♦ ACHTUNDZWANZIG
JD wusste nicht, wie lange die Fahrt schon dauerte. In Gedanken war er immer wieder die verschiedenen Szenarios durchgegangen, mit denen diese Reise möglicherweise enden würde. Und natürlich fragte er sich immer wieder, was wohl aus Beth geworden war. JD hatte keine Ahnung, ob sie überhaupt noch lebte. Er wusste nur, dass er nicht der richtige Mann für eine Rettungsaktion war – oder einen Rachefeldzug, falls der notwendig werden sollte. Das war eine Aufgabe für den Bourbon Kid, also für den Mann, der er einmal gewesen war. Äußerlich mochte man ihm keinen Unterschied ansehen, aber JD wusste es besser. Er besaß jetzt ein Gewissen und, was noch entscheidender war, eine Seele. Und diese Seele würde er im Devil’s Graveyard als Pfand einsetzen.
Die Fahrt war schnell vergangen, die Umgebung nur so am Fenster vorbeigeflogen, bis JD sich an einer Stelle des Highways befand, die ihm bekannt vorkam. Hier war er schon mal gewesen, aber das war jetzt fast zehn Jahre her. Es hatte sich nichts verändert, die Wüste rechts und links war noch immer genauso öd und leer wie damals. Der Himmel war strahlend blau und klar, ein auffälliger Kontrast zu den schwarzen Wolken über Santa Mondega. JD raste über den Mittelstreifen und hörte nichts als das Motorengeräusch seines staubigen V8 Inceptors.
Als er an einem ausgebrannten alten Streifenwagen am Rand der Autobahn vorbeifuhr, wusste er, dass es nun nicht mehr weit sein konnte. Der kaputte Wagen erinnerte ihn an die Verfolgungsjagd, die er sich bei seinem letzten Besuch auf dem Devil’s Graveyard mit der Polizei geliefert hatte. Er hatte mehrere Streifenwagen von der Straße abgedrängt und unter Beschuss genommen und eigentlich nie sein Ziel verfehlt – egal ob nun Reifen oder Köpfe.
Ein paar Meilen weiter passierte er eine verfallene Raststätte mit dem einfallsreichen Namen Joe’s Gas and Diner. Während sie hinter ihm verschwand, drosselte JD das Tempo. Vor ihm gabelte sich die Straße.
Er hatte Devil’s Crossroads erreicht.
JD bremste ab, fuhr an den Straßenrand und parkte vor der Kreuzung, bevor er den Motor ganz abstellte. Es war weit und breit niemand zu sehen. Keine Menschenseele. Trotzdem war er definitiv am richtigen Ort. Er musste einen Pakt mit dem Teufel schließen – ungefähr so wie Robert Johnson damals im Jahr 1931.
JD öffnete die Wagentür und stieg aus. Auf dem Devil’s Graveyard herrschte eine gespenstische Stille, ganz so, als wäre dieser Ort nicht von dieser Welt. JD spürte eine leichte Brise im Gesicht. Die Hacken seiner schwarzen Stiefel knirschten bei jedem Schritt im Sand. Es war der einzige Beweis, dass er das alles nicht einfach nur träumte.
Die Kreuzung sah noch genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Das Hinweisschild mit den Namen der hier zusammentreffenden Straßen fehlte genauso wie vor zehn Jahren. Falls er sich nicht irrte, hatte das inzwischen verschwundene Hotel Pasadena ein paar Meilen weiter geradeaus und dann rechts gestanden. Doch wo führten die anderen Straßen dieser Kreuzung hin? Er spähte nach links. Dort gab es nichts zu sehen außer noch mehr Wüste und orangefarbene Berge in der Ferne. Derselbe Anblick überall, egal in welche der vier Himmelsrichtungen man schaute. Während er noch verloren dastand, hörte er endlich die Stimme, auf die er gewartet hatte.
»Ich habe mich schon gefragt, wann du wohl wiederkommst.«
Es war Jacko. Der Bluesman.
Sein alter Bekannter kam von Osten her über die Straße auf JD zu und trug einen schwarzen Gitarrenkasten bei sich. Er trug noch immer den schwarzen Anzug, den Hut und die Pilotenbrille, die ihm der Bourbon Kid damals für seinen Auftritt im Back-from-the-Dead-Wettbewerb gegeben hatte. Natürlich war er als einer der Blues Brothers aufgetreten. Er schien seitdem keinen Tag älter geworden zu sein und sah noch immer genauso aus wie der junge Musiker, der auf seinen ganz großen Durchbruch wartete.
»Du schuldest mir noch eine Sonnenbrille«, sagte JD.
»Ich freu mich auch, dich zu sehen.«
»Weißt du, warum ich hier bin?«
»Sicher.«
JD war erleichtert, dass er Jacko nicht erst alles lang und breit erklären musste (der konnte nämlich ziemlich anstrengend und kryptisch sein). Dass Jacko den Grund für seine Rückkehr zum Devil’s Graveyard kannte, wunderte JD nicht. Er war immer fest davon ausgegangen, dass sich ihre Wege nochmal kreuzen würden. Das war ihnen beiden schon beim letzten Mal klar gewesen.
