SECHZEHN

Beth verließ den Fahrstuhl im dritten Stock. Ihre Zweizimmerwohnung befand sich am Ende des Flurs. Sie lief mit klopfendem Herzen zu ihrer Tür. Ihr neues Leben mit JD weit weg von Santa Mondega war nur eine Stunde entfernt. Was sollte sie mitnehmen und was zurücklassen? Ihr Traum von einer Zukunft mit JD wurde jetzt wahr. Sie konnte sich genau an seinen ersten Kuss vor achtzehn Jahren erinnern, und wie wunderbar sie sich dabei gefühlt hatte. Doch was war darauf gefolgt? Achtzehn Jahre in der Hölle – allein zehn davon im Gefängnis für den Mord an ihrer Stiefmutter. Das Gericht hatte Notwehr nicht gelten lassen, obwohl es genauso gewesen war. Beths Stiefmutter hatte sie mit einem Messer angegriffen. Daher hatte sie die schreckliche Narbe im Gesicht, die sie ewig daran erinnern würde. Während sie miteinander gekämpft hatten, war ihre Stiefmutter gestrauchelt und hatte sich im Fallen mit dem Messer selbst die Kehle aufgeschnitten.

Der Soldat mit dem Irokesenschnitt unten hatte Beth in Alarmstimmung versetzt. Er war bestimmt nicht ihretwegen hier, aber sie wusste ja nicht, welche Feinde JD sich in all diesen Jahren gemacht haben mochte. In den wenigen Stunden, die sie nun gemeinsam verbracht hatten, war sie so glücklich gewesen. Deshalb hatte sie ihn natürlich nicht danach ausquetschen wollen, weshalb er überhaupt so lange fort gewesen war. Oder danach, was er seitdem gemacht hatte. Hinzu kam, dass sie sich ziemlich sicher war, dass JD James im Museum bewusstlos geschlagen hatte. Kein Wunder, dass sie so langsam ein bisschen paranoid wurde.

Vor ihrer Tür suchte sie nach ihrem Schlüssel und wollte nur noch möglichst schnell raus aus dem Flur und in ihre Wohnung. Sie war in solcher Eile, dass sie ein paar Sekunden brauchte, bis sie den Schlüssel im Schloss hatte. Doch schließlich öffnete sich die Tür. Gerade wollte Beth hineingehen, da hörte sie eine Stimme auf dem Flur.

»Entschuldigung, Miss, ich suche jemanden. Können Sie mir vielleicht helfen?«

Es war der Hüne mit dem pinkfarbenen Haarkamm. Mit großen Schritten kam er auf sie zu und lächelte freundlich.

»Hm, also, ja klar. Wen suchen Sie denn?«, fragte sie.

Der Mann antwortete nicht sofort, sondern kam näher. Als er nur noch einen Schritt von ihr entfernt war, blieb er schließlich stehen. »Beth Lansbury. Das sind doch Sie, oder?«

»Oh … Ja, ich bin Beth Lansbury.«

»Besser bekannt als Psycho-Beth?«, fragte er noch immer lächelnd weiter.

»Was?«

»So hat Sie der fette Barmann im Tapioca genannt.«

»Oh.«

»Er meinte, Sie wären eine Mörderin. Stimmt das?«

»Sagen Sie mal, wer sind Sie eigentlich?«

Dieses Verhör machte Beth nervös. Wer war dieser Kerl? Und was wollte er von ihr? War er gefährlich? Oder interessierte ihn lediglich, ob der Klatsch über sie stimmte?

»Oh, mein Gott, ja. Entschuldigen Sie. Mein Name ist Silvinho«, sagte er und streckte ihr die Hand hin. »Ich wollte Ihnen keine Angst machen. Das war wohl nicht die beste Art, mich vorzustellen, was?«

Zögerlich nahm Beth seine Hand und schüttelte sie. »Was genau kann ich für Sie tun?«, erkundigte sie sich.

»Ich suche nach JD. Ist er hier?«

Der Mann hielt noch immer ihre Hand fest, obwohl er mit Schütteln fertig war. »JD?«, wiederholte sie und tat ahnungslos.

