♦ ZEHN
Sanchez konnte sich einfach nicht erklären, wie es dazu gekommen war, dass er jetzt tatsächlich mit Flake in ihrem Käfer saß. Die beiden befanden sich auf dem Weg zum Polizeirevier, um sich zur Truppe zu melden. Damit wurde man zwar kein vollwertiges Mitglied der Polizei, aber wenn Sanchez nicht schnell noch eine geniale Ausrede einfiel, war er gleich ein Teilzeitbulle in Uniform ohne irgendwelche Kompetenzen.
Flake erzählte unaufhörlich, wie aufgeregt sie darüber war, dass sie sich gleich melden würde. Dabei plapperte sie so schnell, dass Sanchez keine Chance bekam, auch mal was zu sagen. Ihm war keine andere Wahl geblieben, als sich von Flake fahren zu lassen, weil ein paar Kids seinen Wagen vor dem Olé Au Lait übel zugerichtet hatten. Alle vier Reifen waren zerstochen.
Flake hatte versprochen, ihn zur Werkstatt zu bringen. Aber wie es jetzt aussah, sollte das erst nach dem Besuch des Polizeireviers stattfinden. Falls ihm nichts Besseres einfiel, konnte er immer noch ein Rückenleiden vortäuschen.
Flake fuhr so irre, wie sie redete. Nichts konnte das Mädchen aufhalten. Rote Ampeln, Stoppschilder, Fußgänger, Schneemänner. Unter normalen Umständen hätte ihr Gerede Sanchez in den Wahnsinn getrieben, aber im Moment war er zu beschäftigt damit, die Arschbacken zusammenzukneifen und sich am Armaturenbrett festzuhalten. Die Fahrt in Flakes Käfer wurde auch dadurch nicht entspannter, dass an der Beifahrerseite der Sicherheitsgurt fehlte. Insofern war Sanchez sogar erleichtert, als sie endlich beim Revier ankamen. Flake fuhr ein paar hundert Meter auf der falschen Spur, zog dann die Handbremse und katapultierte den Wagen mit einem spektakulären Manöver in die Parklücke.
Sanchez hatte sich dabei so verzweifelt am Armaturenbrett festgeklammert, dass seine Knöchel weiß waren. Sein Gesicht spiegelte blankes Entsetzen wider.
Flake stellte den Motor ab. »Komm schon, Sanchez.« Sie klopfte ihm auf den Arm, weil sie dachte, seine Panik sei nur gespielt.
»Ich glaube, wir sind gerade in der Zeit zurückgereist«, murmelte Sanchez.
»Du kannst so komisch sein«, sagte Flake und schlug ihm nochmal auf den Arm. »So, jetzt aber Schluss mit den Scherzen. Wir müssen schnell da rein, sonst sind wir vielleicht noch zu spät dran.«
Sanchez konnte sich gerade nichts Schöneres vorstellen, als aus diesem Wagen auszusteigen, auf den Besuch im Revier hingegen war er weniger scharf. Seine Finger entkrampften sich, und er löste sie vom Armaturenbrett. Danach öffnete er die Autotür. Flake war schon halb auf dem Weg zu den Stufen vor der Eingangstür, als Sanchez es endlich schaffte, sich aus dem Käfer zu hieven. Draußen holte er tief Luft und rieb sich mit der linken Hand theatralisch den Rücken.
Flake musterte ihn besorgt. »Alles okay?«
»Alte Kriegsverletzung«, erklärte Sanchez und verzog das Gesicht. »Ich bin gerade nicht sicher, ob ich es die Stufen raufschaffe.«
»Oh«, sagte Flake ganz niedergeschlagen.
Bevor sie noch etwas hinzufügen konnte, verließ ein Polizist das Revier und lief die Stufen hinunter. Ein durchtrainierter Typ Mitte vierzig, mit vollem, sauber zurückgekämmtem Haar. Für einen Bullen war er verdammt elegant angezogen. Er trug eine schwarze Anzughose, die dazu passende Weste und darunter ein weißes Hemd. Sanchez war erstaunt, einen so fitten Polizisten zu treffen. Die Jungs von der Truppe ernährten sich nämlich normalerweise alle fast ausschließlich von Donuts.