»Und was jetzt?«, fragte JD.
»Ich kann ein Treffen arrangieren.«
»Dann tu das.«
Jacko schüttelte den Kopf und lächelte. »Willst du wirklich so enden wie ich?«, fragte er. »Und für alle Zeiten über den Graveyard wandern?«
JD zuckte mit den Schultern. »Das wär nicht so schlimm, würde mich nur nerven, dass du auch da bist.«
»Du änderst dich wohl nie, was?«
»Doch, leider hab ich mich geändert. Andernfalls wäre ich jetzt nicht hier.«
»Es war immer klar, dass du wiederkommen würdest, du hast es damals nur nicht gewusst.«
»Du musst für mich den Kontakt herstellen.«
Jacko stellte den Gitarrenkasten auf der Straße ab. »Zu wem willst du?«
»Was meinst du wohl?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Ich suche einen Mann in Rot.«
JD hörte eine Stimme in seinem Rücken. »Ich bin hier. Du musstest nur laut nach mir fragen.«
JD griff in seine Jacke und zückte die Waffe. Dann wirbelte er herum und zielte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. An seinem V8 Interceptor lehnte ein schwarzer Mann in einem roten Anzug. Er trug eine Melone und grinste breit. Seine Zähne blinkten, als würde sich die Sonne darin spiegeln, und seine Augen waren so gelb wie der Wüstensand.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte JD, ohne die Pistole zu senken.
Der Mann in Rot streckte JD die Hand hin und wartete darauf, dass er sie schüttelte. Dem blieb in seiner Situation gar nichts anderes übrig.
Absolut nichts.
JD steckte die Waffe zurück in seine Lederjacke. Er war von so weit hergekommen, um mit diesem Mann einen Pakt zu schließen, daher würde er ihm jetzt auch die Hand schütteln. Mit einem tiefen Blick in die gelben Augen des Mannes nahm JD die Hand und schüttelte sie. Es war ein fester Händedruck, nicht unangenehm, dennoch war JD froh, als sein Gegenüber losließ. Schnell zog er seine Hand wieder zurück.
Der Mann in Rot setzte sich auf die Motorhaube und machte es sich in der gleißenden Sonne bequem. »Ich wollte dich schon lange mal kennenlernen«, sagte er. »Bei deinem letzten Besuch bist du leider nicht lange genug geblieben, und wir haben uns verpasst.«
»Diesmal habe ich auch nicht viel Zeit. Deshalb können wir jetzt auch keine lange Unterhaltung führen. Also kurz und bündig – kannst du mir helfen oder nicht?«
»Natürlich kann ich das. Allerdings hat meine Hilfe ihren Preis.«
»Falls du scharf auf meine Seele bist – die kannst du sofort haben. Für die habe ich keinerlei Verwendung.«
Das Grinsen des Mannes wurde breiter. Er hielt alle Trümpfe in der Hand bei dieser Verhandlung, deshalb musste er auch kein faires Angebot machen. Er zog fragend eine Augenbraue hoch. »Das mag dich jetzt überraschen, JD, aber du kannst deine Seele behalten. Du besitzt nämlich etwas weit Wertvolleres.«
JD war tatsächlich erstaunt. Eigentlich hatte er fest damit gerechnet, dass seine Seele als Einsatz in diesem Spiel reichen würde. Aber wie dem auch sei – er würde jede Bedingung akzeptieren, ganz gleich wie ungerecht sie sein mochte.
»Nenn deinen Preis.«
Der Mann in Rot schüttelte den Kopf. »Sag mir erst, was du genau von mir willst. Danach erfährst du den Preis.«
»Ich will nur wieder der sein, der ich gewesen bin.«
»Du meinst, du möchtest dich wieder in den Mann verwandeln, der du letzte Woche warst?«
»Ja, und zwar in einen verdammten irren Massenmörder. Bekommst du das hin? Oder willst du noch lange wie ein selbstzufriedener Idiot da hocken bleiben und kryptischen Scheiß labern?«
Der Mann in Rot lachte ein falsches, aber dennoch lautes Lachen. »Hahahaha! Glaubst du etwa, du warst ausgerechnet mir als psychotischer Killer nicht lieber? Da bist du wenigstens noch interessant gewesen. Heute finde ich dich, mit Verlaub, eher langweilig. Unauffälliger Durchschnitt, wenn ich das mal so sagen darf.«
»Ja, so ist das, wenn man auf einmal ein Gewissen und eine Seele hat. Für so einen Scheiß habe ich echt keine Verwendung.«
Der Mann in Rot lehnte sich zurück, stützte die Hände auf die Motorhaube und schlug die Beine übereinander. Dann nahm er den Hut ab, unter dem dunkle, dichte Locken zum Vorschein kamen.
