ACHTUNDDREISSIG

»Das hast du wirklich gut gemacht, Flake«, sagte Bill Clay und klopfte ihr auf die Schulter.

Das Telefon im Polizeirevier hatte nicht mehr stillgestanden, weil ununterbrochen verängstigte Einwohner aus der ganzen Stadt anriefen. Flake hatte es dennoch geschafft, ruhig zu bleiben und möglichst vernünftige Ratschläge zu geben. Es waren auch ein paar sehr merkwürdige Anrufe dabei gewesen. Zum Beispiel der von Caroline. Das Mädchen hatte erzählt, sie sei von einem Vampir in die Bibliothek gejagt worden, den der Bourbon Kid dann getötet hätte. Es war wirklich nicht einfach, die Spinner von ernsthaften Anrufern zu unterscheiden. Insofern war Flake dankbar gewesen, als Clay heruntergekommen war und ihr eine Nachricht für den Anrufbeantworter diktiert hatte.

»Ich könnte jetzt wirklich einen Kaffee gebrauchen nach diesem Chaos«, sagte Flake.

»Den haben Sie sich auf jeden Fall verdient. Und danach würde ich mich an Ihrer Stelle auf den Heimweg machen.«

Flake blickte zweifelnd hinüber zur Eingangstür des Reviers und dachte an die dunklen Straßen. »Ich glaube, ich bleibe lieber hier, falls das geht.«

»Kann ich durchaus verstehen. Wir haben oben ein paar bequeme Sofas. Ich schau mal, ob ich eine Decke für Sie auftreiben kann.«

»Und was ist mit Ihnen? Bleiben Sie auch hier?«

Clay schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin später mit dem Captain im Museum verabredet.«

»Wo ist er denn jetzt?«

»Im Fernsehstudio und wendet sich an die Bevölkerung. Und demnach wahrscheinlich schon tot. Haben Sie was von Sanchez gehört?«

»Nein, er ist nicht zur Arbeit erschienen.«

»Das ist ja unschön. Na gut, dann kommen Sie mal mit nach oben. Ich suche Ihnen jetzt ein paar Decken.«

Flake wollte erst noch ein paar andere Sachen erledigen, die sie Clay nicht unbedingt auf die Nase binden musste. »Ich bin gleich oben, vorher muss ich nur noch kurz was machen.«

»Kein Problem, dann bis gleich.«

Clay fuhr mit dem stinkenden Fahrstuhl nach oben, während Flake sich einen Kaffee vom Getränkeautomaten holte und sich dann wieder an ihren Schreibtisch setzte. Die Stille im Revier war gespenstisch, und sie wünschte sich, Sanchez würde endlich auftauchen. Er hatte versprochen, dass er noch herkommen würde, bevor er mit dem Buch des Todes in die Casa De Ville fuhr. Irgendwie konnte sie sich nicht des Gefühls erwehren, dass er sich mit seinem Besuch in der Casa in große Gefahr brachte. Warum er so große Stücke auf Jessica hielt, konnte sie nicht nachvollziehen. Dafür gab es wirklich keinen guten Grund.

Flake öffnete die unterste Schublade ihres Schreibtischs und schob ein paar Sachen darin zur Seite. Unter dem ganzen Krempel lag das Buch ohne Namen. Sie holte es heraus und legte es auf den Schreibtisch. Schnell hatte sie die Stelle wiedergefunden, auf der sie am Tag zuvor mit dem Lesen aufgehört hatte. Nach einem Schluck Kaffee überflog sie die Seiten nach Hinweisen auf Vampire und magische Bücher.

Es dauerte nicht lange, bis sie auf eine Beschreibung des Buchs des Todes stieß. Es sollte sich dabei um ein schwarzes Hardcover handeln – genau wie das Buch, das sie vorhin mit ihrem Wagen gerammt hatte. Ferner wurde erwähnt, das Buch würde einem mächtigen Mann namens Rameses Gaius gehören. Der Name kam ihr bekannt vor, aber Flake wusste nicht, wo sie ihn schon einmal gehört hatte.

Sie las weiter und schaute sich die kunstvollen Illustrationen an. Dann stieß sie auf ein Bild, bei dem ihr fast das Herz stehen blieb. Es zeigte vier Männer und eine Frau. Und diese Frau erkannte Flake sofort wieder. Jessica! Die Unterschrift des Bildes lautete:

Der Dunkle Lord Xavier und seine Familie. Er lebt heute vermutlich in Santa Mondega, einer Stadt in der Neuen Welt.

