♦ FÜNFUNDFÜNFZIG
Sanchez öffnete die Fronttür der Casa de Ville und spähte hinaus auf den Hof. Wie er befürchtet hatte, zerfetzten sich hier nach wie vor Vampire, Zombies und Werwölfe gegenseitig und verspritzten Blut und Gedärme überall auf dem Hof im Schnee. Beunruhigenderweise zerfetzten sich etliche von ihnen auch zwischen ihm und dem Streifenwagen, den Flake dicht am Fuß der Betontreppe vor ihm abgestellt hatte. Es würde sich als schwierig und gefährlich erweisen, den Wagen zu erreichen.
Er drehte sich um und sah nach, wo die anderen blieben. An der Rückseite der Empfangshalle hielt Flake eine Tür offen, damit der Bourbon Kid Beth hindurchtragen konnte. Er hielt sie auf den Armen und stützte ihr den Kopf mit dem linken Bizeps, damit er nicht nach hinten hing und ihr Unbehagen bereitete. Die Zeit der Frau auf dieser Erde war begrenzt, so viel konnte Sanchez erkennen. Beth war kaum bei Bewusstsein und schien nichts von dem mitzubekommen, was hier ablief. Glückliches Miststück.
Flake ließ die Tür los und rannte an den beiden vorbei auf Sanchez zu. »Wie sieht es draußen aus?«, fragte sie.
»Nicht allzu schlimm«, antwortete er. »Hier, am besten halte ich diese Tür für die anderen auf, während du schon mal den Wagen startest.«
»Okay«, sagte Flake. »Gut überlegt.«
Sanchez hielt die Tür für sie offen und wies ihr den Weg ins Freie. Sie hielt das Buch ohne Namen unterm Arm, und so dachte er sich, dass sie vermutlich relativ sicher war. Während sie die Treppe hinab zum Wagen stürmte, hielt sie das Buch vor sich, um zu verhindern, dass irgendetwas sie attackierte.
Sanchez drehte sich um und sah den Bourbon Kid mit Beth näher kommen. »Flake startet gerade den Wagen«, sagte er. »Er steht gleich hier draußen. Geh du schon durch. Ich halte dir den Rücken frei.«
Der Kid betrachtete durch die offene Tür hindurch das Gemetzel da draußen. Dann blickte er Sanchez an. »Bist du sicher, dass du nicht auch noch von mir hinausgetragen werden möchtest?«, fragte er.
Das Angebot reizte, aber Sanchez spürte, dass der Kid nur sarkastisch war. »Ich komm schon klar. Los, auf geht’s!«
Der Kid ging durch die Tür und achtete sorgsam darauf, nicht Beths Kopf an den Türrahmen zu knallen. Sanchez zog den Schlagstock aus dem Gürtel und folgte dem Kid ins Freie.
Flake hatte den Motor schon angeworfen und setzte den Wagen gerade an die Treppe zurück, um dafür zu sorgen, dass der Weg vom Haupteingang zum Auto so kurz wie möglich war. Sie schaltete auch die Scheinwerfer ein, womit sie die Aufmerksamkeit einiger untoter Kreaturen in der Nähe weckte. Sanchez versetzte dem Bourbon Kid einen Stoß in den Rücken, damit dieser schneller machte, nur für den Fall, dass sich irgendein Vampir oder Werwolf zum Angriff entschied. Der Kid schritt rasch die Stufen hinab zum Wagen. Die meisten Untoten wussten sehr genau, mit wem sie es hier zu tun hatten, und hielten gehörigen Abstand zu ihm. Sanchez nutzte die Situation und folgte dem Kid im Windschatten, und er hielt nur kurz an, um einem beinlosen Zombie den Gummiknüppel über den Schädel zu ziehen.
