EINS

Der Rinnstein war von Regen, Abwasser und Blut überschwemmt. Über der ganzen Stadt lag eine unheilvolle Stille. Dies waren die letzten sichtbaren Überbleibsel des Massakers, das sich einen ganzen Tag lang in Santa Mondega abgespielt hatte. Donner, Blitz und Tod – Halloween war noch nie zuvor in solches Chaos ausgeartet. Und in Santa Mondega wollte das schon etwas heißen.

Wäre das alles in einer anderen Stadt passiert, es hätte überall nur so von Polizisten und Journalisten gewimmelt, die der Sache auf den Grund gehen wollten. Aber falls überhaupt noch irgendwelche Polizisten am Leben waren, würden sie vor dem Morgengrauen keinen Fuß vor die Tür setzen. Die Stadt war ein Tummelfeld für Vampire, und von denen waren nicht gerade wenige selber Cops. In dieser Nacht allerdings waren Cops und Vampire (und insbesondere Vampir-Cops) auch Opfer des Massakers geworden. Die Bewohner von Santa Mondega würden in einer Stadt erwachen, in der das Gesetz keinen Arm mehr hatte.

Gegen vier Uhr morgens wanderten zwei Gestalten über die verlassenen Straßen. Das Mädchen war Anfang zwanzig und trug zu ihren Jeans ein graues Sweatshirt. In der Dunkelheit wirkten die Blutflecke darauf tiefschwarz. Das Blut war aus einer Wunde an ihrem Hals gelaufen, die sie unter ihrem langen Haar versteckte. Ihr Freund, ein junger Mann im gleichen Alter, hatte sie ihr beigebracht. Kurz nach Mitternacht hatte er sie in eine Kreatur der Finsternis verwandelt, so wie auch er selbst eine war.

Seitdem waren sie durch die Stadt gezogen. Jetzt lungerten sie in einer dunklen Ecke vor dem Polizeirevier herum und wollten nachschauen, ob drinnen vielleicht noch jemand lebte. Hier hatte es besonders viele Tote gegeben.

Der junge Mann, Dante Vittori, trat schließlich hinaus ins Licht der Straßenlaternen. Auf seinem blauen Polizeiuniformenhemd, das ihm über die Hose hing, befanden sich diverse große Blutflecken. Er gab seiner Freundin einen Wink, damit sie ihm folgte. Das Revier stand trostlos und verlassen da. Dante ging selbstbewusst darauf zu. Ganz gleich, wer oder was sich vielleicht in der Nähe versteckte, niemand würde es wagen, ihn anzugreifen. Seine Begleiterin verließ jetzt ebenfalls den Schutz der Dunkelheit und rannte hinter ihm her.

»Ich bin wirklich nicht sicher, ob das hier momentan der richtige Aufenthaltsort für uns ist!«, rief sie, als er auf die Betonstufen vor dem Eingang zulief.

»Vertrau mir«, sagte er und drückte die Eingangstür auf. »Dadrin ist was Schönes für dich.« Er spähte durch die Tür, aber es war weit und breit niemand zu sehen.

Kacy war noch nicht ganz überzeugt. »Falls es nicht irgendein Wundermittel ist, das uns zurückverwandelt, bin ich nicht so wahnsinnig interessiert.«

»Komm schon, hier ist niemand«, versicherte Dante und hielt ihr die Tür auf.

Kacy ging hinein und wartete dann auf ihn. Am Empfang herrschte ein einziges Chaos. Die Stille war gespenstisch. Dante ging zum Aufzug am anderen Ende des Eingangsbereichs und vorbei an verschiedenen Schreibtischen und Tresen. Alles, inklusive der Wände und des Fußbodens, war voller Blut. Rechts an der Wand lag die Leiche eines Polizisten. Der obere Teil seines Schädels fehlte.

»Was dem wohl passiert ist?«, fragte Kacy.

»Peto, der Mönch, hat ihm eine verpasst.«

»Der Mönch, dem man den Kopf abgeschlagen hat?«

»Ja, Peto. War ein guter Kerl.«

»Ich hoffe, die Bullen finden seinen Mörder.«

»Ich wär schon überrascht, wenn die auch nur seinen Kopf finden.«

Kacy starrte stirnrunzelnd auf die Leiche des Polizisten. »Und wieso fehlt dem der halbe Schädel, wenn er nur ein paar Schläge abbekommen hat?«

»Nachdem Peto ihn ins Reich der Träume befördert hatte, wollte der Kid sichergehen, dass er nicht wieder aufwacht. Also hat er ihm von hinten in den Kopf geschossen.«

»Hübsch.« Kacy warf noch einen letzten Blick auf den leblosen Körper, dann folgte sie Dante zum Aufzug. »Und wo steckt der Kid jetzt? Wenn wir ihn aufspüren, würde er uns dann helfen?«

Dante schüttelte den Kopf. »Nee. Der Mönch hat dem Kid geholfen, dank des Auges des Mondes seine Seele zurückzubekommen oder so. Und dann ist der Kid durchgedreht, einfach abgehauen und hat uns alleingelassen.«

»Arschloch.«

»Ja, schon. Würde ich ihm aber nicht ins Gesicht sagen.«

Dante drückte den Knopf neben dem Aufzug, der sich daraufhin quietschend in Bewegung setzte. Plötzlich bemerkte Kacy einen widerlichen Geruch.

