♦ ELF
Beth stand vor Cromwells Büro und registrierte traurig, dass man bereits sein Namensschild ausgetauscht hatte. Statt CROMWELL stand dort jetzt SIMMONDS in silbernen Großbuchstaben.
Sie klopfte an.
»Herein!«, rief Simmonds von drinnen.
Sie drehte den großen metallenen Türknauf erst nach links, dann nach rechts, doch nichts tat sich. Irgendwie konnte sie sich nie erinnern, wie die Tür genau aufging. Drücken oder ziehen? Beth drehte den Knauf weiter hin und her und zog dabei nach Leibeskräften daran. Schließlich drehte sie den Knauf einmal nach rechts und drückte gegen die Tür, die sich nun zu ihrer Erleichterung öffnete.
Mit einem Seufzen betrat sie das Büro.
Simmonds saß auf einem großen schwarzen Ledersessel hinter einem Schreibtisch aus massiver Eiche und machte ein selbstzufriedenes Gesicht. Das blonde Haar trug er wie immer streng zurückgekämmt in einem schmierigen Steven-Seagal-Pferdeschwanz.
»Hallo, Elijah!« Beth lächelte verhalten.
»Für Sie Mr Simmonds, Lansbury«, erwiderte er kühl.
Beth näherte sich den Stühlen vor Simmonds’ Schreibtisch.
»Setzen Sie sich gar nicht erst hin«, sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Unser Gespräch wird nicht lange dauern.«
»Oh, na gut.«
»Ist natürlich furchtbar, was mit Bertram passiert ist, aber das Leben muss weitergehen. Ich hoffe, Sie sind nicht zu geschockt.«
»Machen Sie Witze? Mr Cromwell war so ein toller Mensch!«
»Ganz recht – er war ein toller Mensch. Betonung auf war. Leider ist er aber nun tot. Das Museum hingegen steht noch, und als sein neuer Leiter werde ich ein paar Veränderungen vornehmen, die sich Cromwell nie getraut hat durchzuführen.«
Beth nickte und wusste genau, was jetzt kommen würde. »Okay.«
»Wir müssen die Kosten drücken, was bedauerlicherweise zu einem Stellenabbau führt.«
»Oh nein, wie viele Leute werden denn entlassen?«
Simmonds verzog das Gesicht. »Ich hatte wirklich gehofft, dass Sie das nicht fragen würden. Es genügt bereits, einen Mitarbeiter zu entlassen, und die Wahl ist auf Sie gefallen. Sie erhalten noch den Lohn für die laufende Woche, müssen aber nicht nochmal wiederkommen.«
Beth senkte traurig den Kopf. Natürlich hatte sie gewusst, dass genau das passieren würde, als sie von Cromwells Tod hörte. »Laut Vertrag bekomme ich den Lohn für den gesamten Monat, wenn ich entlassen werde.«
Simmonds schüttelte den Kopf. »Sie sind ziemlich dreist«, sagte er und machte ein angewidertes Gesicht. »Bertram Cromwell ist tot, ermordet vom Bourbon Kid, kaltblütig erschlagen mit einer Machete, und Sie wollen Kapital aus Ihrem Vertrag schlagen! Denken Sie eigentlich immer nur ans Geld?«
Beth war geschockt. »Nein, so ist das nicht!«
»Tja, so sieht es aber aus, Lansbury! Herrgott nochmal, Sie ekeln mich an! Erst ermorden Sie Ihre Stiefmutter, und nun beschmutzen Sie das Andenken eines großartigen Menschen – und das nach allem, was Bertram Cromwell für Sie getan hat.«
»Das ist nicht fair!«
»Diskutieren Sie das mit dem Betriebsrat.«
»Ich wusste gar nicht, dass wir einen Betriebsrat haben.«
»Haben wir auch nicht. Und jetzt verschwinden Sie! Ich kann es nicht mehr ertragen, Sie anzusehen. Ehrlich, ist Ihnen niemals in den Sinn gekommen, die Narbe in Ihrem Gesicht zu überschminken, wenn Sie zur Arbeit gehen? Es ist für jeden hier eine Zumutung, dass er sie ansehen muss.«
Beth spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Die Narbe ging aus vielen Gründen sehr tief. Sie versuchte die Tränen dennoch zurückzuhalten, um Simmonds nicht die Genugtuung zu geben, dass er sie verletzt hatte. »Es ist bloß eine Narbe«, sagte sie.
»Ja, aber diese Narbe repräsentiert den Kampf, den Ihre Stiefmutter führte, als sie versuchte, sich zu verteidigen, während Sie sie erstochen haben, oder nicht? Schrecklich, wirklich schrecklich. Ich weiß nicht, wie Sie es schaffen, damit herumzulaufen.«
Darauf wusste Beth keine Antwort. Eine Träne kullerte ihre rechte Wange hinab, glitt in die Narbe und lief daran entlang in ihren Mundwinkel. Simmonds gestikulierte Richtung Tür und blickte anschließend demonstrativ auf einige Papiere auf seinem Schreibtisch, um zu signalisieren, dass ihr Treffen beendet war.