Sie erreichten den Wagen, ohne belästigt zu werden. Sanchez lief am Kid vorbei, um die hintere Tür zu öffnen, und hoffte, hineinspringen zu können, ehe irgendein Vampir auf ihn herabstieß. Als er die Tür gerade öffnete, rutschte er auf der vereisten Einfahrt aus und landete auf dem Hintern. Der Kid spazierte heran und setzte Beth vorsichtig auf die Rückbank. Er stieg nach ihr ein und zog die Fahrzeugtür hinter sich zu.
Sanchez rappelte sich schwankend auf und sah einen riesigen Werwolf über die Einfahrt auf sich zustürmen. Es war ein großes haariges Untier, das die Gestalt eines riesigen Wolfshundes angenommen hatte. Wahrscheinlich war er reinrassig, war als Werwolf bei Vollmond geboren worden. Die Schlimmsten. Er wies mächtige große Fangzähne auf und hielt die blutrünstigen Augen auf Sanchez gerichtet. Es machte keinerlei Sinn, zu trödeln und darauf zu warten, dass dieser Unhold noch näher kam. Als Sanchez jedoch Richtung Fahrzeug tapste, sprang das Untier hoch und machte einen Satz auf ihn zu, die Zähne gebleckt, bereit, ihm voll ins Gesicht zu beißen.
Zum Glück hatte Flake den Werwolf anstürmen sehen. Sie griff vom Fahrersitz aus hinüber und stieß die Beifahrertür weit auf. Diese schmetterte dem Wolf ins Gesicht, begleitet von einem Übelkeit erregenden Knirschen. Das Untier flog ein Stück weit über die Einfahrt zurück und jaulte vor Schmerzen auf.
Sanchez benötigte keine zweite Einladung, duckte sich auf den Beifahrersitz und schlug die Tür hinter sich zu. Er blickte Flake an. »Verdammt, bring uns hier weg!«, brüllte er.
Flake brauchte dazu im Grunde keine Aufforderung. Sie rammte das Gaspedal nieder, und der Wagen schoss die Einfahrt hinab. Vampire, Zombies und Werwölfe landeten auf der Motorhaube, während das Fahrzeug den vereisten Weg zum Tor entlangkreischte.
»Versuchst du sie alle zu rammen?«, fragte Sanchez, als das Gesicht eines Pandas direkt vor ihm an die Windschutzscheibe platschte.
»Es ist irgendwie schwer, ihnen auszuweichen«, sagte Flake und kämpfte mit dem Lenkrad.
Sanchez blickte hinter sich zur Rückbank. Der Bourbon Kid hatte Beths Kopf auf den Schoß genommen. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht und wickelte ihr einen weißen Lappen um den Hals, um den Blutfluss aus der Wunde zu stoppen, die Jessica ihr zugefügt hatte.
»Wie sieht’s aus, Mann?«, fragte Sanchez.
»Nicht gut. Wir müssen das Museum innerhalb der nächsten paar Minuten erreichen, wenn wir auch nur die geringste Chance haben wollen, sie zu retten.«
»Es ist schon halb zwölf!«, schrie Flake.
»Dann bleibt mir nur eine halbe Stunde«, sagte der Kid. »Gib ordentlich Gas, Flake.«
»Alles klar.«
Sanchez drehte sich wieder nach vorn um und sah, wie Flake den Wagen zum Tor hinauslenkte und sich auf der Straße nach links wandte. »Jesus, Flake, Stevie Wonder fährt besser als du!«, brüllte er.
»Und er spielt besser Klavier als du, also halt die Klappe«, erfolgte die Antwort.
Sanchez ignorierte die Beleidigung. Er war einfach nur erleichtert, zu sehen, dass die in die Stadt führende Straße frei von untoten Monstern war. Schon früher, wenn er mit Flake fuhr, hatte er ihrem Fahrstil keinen Beifall gespendet. Sie hatte die Angewohnheit, alle dreißig Sekunden mit etwas zusammenzustoßen, ob es nun ein Vampir, ein Werwolf, ein Zombie oder nur ein Buch war. Wenn Sanchez etwas ummähte, zum Beispiel einen Schneemann, geschah dies wenigstens mit Absicht. Mit Flake am Steuer musste er seine Grundposition einnehmen: das Armaturenbrett mit beiden Händen fest packen und auf das Beste hoffen. Ein kleines Wunder hatte zur Folge, dass Flake während der restlichen Fahrt zum Museum mit nichts weiter zusammenstieß, ungeachtet der vereisten Straßen und ihrer hohen Geschwindigkeit.