»Haben Sie Papiere für den Wagen?«, schrie der Polizist Flake an.
Sanchez kannte ihn. Sein Name lautete Dan Harker – ein vergleichsweise guter Detective, der seinen Job anständig erledigte und trotzdem nie befördert worden war. Falls Sanchez sich nicht irrte, war Harker nie korrupt gewesen. Ganz anders als die meisten seiner Kollegen. Er war schon oft im Tapioca aufgetaucht, um Sanchez wegen ungeklärter Fälle zu befragen, daher kannten sie sich.
Flake drehte sich um. »Hallo, Mr Harker!« Sie erkannte ihn ebenfalls. Schließlich machte das Verbrechen auch vor dem Olé Au Lait nicht halt.
»Du fährst wie eine Geistesgestörte, Flake. Ich könnte dich wegen Geschwindigkeitsüberschreitung und Parken im Halteverbot drankriegen.« Harker schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Dan.« Flake lächelte. »Wir sind hier, um uns zum Polizeidienst zu melden. Da wollte ich dich vorher mit meinen Fahrkünsten beeindrucken. Ich bin genau die Richtige für Verfolgungsjagden!«
Dan Harkers missbilligender Blick wurde gleich viel freundlicher. »Oh. Schön. Also … Großartig, meine ich. Ihr seid die Ersten. Kommt mit. Ich gebe euch die entsprechenden Formulare, und ihr könnt sie dann gleich ausfüllen.«
»Ich habe einen schlimmen Rücken«, jammerte Sanchez und rieb sich die Lendenwirbel.
Harker ignorierte ihn und wandte sich wieder an Flake: »Für die ersten beiden Freiwilligen gibt es eine Belohnung von eintausend Dollar.«
Sanchez schaute sich um. Auf der Straße drückten sich ein paar Leute herum. Sanchez beschloss, schnellstens zu handeln, bevor sich einer von denen die Kohle sicherte. Er hetzte über die glatte Straße, dann die schneebedeckten Stufen hinauf und stieß die Eingangstür zum Revier auf.
»Den kann man ja kaum aufhalten«, stellte Harker fest.
Flake lief Sanchez hinterher. »Wir sind beide pflichtbewusste Bürger!«, rief sie Harker noch zu.
Als Sanchez den Zustand des Empfangsbereichs sah, prallte er zurück. Alles war voller Blut – die Wände, der Flur, alles! Und es roch wie im Tapioca am Curry-Abend. Harker folgte den beiden hinein.
»Hier herrscht das blanke Chaos«, sagte er und marschierte entschlossen an Sanchez und Flake vorbei. »Eure erste Aufgabe wird es sein, hier sauber zu machen. Die Spurensicherung war schon da und ist mit der Arbeit durch. Jetzt muss nur noch jemand das Blut abwaschen und aufwischen.«
»Das kriegt Sanchez bestimmt super hin«, sagte Flake.
»Stimmt«, bestätigte Sanchez. Er musste im Tapioca ständig Blut und Pisse von den Wänden waschen. Und für tausend Dollar machte er das sogar gern.
Harker lächelte und griff in die Schublade des Schreibtischs am Empfang. »Ihr müsst euch nur kurz hier in die Liste eintragen«, bat er und schlug das Buch auf. »Das macht ihr jetzt jeden Tag und erwerbt damit das Recht, die Bürger der Stadt nach Belieben zu verhaften, zu drangsalieren und einzuschüchtern. Tausend Dollar Prämie sofort, und danach bekommt ihr fünfhundert Dollar pro Tag.«
Sanchez nahm sich schnell den Stift vom Schreibtisch, bevor Flake zugreifen konnte. Er machte die geforderten Angaben, trug dann seinen Namen ein und übergab das Buch an Harker.
»Zahlen Sie bar?«, wollte er wissen.
»An den ersten Tagen schon, danach wird der Betrag überwiesen.«
»Einverstanden.«
Flake begann nun auch, ihre Daten einzutragen. Harker trat ein paar Schritte zurück und musterte seine beiden neuen Rekruten von Kopf bis Fuß. Stirnrunzelnd sagte er: »Okay, ich geh jetzt kurz nach oben und besorge euch zwei Uniformen. Bei dir wird das kein Problem, Flake, du hast ja eine normale Figur. Aber es wird dauern, bis ich eine passende Hose für dich finde, Sanchez.«
»Ich trage Medium«, sagte Sanchez leicht beleidigt.
