VIERUNDFÜNFZIG

Kacy brauchte weniger als zwanzig Minuten, um quer durch die Stadt zum Museum zu rennen. Als sie dort eintraf, war sie in Panik. Dante hatte noch immer nicht auf ihre Textnachricht geantwortet. Sie hatte ihn sogar anzurufen versucht, während sie die verlassenen Straßen entlanglief, aber sein Telefon war abgeschaltet. Verzweifelt hatte sie auch das Mobiltelefon des Bourbon Kid angerufen. Auch er antwortete nicht, sodass sie ihm eine Nachricht hinterließ, eine allem Anschein nach sehr wirre, dumme und unverständliche Nachricht, aber sie hoffte, dass alles Wesentliche darin zum Ausdruck kam. Sie war darauf angewiesen, dass er seinen Arsch auf schnellstem Weg zum Museum bewegte.

Als sie dort eintraf, hielt sie überall davor nach dem Wagen des Kid Ausschau. Er war nirgendwo zu sehen, und es zog sich auch keine Leichenspur zum Museumseingang, was wohl dafür sprach, dass der Kid noch nicht eingetroffen war. Sie musste allein klarkommen.

Vor lauter Nervosität hatte sie weiche Knie, während sie die Stufen zum Haupteingang hinaufstürmte. Die zweiflügelige Tür stand offen. Kacy warf einen forschenden Blick in die Eingangshalle und sah, dass diese leer war. Wenigstens sah es von außen danach aus, aber als Kacy eintrat, entdeckte sie am hinteren Ende der Halle jemanden auf dem Rücken liegen. Sie erkannte die Person augenblicklich. Es war Vanity.

Nachdem sie erst prüfende Blicke in beide Richtungen geworfen hatte, ob hier nicht verborgene Feinde lauerten, lief sie zu ihm hinüber. Jemand hatte ihn richtig gründlich bearbeitet. Das Gesicht war blutig und voller blauer Flecken, das früher so gute Aussehen für immer ruiniert. Die Augen waren geschlossen und stark geschwollen. Auf eine seltsame Art hoffte Kacy, dass es Dante gewesen war, der dem Anführer des Shades-Clans diese Prügel verabreicht hatte. Irgendwie zweifelte sie jedoch daran. Ihr Instinkt beharrte darauf, dass ungeachtet dessen, was Vanity widerfahren war, Dante in Schwierigkeiten steckte. Falls er noch lebte.

Sie beugte sich vor und stieß Vanity gegen die Brust, um zu prüfen, ob er bei Bewusstsein war. Als ihre Fingerspitzen die Brust berührten, war sie überzeugt, ihn einatmen zu sehen, wenn auch nur ganz leicht.

»Vanity«, flüsterte sie zaghaft, »lebst du noch?«

Er reagierte nicht, also stieß sie ihm erneut gegen die Brust, diesmal etwas heftiger. Er riss die Augen auf, hob die linke Hand, packte damit ihre und umklammerte sie. Das erschreckte Kacy kurz, aber sobald diese Reaktion abklang, erinnerte sie sich daran, dass er praktisch tot war und nicht in irgendeiner Verfassung, sie zu bedrohen.

»Was ist hier passiert?«, fragte sie. »Wo steckt Dante?«

Vanity öffnete ansatzweise den Mund. Die Zähne waren blutbedeckt, dem Anschein nach vor allem mit seinem eigenen Blut. Noch viel mehr Blut hing in seinem Kinnbart und trocknete schnell. Er starrte Kacy mit fast leblosen Augen an.

»Kacy?«, krächzte er.

»Ja. Wo steckt Dante?«

Vanity hustete etwas Blut hervor, und es tröpfelte ihm aufs Kinn. »Es tut mir leid«, sagte er. »Gaius hat ihn.«

»Wo? Wohin sind sie?«

»Nach unten.« Er schluckte einen Schwall Blut, ehe er ein paar weitere, kaum vernehmbare Worte hervorhustete. »Sie möchten ihn in einer Gruft bestatten.«

Kacy wollte sich schon aufrichten und bereitmachen, nach unten zu stürmen und Dante zu finden, aber Vanity hielt mit jeder letzten Unze Kraft, die ihm verblieben war, ihre Hand fest und zog Kacy wieder zu ihm herab.

»Warte!«, krächzte er. »Es sind zu viele. Du brauchst das hier.« Er drückte ihr einen kleinen festen Gegenstand in die Hand. Dann ließ er sie los und beide Arme seitlich fallen.

»Was soll ich damit anstellen?«, fragte Kacy.

Vanity schluckte erneut schwer. Seine Zeit näherte sich dem Ende. Er holte scharf kurz Luft und murmelte zwei Worte: »Benutze es.«

»Wozu benutzen?«

Er holte erneut kurz Luft. Beim Ausatmen hustete er einige weitere Worte hervor. »Benutze es, um …«

»Wozu? Wozu benutzen?«

»Benutze es, um …« Den restlichen Satz brachte er nicht mehr hervor. Stattdessen holte er ein letztes Mal Luft, und sein Kopf glitt auf die Seite. Kacy packte ihn an den Wangen und drehte sein Gesicht so, dass sie es ansehen konnte.

»Wozu benutzen?«, fragte sie flehend. »Wozu dient es?«

Vanity reagierte nicht.

