ACHT

Ulrika Price hatte sich ja schon mit einigen Problemen herumgeschlagen, in den Jahren seit sie die Bibliothek von Santa Mondega leitete. Das hier jedoch war definitiv die schlimmste Katastrophe ihres gesamten Berufslebens. Sie hatte das Buch des Todes verloren, das Rameses Gaius, ihr Herr und Meister, ihr anvertraut hatte. Wann immer er ihr einen Namen nannte, musste sie ihn ins Buch eintragen, und ansonsten hatte sie darauf zu achten, dass es nicht verloren ging. Das waren eigentlich zwei simple Anweisungen. Erst gestern hatte sie drei Namen für Gaius notiert, doch dann war sie kurz unaufmerksam gewesen, und das Buch war verschwunden.

Die ganze Nacht über hatte sie sich hin und her gewälzt und war in Gedanken noch einmal genau durchgegangen, was sie wann getan hatte. Dennoch konnte sie sich einfach nicht vorstellen, was mit dem Buch passiert sein mochte. Wahrscheinlich hatte ihr Praktikant Josh, ein völlig verblödeter Teenager, es aus Versehen in eines der Regale gestellt.

Glücklicherweise war es an diesem Morgen ruhig in der Bibliothek gewesen, sodass Ulrika Zeit hatte, um nach dem Buch zu suchen. Zwei Stunden hatte sie ergebnislos die Regale abgeklappert – das Buch des Todes blieb verschwunden. Nach einem letzten verzweifelten Blick auf den Empfangstresen beschloss Ulrika, Josh anzurufen. Vielleicht bekam sie ja etwas aus ihm heraus. Dies musste wirklich der verzweifelteste Moment ihres Lebens sein, wenn sie auf die Hilfe eines Vollidioten wie Josh angewiesen war. Der Junge konnte sich normalerweise kaum daran erinnern, was er in den letzten drei Minuten gemacht hatte. Es war praktisch hoffnungslos, ihn nach etwas zu fragen, das vierundzwanzig Stunden zurücklag.

Ulrika setzte sich hinter den Tresen, wählte Joshs Nummer und tippte nervös mit ihren langen, knochigen Fingern auf die Tischplatte. Nachdem es bereits ungefähr achtmal geklingelt hatte, nahm Joshs Mutter ab.

»Hallo?«

»Hier ist Ulrika Price von der Bibliothek.«

»Verdammt! Einen Moment, ich hole ihn.«

Joshs Mutter versuchte gar nicht erst, Smalltalk mit Ulrika zu machen. Die beiden hatten einen heftigen Streit gehabt, nachdem Ulrika Josh im Praktikumszeugnis als hirnlosen Pavian bezeichnet hatte. Ulrika hörte ein Fluchen, dann wurde der Hörer fallen gelassen.

Nach einer Weile vernahm sie dann Joshs Stimme. »Hallo, Miss Price.«

»Hallo, Josh, du Idiot. Was hast du gestern mit dem Buch des Todes gemacht?«

»Mit dem was?«

»Auf meinem Tisch hat gestern ein Buch gelegen – das Buch des Todes. Es ist verschwunden. Entweder hast du es woanders hingestellt oder einem Mitglied ausgeliehen.«

»Oh.«

Der Junge klang so ahnungslos wie immer. »Also?«, fragte Ulrika scharf. »Was hast du damit angestellt?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Versuch es, bitte.«

Es folgte ein kurzes Schweigen, dann antwortete Josh: »War das der Sesamstraßen-Sammelband?«

»Nein, warum sollte den jemand das Buch des Todes nennen?«

»Das habe ich mich auch gefragt, als ich das Buch wieder ins Regal gestellt habe.«

Ulrika hob den Kopf. »Du hast es gestern also tatsächlich gesehen?«

»Ja.«

»Wie sah das Buch aus?«

»Na ja, das war so ein großes schwarzes Buch, und auf dem Deckel vorn stand Buch des Todes. Aber Sie sagten zu mir, das wäre der Sesamstraßen-Sammelband.«

»Wieso sollte ich etwas Derartiges behaupten?«

»Weiß nicht, aber Sie meinten, ich muss es noch ins Regal stellen, bevor ich wegkann. Daran erinnere ich mich ganz genau, weil es das Letzte war, was ich erledigt hab, bevor ich nach Hause gegangen bin.«

Ulrika seufzte tief. »Schön, du dachtest demnach, es wäre der Sesamstraßen-Sammelband. Darf ich dann davon ausgehen, dass sich das Buch in der Kinderabteilung befindet?«

»Nein, ich habe es bei den Referenzwerken einsortiert.«

»Und wieso da?«

»Weil ich alle Bücher da einräume.«

»Mistkerl.«

»Es steht unter A für Anonymus.«

Ulrika verdrehte die Augen. Eine Unterhaltung mit Josh konnte wirklich nervtötend sein. »Immerhin etwas. Danke. Ach eines noch – lass dich hier nie wieder sehen. Jemanden wie dich kann ich nicht gebrauchen.«

»Kein Problem. Ist das alles?«

»Ja. Dann auf Wiedersehen und meinen tief empfundenen Dank für deine versammelten Unfähigkeiten.«

»Einen Moment noch, Miss Price, ich möchte Ihnen was sagen.«

»Was denn?«

»Sie stinken.«

Damit legte Josh auf. Ulrika knallte frustriert den Hörer auf die Gabel. Egal wie dämlich und unhöflich dieser Josh auch war, jetzt wusste sie wenigstens, wo sie das Buch fand. Sie lief hinüber zu den Referenzwerken und suchte unter A für Anonymus.