Und auch den Dunklen Lord Xavier erkannte Flake wieder. Allerdings war sie ihm unter dem Namen Archibald Somers begegnet. Bis zu seinem Tod war er in Santa Mondega Polizist gewesen und besessen davon, den Bourbon Kid zu schnappen. Auf der nächsten Seite mutmaßte der Verfasser des Buches, dass Lord Xavier und seine Familie schwarze Magie betrieben hatten – was bei jemandem, der den Titel Dunkler Lord trug, nicht gerade eine Überraschung war. Flake las weiter und erfuhr auch, warum jeder Leser des Buchs ohne Namen bald tot aufgefunden wurde. Es nannte nämlich mehrere hochstehende Vampire beim Namen, zu denen auch Jessica gehörte. Und der ahnungslose Sanchez war mit dem Buch des Todes unterwegs zur Casa de Ville. Flake musste ihn aufhalten!

Sie zückte ihr Handy und rief Sanchez an. Es klingelte zwei Mal, dann ging die Mailbox an und Sanchez’ Stimme verkündete:

Guten Tag, dies ist die Mailbox von Detective Sanchez Garcia. Derzeit bin ich damit beschäftigt, ein paar schwere Jungs dingfest zu machen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.

Flake wartete bis zum Piepton und sprach dann mit sich überschlagender Stimme eilig eine Nachricht auf. »Sanchez, hier ist Flake. Bleib weg von der Casa De Ville. Deine Freundin Jessica ist ein Vampir. Das steht im Buch ohne Namen. Sobald du ihr das Buch des Todes ausgehändigt hast, wird sie dich bestimmt umbringen. Ruf mich sofort an!«

Um sich abzulenken, blätterte Flake dann weiter im Buch ohne Namen herum, was aber nicht besonders hilfreich war. Sie konnte an nichts anderes denken als an die Gefahr, in der Sanchez schwebte. Wie konnte sie ihm helfen? Das würde er in der umgekehrten Situation schließlich auch für sie machen.

Flake klappte das Buch zu, starrte den abgewetzten Einband an und dachte daran, wie sie Ulrika Price getötet hatte. Natürlich! Sie hielt ja gerade die Anti-Vampir-Waffe schlechthin in der Hand! Das Buch ohne Namen!

Jetzt musste sie nur noch einen Weg finden, um in die Casa De Ville zu gelangen, und Jessica damit auf den Kopf hauen. Genauso wie sie es bei Ulrika Price gemacht hatte. Damit würde sie Sanchez dann auch endgültig beweisen, dass Jessica eine Vampirin war. Aber wie sollte sie dafür nah genug an Jessica herankommen?

»Komm schon, Flake, denk nach!«, murmelte sie vor sich hin. »Was würde Sanchez an deiner Stelle tun, wenn du jetzt gerade bei den Vampiren in der Casa De Ville sitzen würdest?«

Plötzlich kam ihr eine Idee. Wieder griff sie in die unterste Schublade und kramte in dem Sammelsurium herum, das sie eben beiseitegeschoben hatte, um an das Buch ohne Namen heranzukommen. Und tatsächlich befand sich unter den Sachen etwas, das jetzt sehr nützlich werden konnte: eine Sprühdose mit schwarzer Farbe. Flake holte sie heraus und schüttelte sie. Dem Klang nach war die Dose noch voll genug.

Flake klappte das Buch ohne Namen zu und zog die Kappe von der Dose ab. Nach kurzem Zögern sprühte sie ein bisschen Farbe auf den oberen Buchdeckel. Das Material nahm die Farbe erstaunlich gut an, und es sah aus, als würde die besprühte Stelle schnell trocknen. Flake pustete darauf und strich dann mit dem Finger darüber. Sie war noch feucht, schmierte aber nicht allzu sehr. Zwar war ihre Fingerspitze jetzt leicht schwarz, ansonsten aber sog der Buchdeckel die Farbe auf wie ein Tattoo. Wenn sie etwas aufpasste und die Seitenränder vor der Farbe schützte, sollte es ein Leichtes sein, das Buch ohne Namen wenigstens äußerlich in das Buch des Todes zu verwandeln. Jedenfalls mit etwas Abstand betrachtet. Jetzt gab es wieder Hoffnung für Sanchez. Flakes Plan war wirklich nicht perfekt und ziemlich riskant, aber etwas Besseres fiel ihr momentan nicht ein.

Die nächsten zwanzig Minuten war Flake mit dem Umspritzen des Buchs beschäftigt. Als nirgendwo mehr das ursprüngliche Braun des Einbands durchschimmerte, stellte Flake das Buch aufrecht auf den Tisch vor einen rostigen kleinen Ventilator und hoffte, dass es schnell trocknen würde. Während sie beobachtete, wie der Ventilator sich langsam drehte, dachte sie darüber nach, wie sie Jessica am besten konfrontierte. Oder besser, wie sie eine echte Konfrontation komplett vermied. Das würde die Sache einfacher machen.

