♦ ZWEIUNDSECHZIG
In Rae’s Diner tobte endlich mal wieder das Leben, und sämtliche Gäste schienen gute Laune zu haben. Alle begrüßten einander und quatschten, und das in einer Stadt, in der man bisher mit niemandem ein Wort gewechselt hatte, den man nicht kannte. Draußen schien die Sonne, und die Zeit, in der Untote in der Dunkelheit auf ihre Opfer lauerten, war nun endgültig vorbei.
Kacy nahm sich eine Pommes von ihrem Teller und knabberte daran. Ihr gegenüber auf der Bank saß Dante. Er trug mal wieder eines seiner knallbunten Hawaiihemden und schaufelte sich mit der Hand die Fritten in den Mund, immer drei, vier auf einmal. Mit der anderen Hand stopfte er sich zwischendurch seinen Cheeseburger in den Mund. Dante war der König des Fast Food. Er schaffte es sogar, immer wieder durch einen Strohhalm dabei Cola zu trinken, ohne etwas aus der Hand zu legen.
»Schmeckt’s?«, fragte Kacy.
Dante schmatzte anerkennend und nickte. Dass sie ihr Essen kaum angerührt hatte, fiel ihm gar nicht auf. Obwohl Cheeseburger und Fritten deutlich nahrhafter waren als Blut, hatte Kacy sich noch nicht wieder an normales Essen gewöhnt, seit sie wieder ein Mensch war. Außerdem zerbrach sie sich immer noch über einige Sachen den Kopf, die Dante nicht mehr die Bohne interessierten. Zum Beispiel darüber, was sie mit dem Auge des Mondes machen sollten. Sie aß die Pommes auf und spielte an dem blauen Stein herum, der an einer silbernen Kette um ihrem Hals hing. Dort, über ihrem hübschen Dekolleté, konnte jeder ihn sehen.
»Ich glaub, ich will das nicht mehr.«
Dante zuckte mit den Schultern. »Dann gib’s mir. Ich ess das auf.«
»Ich meine nicht den Burger, sondern das Auge des Mondes.«
Dante hörte auf, Fast Food in sich hineinzustopfen, und sah sie für seine Verhältnisse ungewöhnlich besorgt an. »Was?«, fragte er mit vollem Mund, sodass man ein Stück angekauten Burger darin erkennen konnte.
»Wir sollten uns davon trennen.«
»Aber das ist ein Vermögen wert.«
»Ich weiß, und trotzdem bringt es nur Unglück. Denk doch mal daran, wie viele Menschen wegen des Auges gestorben sind.«
Dante rieb seine Hände und griff dann nach der Serviette neben seinem Teller, um sich das Fett von den Fingern zu wischen. »Solange wir den Stein haben, werden wir nie mehr krank, und du bist unverwundbar, wenn du ihn trägst. Wieso sollten wir ihn da nicht behalten?« Er trank einen Schluck Cola, bevor er fortfuhr. »Wir müssen damit niemals Angst vor irgendeiner schlimmen Krankheit haben.«
»Stimmt«, gab Kacy zu. »Dafür können wir aber nie ruhig schlafen, weil es immer Leute geben wird, die bereit sind, für das Auge zu töten.«
Dante schien einen Moment lang angestrengt nachzudenken, dann nahm er sich eine Pommes, steckte sie aber ausnahmsweise mal nicht gleich in den Mund. »Tja, ich hatte gedacht, dass der Bourbon Kid es sich inzwischen längst wiedergeholt hätte.«
»Seitdem ist eine Woche vergangen. Wenn er den Stein wirklich haben wollte, wäre er längst da gewesen.«
»Da hast du wohl recht. Und was willst du jetzt mit dem Auge machen?«
Kacy blickte durchs Fenster nach draußen auf die Straße. Das Diner, in dem sie gerade saßen, befand sich an der Hafenpromenade. Sie zeigte hinaus aufs Meer. »Ich dachte, wir könnten bis ans Ende vom Pier gehen und es dann ins Wasser werfen«, sagte sie zögerlich und hoffte, dass Dante jetzt nicht wütend wurde.