»Was zum Teufel stinkt hier so?«, fragte sie.

»Scheiße.«

»Was?«

»Das ist Scheiße, die da so stinkt.«

Mit einem Ping öffnete sich die Tür des Aufzugs. Er war von oben bis unten mit Blut und Scheiße verschmiert.

»Oh Gott!« Kacy schlug sich die Hand vor den Mund und wich zurück – nicht nur wegen des Anblicks, sondern auch wegen des grässlichen Gestanks.

»Siehst du.« Dante zeigte auf die braunen Flecken. »Scheiße. Der Kid hat einem der Cops seine Pumpgun in den Arsch geschoben und ihm dann die Gedärme rausgeblasen und die Scheiße überallhin verteilt. Echt eklig.«

»Wollen wir nicht lieber die Treppe nehmen?«, fragte Kacy.

Dante betrat den Aufzug und drückte einen der Knöpfe.

»Komm schon rein. Es ist nur Scheiße. Und Blut.« Er starrte in eine Ecke, die Kacy nicht einsehen konnte. »Okay, und die abgerissenen Eier des Kerls. Vermute ich mal. Sind ziemlich behaart.«

»Ich nehme die Treppe«, entschied Kacy. »Welcher Stock?«

»Keller.«

»Bis gleich.«

Die Aufzugtür schloss sich, und Kacy rannte nach rechts zu einer Tür, hinter der sich das Treppenhaus verbarg. Sie lief die Stufen hinunter in den Keller und kam sogar noch ein paar Sekunden vor dem Aufzug an.

Der Keller beherbergte eine ehemalige Umkleide, die schon bessere Tage gesehen hatte. Hier musste dringend mal gründlich geputzt und renoviert werden. An den Wänden standen Holzbänke, darüber alte Spinde. Der Boden war voller Blut (genauso wie oben in der Empfangshalle) und schwarzer Brandflecken. Und genau wie im Aufzug stank es nach Scheiße und Tod. Auch an den Wänden klebte literweise Blut. Allerdings war es bereits angetrocknet und konnte damit Kacys Gelüste nicht befriedigen, die sie langsam zu quälen begannen. Trotzdem, allein bei dem Anblick bekam sie unglaublichen Hunger.

Der Aufzug machte wieder Ping, die Türen öffneten sich, und Dante kam heraus. Er schaute sich im Keller um.

»Was wollen wir denn hier?«, fragte Kacy.

»Hier befindet sich etwas, das du bestimmt mögen wirst. Na ja, auf jeden Fall ist es was, das du gerade dringend brauchst.«

»Aha. Und was genau? Ein dreckiger Jockstrap?« Kacy warf einen finsteren Blick auf ihre Umgebung.

Dante küsste sie auf die Wange, dann lief er die Spinde an der linken Wand entlang. Dabei starrte er auf den Boden unter den Holzbänken davor. Nachdem er ungefähr zwanzig Spinde abgeschritten war, beugte er sich hinunter und tastete den Boden unter der Bank ab. Dann zog er ein Päckchen hervor, das dort versteckt gewesen war. Grinsend drehte er sich zu Kacy um und entblößte dabei seine spitzen Vampirzähne.

»Was ist das?« Kacy zeigte auf das Päckchen in seinen Händen.

»Fang!«

Er warf es ihr zu. Schon als es sich noch in der Luft befand, erkannte Kacy, dass es sich um einen Beutel mit einer Flüssigkeit handelte. Einer dunklen Flüssigkeit. Geschickt fing sie ihn auf. Der Beute war prall gefüllt mit Blut. Allein der Anblick ließ ihr Herz schneller schlagen, und sie spürte, wie ihre Eckzähne ein Stück wuchsen. Dann überkam sie der unkontrollierbare Trieb. Mit ihren nun messerscharfen Zähnen riss sie den Beutel auf und ließ sich das Blut gierig in den Mund laufen. Es rann ihr über die Lippen, übers Kinn und die Wangen. Jeder Schluck steigerte ihren Rausch. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Reines, pures Adrenalin pulsierte in ihren Adern, und die Welt um sie herum versank. Mit geschlossenen Augen ließ sie sich von einer Welle der Lust davontragen. Kacy fühlte sich auf einmal eins mit dem Universum und ging vollkommen in diesen Empfindungen auf, bis Dante ihr die Hand auf den Arm legte.

»Hey, lass mir noch was übrig«, hörte sie ihn sagen.

Sie öffnete die Augen und holte tief Luft. Dante nahm ihr den Beutel ab. Kaum hatte er ihn in der Hand, verlor auch er jede Selbstbeherrschung und goss sich das Blut in den Mund. Ihm war deutlich anzusehen, dass er dieselbe orgiastische Erfahrung dabei machte, die Kacy eben selbst erlebt hatte.