»Nun machen Sie schon und verschwinden Sie endlich«, sagte er. »Wir sind hier fertig.«
Beths Unterlippe zitterte. Gefeuert zu werden, war ohnehin schon demütigend genug, aber dabei auch noch so beleidigt zu werden, war einfach zu viel.
»Was soll ich mit meiner Uniform machen?«
Simmonds schaute auf. »Sind Sie etwa immer noch da?«
»Ja, ich wollte nur …«
»Mein Gott, Sie werden mir doch jetzt wohl keine Szene machen, oder? Das kann ich nämlich auf den Tod nicht ausstehen. Wenn Ihnen theatralische Darbietungen Freude bereiten, sollten Sie es mal bei einer Laienspieltruppe probieren, aber hier in meinem Büro beherrschen Sie sich gefälligst.«
Beth drehte sich um und griff nach dem Türknauf, brauchte aber wieder ein paar Sekunden, bis die Tür sich öffnete. Glücklicherweise schaffte sie es, erst draußen auf dem Flur in Tränen auszubrechen. Mobbing wurde auch nicht besser, wenn man bereits erwachsen war, und schon gar nicht, wenn man es dabei mit Simmonds zu tun bekam. Doch zumindest war sie jetzt nicht mehr allein, sondern hatte JD, der sie gleich trösten würde. Sie marschierte die Treppe runter, wischte sich übers Gesicht und hoffte, dass sie nicht zu furchtbar aussah.
Was sie unten am Empfang erwartete, ließ Beth ihre Tränen schnell vergessen. JD war noch da und lächelte sie an. Vor ihm auf dem Boden lag der bewusstlose Wachmann James.
Verblüfft schaute Beth auf ihn hinunter, dann sah sie JD an.
»Was ist denn hier passiert?«, fragte sie besorgt.
»Ich glaub, er ist ohnmächtig geworden.« JD zuckte mit den Schultern. »Wie ist dein Gespräch gelaufen?«
»Sein Gesicht ist voller Blut«, sagte Beth und beugte sich zu James hinunter. »Ist er wirklich einfach so umgefallen?«
»Er hatte Nasenbluten, und weil er wohl kein Blut sehen kann, ist er umgekippt.«
Beth runzelte die Stirn. »Aber seine Nase sieht gebrochen aus, und seine Augen sind geschwollen.«
»Ja, echt seltsam. Also, was wollte dein Chef?«
»Ich bin gefeuert.«
JD strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Man konnte sehen, dass Beth geweint hatte. »Hey, das war nur ein Job, wein dem nicht hinterher. Sieh es mal positiv – jetzt hält uns nichts mehr in diesem Scheißloch von einer Stadt.«
»Ich bin auch nicht so fertig wegen der Kündigung, sondern weil Simmonds mich so mies behandelt hat.«
»Inwiefern denn? Was hat er gesagt?«
Beth schluchzte und war wieder kurz davor zu heulen. »Er meinte, dass sich alle hier vor meiner Narbe ekeln und ich sie verstecken soll.«
»Dieser Wichser!«
JD stürmte an ihr vorbei und dann weiter Richtung Büro.
Simmonds war froh, dass er diese Lansbury nie mehr wiedersehen musste. Im Gegensatz zu Cromwell war er nicht gewillt, eine entstellte Frau im Museum zu beschäftigen. Es hatte ihn damals schockiert, als Cromwell dieser verurteilten Mörderin einen Job gegeben hatte. Wie konnte man nur so naiv sein? Scarface war wirklich kein Aushängeschild für das Museum. Aber damit war es nun ein für alle Mal vorbei! Es hatte richtig Spaß gemacht, diese Lansbury an die Luft zu setzen. Simmonds freute sich noch immer, dass er es geschafft hatte, sie zum Heulen zu bringen, als die Tür aufging und ein junger Mann hereinstürmte.
»Wer sind Sie?«, fragte Simmonds.
»Sind Sie Simmonds?«
»Ja – und um meine Frage zu wiederholen –, wer sind Sie?«
»JD. Und ich werde Ihnen jetzt gepflegt die Fresse polieren.«
Simmonds seufzte. »Wollen Sie mir etwa eine Szene machen?«, fragte er nonchalant. »Für den Fall rufe ich nämlich den Sicherheitsdienst.«
JD machte einen Schritt auf den Schreibtisch zu und beugte sich drohend darüber. »Ihr Wachmann liegt mit gebrochener Nase vorn am Empfang.«
»Dann wollen Sie hier also wirklich eine Szene machen? Okay, der Fairness halber sollte ich Ihnen sagen, dass ich Karate beherrsche«, erklärte Simmonds kühl und vollführte ein paar Karateschläge. »Diese Hände sind gefährliche Waffen.«
JD griff über den Schreibtisch, packte Simmonds an der Gurgel und zog ihn aus dem Sessel. »Dann legen Sie mal los«, knurrte er.