Es gab eine ganze Menge beachtlicher Bücher, deren Verfasser anonym geblieben waren, aber Ulrika interessierte sich im Moment nur für das Buch des Todes. Doch nach zehnminütiger Suche stand sie noch immer mit leeren Händen da. Entweder hatte Josh Unsinn erzählt, oder aber jemand hatte das Buch entliehen, nachdem es hier im Regal gelandet war.

Der einzige Mensch, der in die Bibliothek gekommen war, nachdem Josh sich verabschiedet hatte, war Sanchez Garcia gewesen, der Barmann des Tapioca. Ulrika versuchte, sich genau daran zu erinnern, was er in der Bibliothek gemacht hatte. Ja, er hatte sich tatsächlich in der Referenzabteilung aufgehalten und schließlich einen Analsexführer für schwule Männer ausgeliehen. Das war Ulrika gleich seltsam vorgekommen. Sanchez war zwar unerfahren, was Frauen anging, aber für schwul hielt Ulrika ihn nicht. Ganz im Gegenteil hatte sie ihn ein paar Mal dabei erwischt, wie er ihr in den Ausschnitt starrte, und außerdem war er modisch völlig unterbelichtet.

Sie lief zum Computer, um die Anwesenheitsliste vom Abend zuvor zu überprüfen. War zum fraglichen Zeitpunkt vielleicht doch noch jemand anders da gewesen? Falls nicht, wurde Sanchez damit endgültig zum Hauptverdächtigen, was das Verschwinden des Buchs anging.

Als sie sich gerade vor den Computer gesetzt hatte, klingelte das Telefon. Trotz ihrer Nervosität meldete Ulrika sich überraschend freundlich.

»Stadtbibliothek, hallo?«

»Ulrika?«

Sie erkannte die Stimme sofort. Es war Rameses Gaius. Ein Schauer überlief Ulrika.

»Hallo, Rameses!« Man hörte, dass sie Angst hatte.

»Hast du die Namen im Buch des Todes notiert, wie ich es befohlen habe?«

»Natürlich.«

»Lies sie mir bitte noch einmal vor. Ich muss überprüfen, was du genau aufgeschrieben hast.«

»Oh, hm.« Ulrika versuchte, sich die Namen ins Gedächtnis zu rufen.

»Na los, mach schon«, schimpfte Gaius. »Hast du die Nachrichten etwa nicht gesehen? Angeblich soll der Bourbon Kid noch am Leben sein. Das ist jetzt sehr wichtig. Welche Namen stehen im Buch?«

Ulrika zuckte zusammen. Sie hatte die Namen vergessen, und unter diesem Druck würden sie ihr ganz bestimmt nicht wieder einfallen. »Einer war John Doe.«

»Korrekt.«

»Die anderen beiden hab ich vergessen«, jammerte sie.

»Dann schau im Buch nach, verflucht.«

Ulrika schluckte. »Das kann ich gerade nicht finden«, gestand sie dann leise.

»Was?«

»Ich glaube, es ist ausgeliehen.«

»Ausgeliehen? Seit wann erlaubst du, dass irgendwelche Leute sich das Buch des Todes ausleihen?«

»Das habe ich nicht. Mein Praktikant hat die Sache vermasselt. Aber ich glaube, ich weiß, wer es hat. Ich setze mich jetzt auf seine Spur, und in einer Stunde ist das Buch wieder da.«

Ulrika hörte an seiner Atmung, wie wütend Rameses Gaius war. »Wenn sich das Buch heute Mittag nicht wieder bei dir in der Bibliothek befindet, schicke ich meine Tochter Jessica. Die wird dir dann bei der Suche helfen. Und eines lass dir gesagt sein – Jessica kann dich nicht ausstehen.«

»Ja, Sir.«

Gaius legte auf. Ulrika blieb einen Augenblick lang still sitzen und holte ein paar Mal tief Luft, um sich zu beruhigen. Das Buch war weg, und ihr blieben nur zwei Stunden, um es wieder aufzutreiben.

»Guten Morgen, Ulrika«, hörte sie die Stimme eines Mannes. Überrascht hob Ulrika den Kopf. Rick, der Besitzer des Olé Au Lait, ging am Tresen vorbei Richtung Ausgang. Ulrika hatte überhaupt nicht bemerkt, wie er hereingekommen war, sie musste in dem Moment gerade mit Gaius telefoniert haben. Sie mochte Rick genauso wenig wie irgendeinen der anderen Bewohner dieser Stadt und ignorierte ihn einfach, bis er schon halb die Treppe hinunter war. Dann flüsterte sie ihm ein leises Fick dich hinterher.

Sie musste unbedingt das Buch des Todes wiederbeschaffen. Und ihr Hauptverdächtiger war Sanchez Garcia.