NEUN

Beth hatte schon frühmorgens einen Anruf des neuen Museumschefs, Elijah Simmonds, erhalten. Wenn er den Job auch nur stellvertretend innehatte, besaß er nun doch damit das Recht, sie zu feuern. Er bestand darauf, dass sie im Museum erschien, obwohl Bertram Cromwell ihr diesen Tag freigegeben hatte. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass Simmonds sie sprechen wollte, um ihr zu kündigen.

Als sie zusammen mit JD am Museum ankam, hob ein Rettungsteam gerade eine Bahre in einen Krankenwagen. Das Gesicht der Person auf der Bahre war von einem grünen Tuch verdeckt. Beth wusste, dass der Tote Bertram Cromwell war. Auch ohne den grausigen Anblick seines entstellten, blutigen Gesichts hatte sie plötzlich sehr unangenehme Bilder im Kopf.

Zusammen mit JD ging sie die Stufen zur Eingangstür des Museums hinauf. Er legte den Arm um sie und zog sie eng an sich, um sie so vom Anblick der Leiche abzuschirmen. So an ihn geschmiegt fühlte sie sich sicher und warm. Sie trug zwar eine blaue Strickjacke über ihrem weißen T-Shirt, aber da es plötzlich angefangen hatte zu schneien, reichte das eigentlich nicht. Im Moment allerdings spürte sie die Kälte vor allem an den Beinen, wegen der Risse in ihren schwarzen Jeans, und diese Risse hatten nichts mit der neusten Mode zu tun. Die Jeans waren schlicht alt und durchgewetzt, und Beth konnte sich keine neuen leisten. Dennoch – mit ihrem offenen, vom Wind zerzausten Haar und den kaputten Jeans sah sie cool aus, und JD schien dieser Grunge-Look zu gefallen. Er hatte noch immer die Sachen von der Nacht zuvor an: Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Lederjacke. Beth hoffte heimlich, dass ein paar ihrer Kollegen sie gleich mit JD sehen würden.

Als sie das Museum betraten, kam einer der Männer vom Sicherheitsdienst zu ihnen gelaufen. Er hieß James, war breitschultrig und muskulös. Wie bei jedem anderen Sicherheitsmann des Museums schien ihm auch seine graue Uniform eine Nummer zu klein zu sein. In seinem Fall war das vielleicht sogar Absicht, weil er der Welt seinen enormen Bizeps vorführen wollte. Er war ein großer, kräftiger Typ in den Zwanzigern, mit blondem, welligem Haar und geradezu lächerlich breiten Schultern. Von seinem Gürtel hing ein Gummiknüppel, aber er sah nicht gerade so aus, als würde er den dringend brauchen. Seine Fäuste waren riesig genug, um die meisten Probleme auch ohne Knüppel aus dem Weg zu räumen.

»Hast du’s schon gehört?«, fragte er nun Beth und machte dabei ein aufrichtig besorgtes Gesicht.

»Meinst du die Sache mit Cromwell? Ja. Schrecklich, oder?«

»Ich war völlig geschockt.« James schien erst jetzt aufzufallen, dass sie nicht allein hereingekommen war. Er starrte JD einen Moment lang an. Dann wanderte sein verwirrter Blick zurück zu Beth. »Was machst du überhaupt heute hier? Hast du eigentlich nicht frei?«

»Simmonds hat mich herbestellt, weil er was mit mir besprechen will oder so.«

James verzog das Gesicht. »Oh. Der sitzt in seinem Büro. Du kannst einfach reingehen, er ist allein.«

»Wo ist denn sein Büro?«, fragte Beth, die bisher noch nie gehört hatte, dass Simmonds ein eigenes Büro hatte.