»Wozu dient es?«, wiederholte sie. »Vanity! Vanity! Wozu soll ich es benutzen?«

Es hatte keinen Sinn. Vanity atmete nicht mehr. Er war tot. Wer oder was ihn umgebracht hatte, das wusste sie nicht recht, aber sie hatte weder die Zeit noch die Geduld, um zu zögern und sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Vielmehr rappelte sie sich auf und lief zur Treppe, die zum Untergeschoss und der Gruft der ägyptischen Mumie führte.

Während sie die Treppe hinabstieg, spürte sie das Handy in der Tasche vibrieren. Sie holte es hervor und blickte aufs Display.

NEUE TEXTNACHRICHT.

Sie öffnete die Nachricht. Sie stammte vom Bourbon Kid. Sie umfasste nur drei Worte, aber diese waren genau das, was Kacy jetzt erfahren wollte.

Ich bin unterwegs.

Sie seufzte erleichtert. Die Erleichterung hatte jedoch nur kurz Bestand. Als sie am unteren Ende der Treppe anlangte, sah sie Rameses Gaius. Er stand mit dem Rücken zu ihr im Zentrum des riesigen Saals. Vor ihm standen drei Vampire aus dem Black-Plague-Clan, von Kopf bis Fuß in schwarze Ninja-Outfits gekleidet. Auf dem Fußboden zwischen ihnen lag Dante, erkennbar entweder bewusstlos oder tot. Die Ninjas hatten ihn bereits von den Füßen bis zur Taille in Verbände gewickelt. Die Kleider hatte man ihm ausgezogen und auf den Boden neben dem Grufteingang geworfen. Vanity hatte recht gehabt, sie machten sich bereit, ihn lebendig zu begraben, eingewickelt wie eine Mumie.

Keiner von ihnen hatte Kacys Eintreffen bemerkt, und sie versteckte sich flink hinter einer großen Statue Napoleon Bonapartes. Sie musste schnell entscheiden, was sie jetzt tun wollte. Reichte die Zeit, um auf den Bourbon Kid zu warten? Was konnte sie auf eigene Faust unternehmen? Während sie über ihre Möglichkeiten nachsann, vernahm sie die Stimme von Rameses Gaius. Er hatte sich nicht mal umgedreht, war aber trotzdem auf Kacy aufmerksam geworden.

»Miss Fellangi, wie schön, dass Sie sich zu uns gesellen!«, rief er ihr zu.

Sie gab vor, ihn nicht gehört zu haben, und versteckte sich weiter hinter der Statue. Die vier Ninja-Vampire blickten sich um. Niemand von ihnen entdeckte Kacy, die sie von ihrem Platz hinter der Statue hervor ausspionierte.

Gaius sprach sie erneut an. »Bitte kommen Sie hinter Napoleon hervor.«

Das Spiel war eindeutig aus. Kacy kam aus ihrem Versteck hinter der Statue hervor. Jetzt blieb ihr nur noch die Möglichkeit, Gaius lange genug aufzuhalten, dass der Bourbon Kid eintreffen und die Lage hoffentlich noch retten konnte.

»Ist Dante am Leben?«, fragte sie.

Gaius drehte sich langsam um und blickte sie an. Er setzte die dunkle Sonnenbrille ab und steckte sie in die Brusttasche seines silbernen Sakkos. Kacy konnte sein rechtes Auge gut erkennen. In der Höhle steckte das Auge des Mondes. So viel dazu, es herauszunehmen und nachpolieren zu lassen. Während sie das Auge anstarrte, hob Gaius den rechten Arm. Die Handfläche leuchtete in grellblauer Farbe und zielte auf sie. Sie spürte, dass etwas Schlimmes auf sie zukam, und huschte zurück hinter die Statue.

Ein blauer Lichtstrahl aus Gaius’ Handfläche fuhr genau dort in den Fußboden, wo Kacy eben noch gestanden hatte. Von dort aus wurde der Strahl in die Höhe reflektiert und verschwand hinter ihr die Treppe hinauf außer Sicht. Gaius’ Miene zeigte Spuren von Ärger. Er schwenkte den Arm und zielte jetzt auf die Statue Napoleons. Ein weiterer Strahl zuckte aus seiner Handfläche hervor und krachte in den Kopf der Statue. Die schiere Wucht des Treffers riss diese vom Betonsockel. Die Statue kippte auf Kacy hinab. Sie versuchte auszuweichen, aber Napoleons Hut hämmerte ihr an die Schädelflanke und riss sie zu Boden.

Während sie benommen und desorientiert unter Napoleon lag, hörte sie Gaius erneut reden. Er wandte sich diesmal nicht an sie. Er sprach die vier Vampire an, die er mitgebracht hatte.

»Holt sie!«, befahl er. »Wickelt sie ein und werft sie mit ihrem idiotischen Freund in die Gruft.«

»Ja, Sir«, antwortete einer der Vampire.

Sie spürte, wie zwei kalte Hände sie unter Napoleon hervorzogen und vom Boden hoben. Das Handy fiel ihr aus der Tasche und landete klappernd am Boden. Da sie nach wie vor Sterne sah, konnte sie nicht erkennen, wo es liegen blieb. Während sie von einem der Ninjas über den Fußboden geschleift wurde, hörte sie einen der anderen reden.

»He Gaius, dem Handy dieses Miststücks zufolge ist der Bourbon Kid hierher unterwegs.«