»Genau. Wie ich höre, kennen Sie ihn. Ich bin ein alter Freund von ihm. Ist er zufällig hier?«

»Er wohnt nicht hier.«

»Wissen Sie denn, wo ich ihn finden kann?«

Beth überlegte, wie sie am besten auf diese Frage antwortete. Hatte JD vielleicht Ärger mit diesem Silvinho? War es ein Fehler, wenn sie ihm sagte, dass JD sie in einer Stunde hier abholen wollte? Es vergingen ein paar angespannte Sekunden, während Beth Pro und Kontra abwog. Bevor sie jedoch den Mund aufmachen konnte, antwortete jemand anders für sie.

»Ich bin hier.« JD. Er hatte genau wie Silvinho die Treppe genommen und kam nun über den Flur auf sie zu.

Silvinho ließ abrupt Beths Hand los und wirbelte herum. »Du bist JD

»Ja. Und wer bist du? Und was zum Teufel ist das auf deinem Kopf?«

Silvinho nahm die Schultern zurück, während JD immer näher kam. Mit dem höflichen Getue war es jetzt vorbei. Silvinhos Ton wurde feindselig. »Und wofür steht JD

»Das geht dich einen Scheiß an.«

»Und weiß deine kleine Freundin hier, dass dein Gesicht in allen Nachrichten gezeigt wird?«

JD machte noch ein paar Schritte auf Silvinho zu und blieb dann direkt vor ihm stehen. »Wer hat dich geschickt?«, knurrte er in einem Ton, den Beth noch nie von ihm gehört hatte.

»Bull.«

»Bullshit.«

»Nein, Bull Thompson, um genau zu sein.«

Nach der Erwähnung dieses Namens gingen die beiden Männer plötzlich in Angriffsstellung. Silvinho machte einen Ausfallschritt und versuchte, einen Schlag in JDs Gesicht zu landen. Entsetzt beobachtete Beth, wie JD sich duckte und Silvinho dann die Faust in den Magen rammte. Silvinho ließ sich davon nicht verunsichern, sondern landete einen Volltreffer auf JDs Kopf. JD taumelte zurück und verlor die Balance.

»AUFHÖREN!«, schrie Beth.

Keiner der beiden Männer schien sie zu hören. Jetzt gingen sie sogar erst richtig aufeinander los. Silvinho war größer und muskulöser, sein Bizeps enorm groß. Als JD ihm in die Rippen schlug, packte Silvinho ihn und wirbelte ihn durch die Luft. JD krachte gegen die Wand. Doch statt liegen zu bleiben, stieß er sich wie von einem Sprungbrett ab, warf sich wieder auf Silvinho und stieß ihn nun seinerseits gegen die Wand.

Daraufhin nahm Silvinho JD in den Schwitzkasten, legte ihm einen Arm um den Hals und drückte ihm die Luft ab. Es sah schlecht aus für JD. Beth überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Unter ihrem Bett lag ein Baseballschläger, den sie zu ihrem Schutz dort aufbewahrte, falls mal jemand einbrach. Nicht dass sie vorgehabt hätte, ihn wirklich einzusetzen, aber wenn sie Silvinho damit drohte, würde er vielleicht abhauen.

Sie lief in ihre Wohnung, rannte durchs Wohnzimmer, den Flur und zu ihrem Schlafzimmer. Dort tauchte sie unters Bett und tastete herum, bis sie den Schläger gefunden hatte. Beth packte ihn am dünneren Ende und zog ihn hervor. Dann sprang sie auf und rannte wieder durchs Wohnzimmer zurück in den Korridor. Dort angekommen, blieb sie erstaunt stehen. Der Kampf war praktisch vorbei.

Silvinho saß auf dem Boden, lehnte mit dem Rücken an der Wand, und sein Gesicht war blutverschmiert. JD hatte sich über ihn gebeugt und hielt ihm ein langes Messer mit einem aus Knochen gefertigten Griff vors Gesicht.

»Wer zum Teufel hat dich hergeschickt?«, knurrte er seinen widerstandsunfähigen Feind an. Als Beth seine Stimme dabei hörte, stellten sich ihr die Nackenhaare auf, so bedrohlich und hasserfüllt klang sie.

»Aus mir kriegst du nichts raus«, antwortete Silvinho, dem Blut aus dem Mund lief.

Das Ganze erinnerte Beth daran, wie sie damals auf dem Boden gelegen hatte, ihre Stiefmutter mit dem Messer über ihr. Schauer liefen ihr über den Rücken. Dann tat JD etwas, das sie nie mehr vergessen sollte. Er beugte sich noch weiter vor und stieß das Messer in Silvinhos Kehle. Genau durch den Adamsapfel.