Simmonds schluckte und entgegnete mit letztem Mut: »Raus aus meinem Büro, oder ich hole die Polizei.«
»Finden Sie es lustig, einen anderen Menschen wegen seiner Narbe fertigzumachen? Wie wär’s, wenn ich Ihnen das Gesicht aufschlitze und danach Witze über Sie reiße?«
Simmonds grinste und blickte zur Tür. »Soll ich Sie jetzt vor Ihrer Freundin demütigen?«
JD schaute über seine Schulter zurück. Im Türrahmen stand Beth. Simmonds konnte sehen, dass sie geweint hatte. Die Frau war wirklich einfach nur peinlich. Wie die jemals jemanden umgebracht haben sollte, war Simmonds schleierhaft. Dafür fehlte ihr der Mumm. Sie war ja jetzt schon vollkommen eingeschüchtert.
»Lass ihn bitte in Ruhe, JD«, flehte sie. »Er ist den Ärger nicht wert.«
JD schaute wieder Simmonds an. Erst schien es, als wollte er dem neuen Museumschef noch etwas sagen, aber dann ließ er ihn doch los. Simmonds rutschte mit einem hämischen Lächeln zurück auf seinen Sessel.
»Ich habe eine Menge Einfluss in dieser Stadt«, prahlte er.
»Das ist mir scheiße…«
Schnell schaltete Beth sich ein und unterbrach ihren Freund. »Komm, JD, lass uns bitte gehen. Ich will keine Probleme mit der Polizei.«
»Sehen Sie«, sagte Simmonds. »Mit ihrem Vorstrafenregister kann sie sich das nämlich nicht leisten, und Sie sollten sich das auch besser überlegen. Hören Sie auf Tony Montana, die weiß, wovon sie redet.«
JD runzelte die Stirn. »Wie haben Sie sie gerade genannt?«
»Tony Montana. So nennen sie hier alle. Scarface, Sie wissen schon.«
Bevor JD über den Tisch springen konnte, hatte Beth ihn am Arm gepackt.
»Lass uns bitte abhauen«, sagte sie. »Ich bin froh, dass ich hier nicht mehr herkommen muss. Oder würdest du etwa wollen, dass ich für so einen Kerl arbeite?«
»Nein, aber ich fühl mich besser, wenn ich ihn jetzt umhaue.«
»Aber ich nicht. Ich will dich nicht wieder verlieren, nur weil du diesen Loser verprügelt hast und im Knast sitzt.«
JD musterte Simmonds noch ein paar Sekunden, bevor Beth ihn wegzog. Einen letzten Spruch allerdings konnte JD sich nicht verkneifen.
»Die Sache ist noch nicht vorbei.«
Simmonds grinste breit. »Ja, klar, Kleiner«, rief er JD hinterher, als der sein Büro verließ, ohne die Tür zu schließen. »Tschüss, JD. Das ist doch wohl die Abkürzung für jugendlicher Delinquent, oder?«
JD antwortete darauf nicht mehr. Simmonds stand auf und schloss die Tür, dann nahm er wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Wunderbar, endlich hatte er eine Machtposition, die er ausspielen konnte. Simmonds genoss dieses Gefühl. Er schaute zu seinem Computerbildschirm, um zu sehen, ob der Lokalsender über seine Ernennung zum Museumschef berichtete. Tatsächlich wurde in den Nachrichten der Tod von Bertram Cromwell erwähnt, dass er selbst aber für ihn nachgerückt war, wurde verschwiegen. Simmonds überflog den Artikel, an dessen Ende er einen Link fand:
Bourbon Kid von Sicherheitskamera aufgenommen. Hier klicken und Video ansehen!
Simmonds klickte auf den Link, um sich nochmal das Material anzusehen, das er an Dan Harker weitergegeben hatte. Doch stattdessen sah er die Aufzeichnung einer anderen Sicherheitskamera. Sie zeigte, wie der Bourbon Kid mit zwei Männern in Polizeiuniformen das Polizeirevier betrat. Den einen von ihnen erkannte Simmonds als Dante Vittori. Er war ein ehemaliger Mitarbeiter des Museums. Doch es war nicht Dante, der seine Aufmerksamkeit erregte. Auf dieser Aufnahme war das Gesicht des Bourbon Kid deutlich zu sehen. Es war das Gesicht von JD, der gerade zusammen mit Beth dieses Büro verlassen hatte.