»Natürlich kann ich dir helfen«, sagte er. »Insbesondere da wir beide gewisse gemeinsame Interessen teilen.«
»Die da wären?«
»Höllenverweigerer.«
»Was?«
»Höllenverweigerer.«
»Das habe ich schon gehört. Aber was willst du mir damit sagen?«
»Die Rede ist von Vampiren. Ich kann diese miesen kleinen Drückeberger auf den Tod nicht ausstehen. Ebenso wenig wie Werwölfe. Und von dieser beschissenen Mumie wollen wir erst gar nicht sprechen. Du weißt schon … Rameses Gaius. Der saß Jahrhunderte im Fegefeuer, bis du ihn von dem Fluch befreit hast. Bis dahin hatte ich immer noch gehofft, dass ich ihn doch eines Tages in meinem Reich begrüßen darf. Und glaub mir, darauf bin ich immer noch ganz scharf.«
»Freut mich.«
»Aber Jessica … Auf die kommt es mir vor allem an.« Der Mann in Rot wirkte auf einmal sehr erregt. »Die entwischt mir immer und immer wieder. Mann, warst du ein paar Mal dicht dran, sie zu mir zu befördern. Ehrlich, dass die es so lange geschafft hat, mir zu entgehen, grenzt an ein Wunder!«
JD hörte dem Mann gleichermaßen erstaunt und erfreut zu. »Dann willst du mir also dabei helfen, die Braut zu erledigen?«
»Ich gebe dir alles zurück, was du verloren hast, und noch dazu werde ich dir ein paar Vorteile verschaffen, die du nutzen kannst«, antwortete der Mann. »Aber ich kann dir nicht direkt helfen, Jessica umzubringen. Leben und Tod sind Sache des Schicksals.«
»Das Schicksal wird sie nicht umbringen – das erledige ich.«
Der Mann in Rot schüttelte den Kopf. »Wenn dir das vorbestimmt wäre, hättest du es schon längst getan.«
»Was soll das denn heißen?«
»Denk einfach an meine Worte, wenn du Jessica das nächste Mal gegenüberstehst.«
»Hör auf mit dem kryptischen Scheiß! Sag mir lieber, welchen Preis du verlangst.«
Jetzt schaltete sich Jacko ein, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. »Wird dir nicht gefallen, kann ich dir jetzt schon sagen.«
Der Mann in Rot setzte seine Melone wieder auf und rutschte von der Motorhaube herunter. »Ganz im Gegenteil! Du wirst begeistert sein!«
»Nun sag schon!«
Der Mann in Rot legte JD eine Hand auf die Schulter. »Immer mit der Ruhe. Dazu kommen wir noch. Bevor ich dir gebe, was du willst, hätte ich gern etwas von dir. Als kleine Anzahlung gewissermaßen. Die natürlich nicht zurückerstattet wird.«
»Okay.«
»Ich will deinen Wagen.«
JD musterte ihn misstrauisch. »Meinen Wagen? Wie zum Teufel soll ich dann zurück nach Santa Mondega kommen?«
»Aber, mein Junge, ich bring dich schneller dorthin, als du jemals fahren könntest!«
»Schön.« JD holte die Autoschlüssel aus der Hosentasche und warf sie dem Mann in Rot zu. »Ich muss aber noch ein paar Sachen aus dem Kofferraum holen.«
Der Mann in Rot fing die Schlüssel und grinste. »Die Sachen wirst du nicht mehr brauchen.« Er zeigte auf ein Schild neben der Kreuzung. »Alles, was du benötigst, findest du, wenn du dieser Straße folgst.« Das weiße Schild mit seinen vier Holzarmen, die in die unterschiedlichen Himmelsrichtungen zeigten, war auf einmal wieder da. Auf dem Arm, der nach Westen zeigte, stand jetzt in schwarzen Buchstaben FEGEFEUER.
JD schaute den Mann in Rot an. »Was zum Teufel ist das Fegefeuer?«
»So was wie ein Test«, sagte der Mann in Rot mit einem selbstzufriedenen Grinsen. »Während ich schon mal einen Vertrag aufsetze, den du dann später unterzeichnest, kannst du den Test ablegen.«
JD schaute den verlassenen Highway hinunter. »Und wo mache ich diesen Test?«
Statt einer Antwort hörte er das Geräusch einer zuklappenden Tür. JD drehte sich um und bemerkte zu seinem Missfallen, dass der Mann in Rot bereits hinterm Steuer des schwarzen V8 Interceptors saß. Fünf Sekunden später sprang der Motor an. Der Mann in Rot winkte JD, ließ den Motor ein paar Mal aufheulen und trat so heftig aufs Gas, dass die Räder durchdrehten und einen Haufen Sand und Staub aufwirbelten. JD sah dem Wagen hinterher, der schließlich auf dem Highway in der Richtung verschwand, wo früher das Hotel Pasadena gestanden hatte.
JD drehte sich zu Jacko um. Der Bluesman hatte seine Gitarre aus dem Kasten geholt und sich das schwarzblaue Instrument umgehängt. Er schlug eine Saite an und begann zu singen.
»Down to the crossroads …«
JD holte wieder seine Knarre aus der Jacke und zielte auf Jackos Gesicht. »Halt. Verdammt. Nochmal. Die. Klappe«, knurrte er.
Jacko hörte auf zu spielen und zeigte auf das Schild Richtung Fegefeuer. »Lauf los – lauf so lange, bis du bereit bist, noch einmal ganz von vorn anzufangen.«