Beth musste sich spontan übergeben. Ihr Magen hüpfte auf und ab, während sie sich die Seele aus dem Leib kotzte. Sie kniete sich hin und verteilte weiter ihr Essen im Flur. Immer wieder sah sie vor sich, wie die Klinge Silvinhos Kehle durchstieß. Wie konnte JD nur so etwas tun? War das wirklich derselbe Mann, auf den sie all die Jahre gewartet hatte? Auf diesen kaltblütigen Killer?

Schwach stand sie auf und sah zu ihm hinüber. Er stand nur da und schaute auf den Mann herab, den er gerade abgeschlachtet hatte. Das Messer hielt er noch immer fest umklammert, und seine Hände waren mit Blut besudelt.

»Was hast du getan?«, rief sie und schmeckte Kotze in ihrem Mund. »Du hast ihn umgebracht!«

Langsam drehte sich JD um. Auch sein Gesicht war voller Blut. Er holte tief Luft. »Wir müssen hier sofort abhauen«, sagte er dann mit dieser kehligen Stimme. »Ich erklär dir alles im Wagen.«

Beth schüttelte ungläubig den Kopf und starrte den Toten an. »Du hast ihn erstochen«, murmelte sie. »Du hast ihm die Kehle durchstoßen«, fügte sie dann lauter hinzu. »Warum? Er konnte sich doch gar nicht mehr verteidigen!«

»Du hast doch deine Stiefmutter umgebracht, oder?«

Beth schluckte schwer und hatte wieder den Kotzegeschmack im Mund. »Was?«

»Na ja, war doch so, oder?«

»Aus Notwehr!« Plötzlich wurde sie richtig wütend auf JD. Dies war nicht der Mann, den sie zu kennen geglaubt hatte. Wie hatte er nur einen solchen Mord begehen können? Und jetzt schien ihn seine Tat noch dazu eiskalt zu lassen.

»Ich habe es für dich getan.«

»Darum habe ich dich aber nicht gebeten!«

»Er hätte uns beide umgebracht.«

»Das konntest du doch gar nicht wissen.«

»Das Risiko war zu groß – ich musste es tun.«

Beth starrte Silvinhos Leiche an. »Du hast dabei nicht mal mit der Wimper gezuckt«, sagte sie.

JD nickte. »Ich hätte ihn mit dem ersten Schlag töten können. Aber das ist Vergangenheit. Ich bin kein Killer mehr. Das hier war reine Notwehr.«

»Wen hast du vor ihm schon alles umgebracht?«

JD wischte die blutige Klinge an Silvinhos Hemd ab. »Vor allem Vampire«, sagte er. »Und ein paar Werwölfe. Ach ja, Zombies natürlich auch. Und dann noch ein paar Leute, die mich richtig provoziert haben. Aber das ist jetzt alles vorbei. Ich bringe niemanden mehr um.«

Beth konnte es nicht fassen, mit welcher Selbstverständlichkeit er über Mord sprach. Er schien wegen seiner Taten keinerlei Reue zu empfinden. »Aber warum hast du so viele Leute getötet? Warst du ein professioneller Attentäter oder so was?«

»Nein, nichts dergleichen.«

Beth zeigte auf Silvinho. »Und warum hat er gesagt, dein Bild wäre überall in den Nachrichten?« Kaum hatte sie die Frage gestellt, traf die Erkenntnis sie wie ein Schlag. »Oh Gott, du bist …«

»Nicht mehr.«

»Du bist …« Sie konnte es nicht aussprechen.

JD zuckte mit den Schultern. »Nun flipp mal nicht aus, Beth. Ja, ich war …«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Ja.«

»Nein, das ist unmöglich.«

»Halb so wild. Ich bin nicht mehr so.«

»Du bist der Bourbon Kid! Du hast Bertram Cromwell ermordet!«

»Nein, hab ich nicht.« JD ging auf sie zu, während er noch immer das Messer polierte.