»Klar, und ich bin der Kaiser von China«, erwiderte Harker. »Ich finde die passenden Hosen, keine Sorge. Okay, ihr könnt inzwischen schon mal anfangen. Flake, du setzt dich an den Empfang und nimmst alle Anrufe und Anzeigen entgegen, falls sich jemand hier persönlich blicken lässt. Wenn du dir nicht sicher bist, was genau du machen sollst, erzähl einfach irgendwas.«
Flake war Feuer und Flamme. »Das krieg ich hin!«
Harker wandte sich an Sanchez. »Und du fängst damit an, den Aufzug zu säubern. Dahinten in der Ecke stehen Wischmopp und Eimer. Wasser und Reinigungsmittel sind schon drin. Du musst lediglich …«
»Danke, ich weiß, wie man wischt«, sagte Sanchez.
»Schön. Dann erwarte ich einen blitzblanken Fahrstuhl, wenn ich wieder hier bin.«
Harker drehte sich auf dem Absatz um und ging zu der Tür, hinter der sich das Treppenhaus verbarg. Sanchez schnitt eine Grimasse hinter dem Rücken seines neuen Chefs und fluchte leise.
»Ist das nicht aufregend?«, fragte Flake.
»Ich bin ganz aus dem Häuschen«, antwortete Sanchez sarkastisch. Er holte sich Eimer und Mopp. Dann ging er damit Richtung Aufzug und drückte den grauen Knopf. Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich sofort, und Sanchez schlug der bestialische Gestank von Exkrementen entgegen. Der gesamte Fahrstuhl war von oben bis unten voller Blut, Gehirnmasse und Scheiße. Das war nochmal eine Klasse schlimmer als die Toiletten im Tapioca nach einer Samstagnacht. Angewidert schüttelte Sanchez den Kopf, zog den Mopp aus dem Eimer und legte los. Das würde richtig viel Arbeit werden. Und bis der Gestank verschwand, konnte es noch Wochen dauern.
Zwei Minuten später hörte Sanchez, wie jemand zum Empfangstresen hinter ihm ging.
»Ich würde gern den Diebstahl eines Buches aus der Bibliothek melden«, sagte eine weibliche Stimme, die Sanchez sofort wiedererkannte.
Ulrika Price. Das Miststück.
Sanchez stellte sich auf den kleinen Fleck im Aufzug, den er schon gewischt hatte, und drehte sich um. Sein Blick kreuzte sich mit dem von Ulrika. Offenbar war sie direkt von der Arbeit hergekommen, denn sie trug eine Wollstrickjacke über einem geblümten Kleid – die Standard-Berufskleidung von Bibliothekarinnen der gesamten westlichen Hemisphäre. Drohend beugte sie sich über den Empfangstresen, an dem Flake saß und Sanchez den Rücken zukehrte. Als sie Sanchez registrierte, riss Ulrika weit die grünen Augen auf.
»Der war’s!«, zischte sie. »Er hat das Buch gestohlen!«
Sanchez schüttelte den Kopf. »Nee, hab ich nicht«, murmelte er.
Ulrika marschierte hinter den Tresen. Flake stand auf. »Da dürfen sie nicht hin!«, erklärte sie.
Ohne den Blick von Sanchez abzuwenden, drückte Ulrika Flake die Handfläche gegen das Gesicht und warf sie um. Dann öffnete sie zu Sanchez’ großem Entsetzen den Mund und entblößte ihre Fangzähne.
Genau wie er schon vermutet hatte, war dieses Miststück ein Vampir. Und ihn hatte sie wohl gerade als Zwischenmahlzeit vorgesehen.
Sanchez schaute auf die Knöpfe im Aufzug. Sie waren alle mit Scheiße beschmiert – alle, außer einem. Sanchez drückte ihn mindestens sechs Mal innerhalb einer Sekunde. Während die Türen sich schlossen, sah er, wie Ulrika abhob und mit weit aufgerissenem Maul auf ihn zugeflogen kam.