz klar.«

Bulls Nasenflügel bebten. Beth hatte ihn wirklich wütend gemacht. »Und was wäre das?«, knurrte er.

»Ihr werdet alle sterben.«

Bull starrte sie ein paar Sekunden lang nur an. Offensichtlich überraschte ihn ihr plötzliches Selbstbewusstsein. Dann nickte er Razor zu. Was immer dieses Nicken auch bedeuten mochte, Razor reagierte sofort. Mit einem gezielten, harten Schlag gegen ihren Kopf schickte er Beth ins Land der Träume.