Beth hob den Baseballschläger und ging in Verteidigungsstellung. »Wo bist du heute Morgen gewesen? Wo bist du hingegangen?«

»Ich war spazieren.«

»Oh Gott, da hast du Cromwell ermordet, stimmt’s? Und deshalb wolltest du auch, dass wir sofort aus der Stadt abhauen. Ich sollte auf keinen Fall rausfinden, wer du wirklich bist.«

Plötzlich klang JDs Stimme wieder normal, und er sagte ruhig: »Leg den Schläger weg, Beth. Komm, wir müssen abhauen. Wenn dieser Kerl dich ausfindig gemacht hat, kriegen wir bald noch mehr Besuch. Sie werden dich finden, und dann bringen sie dich um.«

Beth wich zurück und hob drohend den Schläger. »Du bist nicht der, für den ich dich gehalten habe.« Sie warf einen letzten Blick auf den toten Silvinho. »Ich will nicht mehr mit dir zusammen sein. Was passiert, wenn wir uns streiten? Schneidest du mir dann auch die Kehle durch?«

»Beth, sei doch nicht dumm. Ich würde dir nie etwas tun. Und mit dem Töten hab ich abgeschlossen. Der Kerl eben war noch eine letzte Ausnahme.«

»Aber du hast ihn zuerst angegriffen«, widersprach sie und holte tief Luft. »Er hatte mir gar nichts getan, sondern wollte nur wissen, wo du bist!«

JD verlor langsam die Geduld. »Sei doch nicht so naiv, verdammt! Schau ihn dir doch nur mal an. Der Mann ist kein harmloser Chorknabe, das sieht man doch!«

Beth schüttelte den Kopf. »Schau dich doch nur mal selbst an!« Sein Gesicht, seine Hände und sein Hemd waren voller Blutspritzer, und er hielt das Messer noch immer angriffsbereit in der Hand.

Von der Straße waren plötzlich Polizeisirenen zu hören.

JD streckte die Hand aus. »Komm, Beth. Wir müssen hier verschwinden. Die Bullen sind unterwegs.«

Entsetzt wich sie zurück. »Ich werde nie wieder nach einem Mord abhauen. Und erst recht nicht mit dir. Wie konntest du das nur tun?«

JD ging einen Schritt auf sie zu, die Hand noch immer ausgestreckt. Schnell lief Beth zurück in ihre Wohnung. »Hau ab, ich gehe nirgendwo mit dir hin.«

»Beth, die Scheißbullen sind unterwegs. Wir müssen weg, komm jetzt!«

Ein letztes Mal schüttelte Beth ihren Kopf. »Du hast alles kaputtgemacht.« Sie holte das Herz aus ihrer Jeanstasche und warf es ihm vor die Füße. »Bitte sehr, das kannst du wiederhaben. Ich will nicht, dass du deshalb nochmal hier auftauchst. Leb wohl, Jack!«

Während er noch wortlos den Stoff mit dem Herzen darauf anstarrte, knallte Beth ihm die Tür vor der Nase zu.

Eine Sekunde später hämmerte JD gegen die Tür und brüllte aus Leibeskräften. »Beth, bitte, denk nach! Die Hälfte der Polizei dieser Stadt besteht aus Vampiren! Du solltest mich doch besser kennen!«

»Nein, tu ich nicht!«

Sie hörte ihn frustriert seufzen, als er dann wieder etwas sagte, hatte er sich etwas beruhigt. »Hör mal, ich werde jetzt ein paar Sachen zusammenpacken und in einer Stunde bin ich wieder hier. Genauso, wie wir es geplant hatten. Überleg es dir nochmal. Mein Bild wird in jeder Nachrichtensendung gezeigt. Ich muss weg von hier – mit dir oder ohne dich.«

Tränen liefen Beth über die Wangen. All diese Jahre des Wartens waren vollkommen umsonst gewesen. Achtzehn Jahre hatte sie vergeudet, weil sie einen Kerl für die Liebe ihres Lebens gehalten hatte, den sie auf einer Halloween-Party kennengelernt hatte. Sie war in einen Mann verliebt gewesen, von dem sie absolut nichts wusste. Und wie sich nun herausstellte, war er der Bourbon Kid, ein infamer Serienkiller, der unschuldige Menschen umbrachte.

»Verschwinde einfach, Jack«, schluchzte sie. »Und mach dir gar nicht erst die Mühe, in einer Stunde wiederzukommen. Ich werde es mir ganz bestimmt nicht mehr anders überlegen. Ich will dich nie wieder sehen!«