Nachdem er den Beutel komplett geleert hatte, stand Dante regungslos da, atmete tief durch und blinzelte. Sein Gesichtsausdruck spiegelte extreme Befriedigung. Erst jetzt bemerkte Kacy, dass auch sie selig grinste. Vielleicht war dieses Vampir-Dasein doch nicht so übel.

»War das nicht großartig?«, fragte sie.

»Unglaublich«, bestätigte Dante. »Ich meine, also, als ich dich vorhin gebissen und in einen Vampir verwandelt habe, da habe ich ja auch was von deinem Blut getrunken. Aber das ist überhaupt kein Vergleich mit diesem Zeug. Ist nicht böse gemeint, Süße.«

»Kein Problem.«

»Der Stoff ist echt besser als Heroin.«

»Wann hast du denn Heroin genommen?«

»Hab ich nicht. Nur so ’ne Redensart.«

Kacy strich sich mit dem Finger über die Wange und leckte eine kleine Blutspur ab. »Wo kommt das denn her?«, wollte sie wissen. »Davon sollten wir noch mehr besorgen.«

Dante zuckte mit den Schultern. »Haben wir vorhin hier unten gefunden. Einer der Vampire, den der Kid erledigt hat, hatte es in der Tasche. Wir haben es dann unter den Spind geworfen. Ich wär noch nicht mal im Traum auf Idee gekommen, dass ich es nachher gleich selber trinke.«

Kacy musterte den Beutel. Es befand sich ein weißer Aufkleber darauf, der ganz geblieben war, als sie den Beutel aufgerissen hatte.

»Was steht dadrauf?« Sie zeigte auf den Aufkleber.

Dante drehte den Beutel um und schaute nach.

»Da steht, dass es sich um das Blut eines gewissen Archibald Somers handelt«, sagte er und zuckte wieder die Achseln.

»Archibald Somers«, wiederholte Kacy. »Der Name kommt mir bekannt vor. Wer war denn das?«

»Keine Ahnung, aber das Blut von dem Kerl könnte ich den ganze Tag lang saufen. Ich hab so was noch nie erlebt. War das bei dir eben auch so?«

Kacy nickte. »Ja, einfach unglaublich. Wie kommen wir an Nachschub?«

Dante schien wirklich angestrengt nachzudenken, was für ihn ungewöhnlich war. Schließlich verkündete er: »Ich glaube, ich weiß wo!«

»Echt?«

»Im Nachtclub. The Swamp. Der gehört Vanity, dem Oberhaupt der Shades. Kann sogar sein, dass er Blut für uns dahat.«

»Können wir dem denn vertrauen?«

»Ich denk schon. Na ja, ich gehör ja jetzt zu seinem Clan. Alle anderen Vampire des Clans sind tot. Da wird er sich wahrscheinlich freuen, mich zu sehen, besonders weil ich dich mitbringe. Bestimmt ist er dankbar, weil ich gleich ein neues Clan-Mitglied anschleppe.«

»Hat er denn eine Ahnung, dass du gestern Nacht mit dem Kid und dem Mönch gemeinsame Sache gemacht hast?«

»Gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden. Wir müssen in den Swamp.«

Kacy schaute auf ihre Uhr. »Es ist schon deutlich nach vier Uhr. Sollten wir uns nicht Sorgen machen wegen der Sonne und so?«

»Nee, die wird aufgehen wie an jedem Tag.«

»Das meinte ich damit nicht, du Idiot. Wenn wir als Vampire ins Tageslicht rausgehen – schmelzen wir dann nicht?«

»Ich habe keinen Schimmer.«

»Dann sollten wir einen Zahn zulegen!«

Die beiden hetzten die Treppe hinauf zum Empfangsbereich. Dort war es immer noch gespenstisch still. Glücklicherweise war es draußen stockdunkel. Während Kacy und Dante vorsichtig den Blutlachen auf dem Boden auswichen, erschien vor der doppelten Glastür am Eingang plötzlich das Gesicht eines offensichtlich panischen kleinen Jungen. Er konnte kaum älter als acht Jahre sein. Verzweifelt hämmerte er gegen das Glas und schrie etwas, das wie Helft mir! klang.

Doch bevor Dante und Kacy reagieren konnten, tauchte hinter dem Jungen aus der Dunkelheit eine Gestalt auf. Sie packte ihn und zog ihn von der Tür fort. Eine Sekunde später waren der Kleine und sein viel größerer Angreifer verschwunden.

»Scheiße!«, rief Dante. »Hast du das mitbekommen?«

Kacy versuchte zu begreifen, was sie da eben gesehen hatte. Es war alles so furchtbar schnell gegangen. »Konntest du erkennen, wer den Jungen gepackt hat?«

Dante nickte. »Ja, was für ein durchgedrehter beschissener Dreck! Offenbar sind wir nicht die einzigen Vampire, die zu dieser Uhrzeit noch unterwegs sind.«

»Bist du dem Kerl schon mal begegnet?«

»Ja, aber nur zusammen mit dir, und da war er kein Vampir.«