Flake schaute auf ihr Handy. Kein entgangener Anruf, keine SMS. Sie holte tief Luft und rief noch einmal bei Sanchez an. Hoffentlich nahm er jetzt ab. Dieses Mal war nicht mal ein Rufton zu hören, lediglich eine weibliche Stimme, die eine Ansage machte.

Der Teilnehmer ist derzeit nicht zu erreichen. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.

Flake legte auf, bevor die Ansage wiederholt wurde. »Auf in die Casa De Ville«, sagte sie laut und steckte das Handy wieder in die Hosentasche.

Sie war in den letzten Minuten so sehr mit ihrem Rettungsplan für Sanchez beschäftigt gewesen, dass sie nicht bemerkte, wie jemand die Eingangshalle des Reviers betreten hatte. Vor ihrem Schreibtisch ragte jetzt eine dunkle Gestalt auf. Langsam hob Flake den Kopf. Die Gestalt war ganz in Schwarz gekleidet, das Gesicht fast vollständig unter einer Kapuze verborgen. Flake wusste, wer dieser Mann war. Der Bourbon Kid. Und sie kannte auch sein Hobby – im Revier auftauchen und alle Polizisten ermorden, inklusive der Frau am Empfang. Die Gedenkplaketten für Amy Webster und Francis Bloem im Personalraum erinnerten daran.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie nervös.

Der Kid antwortete mit einer so heiseren und unheimlichen Stimme, dass sie direkt aus der Hölle heraufzuschallen schien. »Ich suche ein braunes Buch, das unten im Keller in der Umkleide gelegen haben muss. Vielleicht gesehen?«

Jetzt wurde Flake erst richtig nervös. Das Buch stand direkt vor den Augen des Kid auf dem Schreibtisch. Nur war es schwarz und nicht mehr braun. Während sie noch über eine geschickte Antwort nachdachte, holte der Kid eine abgesägte Schrotflinte unter dem Umhang hervor und legte damit auf Flakes Stirn an.

»Ich merke es sofort, wenn man mich belügt. Überleg dir also gut, was du sagst«, fügte er hinzu.

Flake war klar, dass er sie ohne mit der Wimper zu zucken abknallen würde. Also musste sie ihm einen guten Grund dafür liefern, sie am Leben zu lassen.

Sie holte tief Luft. »Mit dem Buch hab ich gestern Vormittag in der Umkleide einen Vampir erledigt.«

»Wo ist es jetzt?«

»Ich wollte es gerade …«

»WO IST ES JETZT

Flake spürte, wie ihre Knie weich wurden. Der Kerl würde ihr keine Gelegenheit geben, sich bei ihm lieb Kind zu machen, bevor sie ihm sagte, was er wissen wollte. Sie zeigte auf das schwarze Buch, das aufrecht auf dem Tisch stand.

»Da ist es«, murmelte sie verängstigt und befürchtete, dass er gleich schießen würde.

Der Bourbon Kid senkte die Waffe und starrte das Buch an. Dann nahm er es sich mit der freien Hand, legte es auf den Tisch, klappte es auf und sah hinein. Er blätterte ein paar Seiten um und klappte es wieder zu. Sanft strich er mit dem Finger über den frisch gefärbten Buchdeckel. Flake wartete ab, was der Kid als Nächstes tun würde. Einen Augenblick lang musterte er nur die anderen Gegenstände auf ihrem Schreibtisch. Der Ventilator summte leise, neben ihm stand die Spraydose. Verwirrt schaute der Kid dann Flake an.

»Warum hast du es schwarz angesprüht?«, fragte er.

»Ich wollte es für das Buch des Todes ausgeben, und in der Casa De Ville Jessica damit erledigen.«

»Und wieso das?«

»Um meinen Freund Sanchez zu retten. Er ist mit dem echten Buch des Todes gerade in der Casa De Ville und hat keine Ahnung, dass Jessica ein Vampir ist.«

Die Miene des Kid war undurchdringlich. »Wegen Sanchez würde ich mir nicht mehr den Kopf zerbrechen«, sagte er. »Der ist wahrscheinlich schon tot.«

»Vielleicht ist er aber doch noch gar nicht dort«, widersprach Flake verzweifelt.

Der Kid hob die Schrotflinte wieder an und zielte damit genau auf Flakes Nase. »Mach die Augen zu«, knurrte er.

»Warum?«

»Weil es wehtun wird.«

Flake folgte seiner Anweisung und schloss die Augen. Vielleicht alberte er ja nur herum?

BÄÄÄM!

Vielleicht auch nicht.