»Er ist in Cromwells altem Büro.« James zeigte einen Flur entlang. Traurig dachte Beth an Cromwell, einen der freundlichsten Menschen, die sie je getroffen hatte, und das in einer Stadt voller herzloser Idioten. Ihm war es zu verdanken, dass sie sich im Museum wohl gefühlt hatte. Und zwar ihm allein. Die Vorstellung, wie ein Wahnsinniger Cromwell mit der Machete niedermetzelte, war unerträglich. Beth war froh, dass sie ausgerechnet jetzt JD wiedergetroffen hatte.

»Der arme Bertram«, sagte sie mit einem leisen Schluchzen und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Er war so ein netter Mensch.«

»Stimmt. Aber Simmonds ist ein guter Nachfolger. Er hat jetzt schon große Pläne für unser Museum, wird ein Riesending.«

Beth hörte das überhaupt nicht gern und verlor alle Hoffnung. Ihre Zeit im Museum war damit bestimmt vorbei.

JD streichelte ihr den Rücken. »Hey, nun mach dir mal keine Sorgen. Ich geh mit dir da rein, wenn du willst.«

»Das geht nicht«, erklärte James. »Zu den Büros hat nur Personal Zutritt. Sie müssen hier warten.«

JD hauchte Beth einen Kuss auf die Stirn. »Ist es okay, wenn ich hierbleibe?«

»Ja.« Beth schaute ihn verzagt an. Ihr stand eine Konfrontation mit Simmonds bevor, dem sie nun allein gegenübertreten musste. »Wahrscheinlich werde ich gleich gefeuert«, flüsterte sie.

»Das wird schon«, sagte JD. »Lass dich nicht unterkriegen.« Er streichelte ihr über den Kopf und küsste sie. Immerhin zauberte das ein flüchtiges Lächeln auf Beths Lippen. Er wusste eben immer, wie er sie mit einer simplen Geste trösten konnte. Nachdem sie tief Luft geholt und noch einmal JDs Hand gedrückt hatte, machte sich Beth auf den Weg zu Cromwells Büro und dem Gespräch mit ihrem neuen Chef Elijah Simmonds.

JD und James schauten ihr hinterher. Ihre Körpersprache verriet eigentlich schon alles. Beth hatte Angst vor Simmonds.

Kaum war sie außer Sicht, schlug James JD freundschaftlich auf die Schulter. »Wird bestimmt nicht lange dauern, Kumpel. Simmonds redet nie lange um den heißen Brei herum.«

»Wird er sie feuern?«

»Wahrscheinlich.«

»Warum? Was hat dieser Simmonds denn gegen sie?«

James lachte leise. »Du kennst sie nicht besonders gut, kann das sein?«, fragte er dann. »Ihr habt euch doch bestimmt gerade erst kennengelernt.«

»Ja, so ungefähr. Wieso? Wie meinst du das?«

James schlug ihm wieder auf die Schulter. »Nicht böse gemeint, Kumpel, du würdest das sowieso ganz schnell allein rausfinden, und deshalb kann ich es dir auch einfach gleich erzählen. Die ganze Stadt nennt sie nur Psycho-Beth. Die hat nicht alle Tassen im Schrank.«

»Was?«

»Ernsthaft. Frag sie mal, ob du ihre Freunde kennenlernen kannst.«

»Und was stimmt nicht mit ihren Freunden?«

»Na ja, sie hat einfach keine! Niemand hier mag sie. Wenn ich dir einen gut gemeinten Rat geben darf – verschwinde von hier und mach in Zukunft einen großen Bogen um Beth. Die Frau bringt nur Ärger.« Er senkte die Stimme und flüsterte: »Sie hat ihre Mutter umgebracht.«

JD nickte. »Okay, hab ich verstanden.«

»Du findest überall was Besseres«, sagte James und klopfte ihm noch einmal auf die Schulter. »Okay, ich hab eine Menge zu tun, wir sehen uns, Kumpel.«

James drehte sich um und wollte gehen, JD folgte ihm. »Wart mal kurz«, rief er.

»Was denn?«

JD zeigte auf James’ Brust. »Du hast da was auf deinem Hemd.«