Ein paar Sekunden schaute er sie nur an, um festzustellen, ob es ihr ernst damit war. Schließlich wischte er sich einen Ketchupfleck vom Mundwinkel und leckte sich dann den Finger mit der roten Sauce daran ab. »Und was machen wir, falls du eines Tages krank wirst? Kommen wir dann hierher zurück und suchen den Meeresboden ab?«
Kacy schüttelte den Kopf. »Nein. Die Heilkräfte dieses Dings stehen mit den Naturgesetzen auf Kriegsfuß. Ich möchte, dass wir beide zusammen alt werden, uns genau wie jedes andere Paar möglichen Problemen stellen und sie gemeinsam bewältigen.«
Dante lächelte sein jungenhaftes Lächeln, das er immer einsetzte, wenn er etwas von Kacy wollte, auf das sie keine Lust hatte. »Zusammen alt werden, hm?«
»Ja.«
Dante rief die Kellnerin. »Die Rechnung bitte!« Er wandte sich wieder Kacy zu. »Okay, dann schmeißen wir diesen Stein jetzt ins Meer. Ich wünsche mir nämlich nichts so sehr, wie mit dir alt zu werden. Komm, lass uns hier abhauen und zum Pier gehen.«
»Bist du sicher?«
»Verdammt sicher.«
Nachdem sie gezahlt hatten, verließen die beiden das Diner und spazierten die Promenade entlang hinunter zum Pier. Die Sonne stand hoch am Himmel, und der letzte Schnee war längst geschmolzen. Dante hatte die ganze Zeit den Arm um Kacy gelegt und drückte sie ab und zu ganz fest. Es war großartig, dass sie wieder als normale Menschen zusammen sein konnten und zur Abwechslung mal keine neuen Gefahren lauerten. Auf der Promenade gingen noch andere verliebte Paare und Familien spazieren. Wo man auch hinsah, alle wirkten glücklich und unbeschwert
»Weißt du, was?«, fragte Kacy vorsichtig. »Wir sind gar nicht mehr dazu gekommen, den Tag für die Hochzeit festzusetzen.«
Dante blieb stehen. »Welche Hochzeit?«
»Kannst du dich etwa nicht mehr daran erinnern, dass du mir einen Antrag gemacht hast, kurz bevor diese ganze Scheiße losging?«
Verwirrt kratzte Dante sich am Kopf. »Echt?«
»Ja, als wir bei der Wahrsagerin waren.«
»Ach ja? Und wo ist dann dein Verlobungsring?«
»Ich hab keinen.«
Dante schob die Hand in eine seiner Hosentaschen und zog etwas heraus, das er dann in die Höhe hielt. »Bist du sicher?«
Kacys Augen leuchteten. Es war ein schmaler goldener Ring mit einem pinkfarbenen Diamanten in Herzform darauf.
»Oh Gott«, platzte es aus Kacy heraus. Sie rang nach den richtigen Worten, um ihre Gefühle auszudrücken.
Dante nahm ihre linke Hand und steckte ihr den Ring an. »Ich würd mich ja auch hinknien. Aber um ehrlich zu sein, ist mir das zu blöd.«
Kacy hörte kaum, was er noch sagte. Sie starrte den Ring auf ihrem Finger an. Er war wunderschön, genau so einen hätte sie sich auch selbst ausgesucht. Und zu allem Überfluss passte er auch noch. Überglücklich warf sie sich Dante an den Hals und küsste ihn auf den Mund. Er legte ihr die Hände auf den Arsch und kniff hinein. Nach ein paar Sekunden machte Kacy sich von ihm los und starrte wieder den Ring an.
»Woher wusstest du, dass er mir gefallen würde?«, fragte sie und versuchte, nicht allzu überrascht zu klingen.
Dante zuckte mit den Schultern. »Na ja, pink, Gold, teuer. Das war sogar mir klar.«
»Ich liebe ihn!«, sagte sie und konnte den Blick noch immer nicht von dem Ring abwenden.
»Für meine Frau ist das Beste gerade gut genug.«
Die beiden gingen weiter, bis sie den alten Pier mit seinen verwitterten Holzplanken erreicht hatten. Endlich konnte Kacy ihren Blick von dem Ring abwenden und hob den Kopf. Am Ende des Piers stand eine einsame Gestalt und blickte zum Horizont. Es war Beth. Sie trug eine zerrissene Jeans, eine blaue Strickjacke und hatte die Hände in die Taschen gesteckt.