Nach einer zehnminütigen Achterbahnfahrt durch die Stadt parkte sie den Wagen direkt vor dem Museum.
»Wir sind da!«, brüllte sie zum Kid hinter ihr.
Der Kid öffnete schon die Tür und stieg aus. Er knallte sie hinter sich wieder zu und trat auf den Bürgersteig. Statt schnurstracks ins Museum zu stürmen, klopfte er an Sanchez’ Fenster. Sanchez drehte es ein paar Zoll weit herunter.
»Wassislos?«, fragte er.
Der Kid beugte sich so weit durch die Fensteröffnung, wie er konnte. »Flake, kümmere dich für mich um Beth. Ich bin zurück, so schnell ich kann.«
»Klar doch«, sagte Flake. »Viel Glück!«
Der Kid rannte die Stufen zum Museum hinauf. Sanchez kurbelte das Fenster wieder hoch und blickte über die Schulter zum Rücksitz. Beth lag bewusstlos da, den Kopf an den Sitz gelehnt. Sie atmete kaum. Es war absolut möglich, dass sie jede Minute entweder starb oder sich in einen Vampir verwandelte. »Wir bleiben lieber hier vorn«, schlug er vor.
Flake blickte ihn finster an. »Sie stirbt, um Himmels willen! Ich setze mich nach hinten zu ihr und sorge dafür, dass sie okay ist.«
»Na gut«, sagte Sanchez. Er beugte sich vor und hob das Buch ohne Namen auf, das Flake in seinen Fußraum geworfen hatte, als sie in den Wagen gestiegen war. »Ich halte das Buch bereit, nur für den Fall, dass sie sich verwandelt und wir sie umbringen müssen.«
Flake hatte gerade die Fahrertür geöffnet, um auszusteigen. Sie zögerte und blickte das Buch ohne Namen in Sanchez’ Händen an. »Oh Scheiße!«, sagte sie und machte große Augen. »Der Kid ist ohne das Buch ins Museum gelaufen! Nimm es lieber und lauf ihm nach!«
»Was?«
»Ich hab ihm versprochen, bei Beth zu bleiben. Du läufst lieber dem Kid nach und gibst ihm das Buch. Ohne das Buch wird es ihm nie gelingen, das Auge des Mondes herauszuholen!«
Sanchez blickte auf seiner Seite zum Fenster hinaus. Der Haupteingang des Museums stand offen. Der Kid hatte ihn bereits durchquert. Wenn Sanchez ihn noch einholen wollte, ehe der Kid vor Rameses Gaius stand, musste er sich beeilen. Er klemmte sich das Buch ohne Namen unter den Arm und öffnete die Fahrzeugtür. Gerade als er ausstieg, rannte Flake von der anderen Seite herüber. Sie öffnete die hintere Tür, um dort einzusteigen und sich um Beth zu kümmern. Ehe sie einstieg, zögerte sie. Dann streckte sie die Hand aus und packte Sanchez am Arm. Sie zog ihn zu sich heran.
»Was ist denn jetzt?«, fragte er.
»Ich möchte mich dafür bedanken, dass du mich aus dem Feuer gezogen hast.«
»Oh. Ja klar.« Er ertappte sich dabei, wie er rot wurde, während er an den Augenblick zurückdachte, an dem er sie vom Feuer weggezerrt hatte. »Na ja, weißt du«, nuschelte er, »du bist meine Rückfahrgelegenheit nach Hause.«
Flake knuffte ihn verspielt in den Bauch. »Da drin brauchen sie dich«, sagte sie und deutete zum Museum. »Geh und spiel wieder den Helden. Viel Glück.«