»Was macht sie denn bloß hier?«, fragte Dante.
»Wahrscheinlich ist der Pier einfach der richtige Ort, wenn man mal allein sein will und seine Gedanken ordnen«, antwortete Kacy.
»Ja, oder wenn man unbedingt überfallen werden will.«
Kacy stupste ihn mit dem Ellbogen an, damit er leiser sprach. »Sei nicht so unhöflich«, sagte sie dann.
Möglicherweise hatte Beth sie gehört, denn sie drehte sich jetzt zu ihnen um. Man sah, dass sie geweint hatte. Kacy und Dante gingen zu ihr, und sie wischte sich schnell mit dem Ärmel die Tränen weg.
»Hallo, Beth«, sagte Kacy und lächelte sie mitfühlend an.
Beth erwiderte das Lächeln. »Hey, was macht ihr beide denn hier?«
Kacy hielt ihre linke Hand hoch und zeigte Beth ihren Verlobungsring. »Den habe ich gerade von Dante bekommen.«
Man konnte sehen, wie sehr Beth sich für sie freute. »Mann, ist der schön!« Sie kam näher, um sich den Ring genauer anzusehen.
»Danke.«
Während die beiden Frauen noch den Ring bewunderten, sagte Dante: »Beth, wir haben das Auge des Mondes noch, wollen es aber nicht mehr behalten. Möchtest du es haben?«
Beth hörte auf, Kacys Ring anzuglotzen, und schüttelte den Kopf. »Das Auge bringt nur Unglück.«
Kacy nahm die Kette mit dem Stein daran ab und hielt sie Beth hin. »Wir wollten das Auge hier im Meer versenken.«
»Darf ich das machen?«, fragte Beth.
»Natürlich!«
Beth nahm den blauen Stein entgegen. »Willst du die Kette behalten, Kacy?«
»Nein, nein. Die ist nicht viel wert. Schmeiß sie mit ins Meer.«
»Sicher?«
»Ja, und jetzt los! Wirf das Auge so weit weg, wie du kannst!«
Beth musterte die Kette in ihrer Hand. Das Auge des Mondes war ein wunderschöner Stein, aber es hatte in Santa Mondega einfach zu viele Tote seinetwegen gegeben. Das Auge zu behalten, war einfach zu gefährlich. »Ich hab hier schon mal eine Kette ins Meer geworfen«, sagte sie und hatte wieder Tränen in den Augen. »Und danach ist JD zu mir zurückgekommen.«
Kacy strich ihr tröstend über den Arm. »Dann solltest definitiv du das jetzt übernehmen. Vielleicht ist es ein Symbol dafür, dass er auch diesmal zurückkommt.«
Die beiden Frauen umarmten sich schnell, und Kacy wusste, dass sie mit Beth eine neue Freundin gefunden hatte. Schließlich machte Beth sich frei und ging zum Ende des Piers. Kacy beobachtete, wie sie das Auge des Mondes nach einem letzten Blick mit aller Kraft hinaus aufs Meer schleuderte. Der Stein traf auf die Wasseroberfläche, ging mit einem sanften Plopp unter und war verschwunden.
Beth drehte sich nicht sofort wieder um. Stattdessen schaute sie weiter aufs Meer und zum Horizont, als würde sie sich aus der Richtung eine Antwort versprechen.
Dante schlich sich von hinten an Kacy heran und legte ihr die Arme um die Taille. »Ist genau wie das Ende von Top Gun«, sagte er. »Da hat Maverick doch Gooses Hundemarke ins Meer geworfen, erinnerst du dich?«
Kacy lehnte den Kopf an seine Schulter. »Süßer, mit Top Gun hat das hier absolut gar nichts zu tun.«
»Doch, find ich schon.«
Die beiden stritten noch eine Weile über die Top-Gun-Parallele, während Beth weiter aufs Meer schaute. Schließlich verließen die drei den Hafen und machten sich auf den Weg ins Tapioca, um zu feiern.