♦ SECHSUNDZWANZIG
Kacy erwachte aus einem sehr tiefen Schlaf. Sie lag nackt im Bett und wusste nicht, wo sie sich befand. Außerdem fühlte sie sich, als hätte sie einen Kater. Erst als ihre Erinnerung an die vergangene Nacht zurückkehrte, ergab alles wieder einen Sinn. Nachdem sie mit Dante das Tapioca verlassen hatte, waren sie noch auf der Suche nach frischem Blut gewesen. Wie sich herausstellte, war das keine leichte Aufgabe. Beide waren sie nicht wirklich bereit, einen unschuldigen Menschen zu ermorden und auszusaugen. Nach ein paar halbherzigen Attacken auf vorbeikommende Fremde hatten sie es deshalb aufgegeben und waren unverrichteter Dinge in den Swamp zurückgekehrt. Dort stellten sie dann fest, dass sie sich über die Versorgungslage erst mal keine Gedanken mehr machen mussten. Vanity hortete das Blut gleich flaschenweise hinter der Bar im Billardsaal.
Als sie dort eintrafen, ging es hier schon ziemlich hoch her. Vanity hatte die traurigen Reste des Shades-Clans und ein paar andere trinkfeste Vampire zu einem späten Umtrunk eingeladen. Er war ein spendabler Gastgeber, der die Anwesenden bis zum nächsten Morgen mit Flaschen voller Bloodwiser versorgte. Es handelte sich um ein Getränk auf Blutbasis, dessen Design an das von Budweiser angelehnt war. Es war zwar lange nicht so großartig wie das Blut von Archie Somers, reichte aber durchaus, um Dantes und Kacys Durst zu stillen.
Kacy fand Vanity vergleichsweise sympathisch und sogar ziemlich charmant. Er wusste wirklich, wie man eine anständige Party organisierte, und sorgte dafür, dass die Gäste sich wohl fühlten. Außerdem war er lange nicht so furchteinflößend, wie Kacy sich Vampire immer vorgestellt hatte. Dann war ihr jedoch eingefallen, dass sie ja jetzt auch ein Vampir war und sich deshalb trotzdem nicht in ein blutsaugendes Monstrum verwandelt hatte.
Neben ihr im Bett lag Dante und schlief noch immer. Ohne ihn zu wecken, stand sie auf und duschte im Bad nebenan. Dante war ein Langschläfer. Das galt insbesondere nach einer durchzechten Nacht. Kacy wusste, dass sie so viel Lärm im Zimmer machen konnte, wie sie wollte. Er würde nicht aufwachen.
Das Schlafzimmer, das Vanity ihnen zugewiesen hatte, lag im obersten Stockwerk des Swamp. Es hatte keine Fenster, damit man als Vampir hier nicht von der Sonne geweckt wurde.
Nachdem Kacy ihre Haare getrocknet hatte, zog sie sich eine bequeme Jeans und ein rotes Sweatshirt an. Dann wollte sie draußen nachsehen, ob es noch immer schneite.
Sie öffnete die Tür zum angrenzenden Wohnzimmer und blickte sich nach Vanity um. Er saß mit dem Rücken zu ihr auf dem Sofa und sah sich etwas auf dem riesigen Flachbildfernseher an der gegenüberliegenden Wand an. Glücklicherweise war es kein Porno, und er hatte die Hose oben. Er trug einen Morgenmantel aus scharlachroter Seide mit den passenden Pantoffeln. So stellte man sich einen gruseligen Vampir eher nicht vor. Über den Bildschirm flimmerte das Amateurvideo einer Hochzeitsfeier. Kacy liebte schöne Hochzeiten, also ging sie ins Wohnzimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Dennoch hatte Vanity sie offensichtlich gehört und drehte sich zu ihr um.
»Oh, hallo«, sagte er dann überrascht zu ihr. »Gut geschlafen?«
»Ja, danke.«
»Was ist mit Dante?«
»Der pennt noch. Bestimmt wacht der erst in ein, zwei Stunden auf.«
»Ich hab mich gestern echt gut amüsiert, und ihr scheint euch auch ganz wohl gefühlt zu haben.«
»Ja, war ein Spitzenabend. Wo sind die anderen denn alle hin?«
Vanity grinste. »Tja, wir haben euch beiden noch beim Vögeln zugehört, dann sind die anderen nach Hause.«
Kacy errötete. Das Bloodwiser hatte sie und Dante irgendwie ziemlich scharf gemacht, und sie hatten alle Hemmungen verloren. Die wilde Nummer, die sie dann in Vanitys Schlafzimmer geschoben hatten, war wohl ziemlich laut gewesen. Kacy erinnerte sich an ein paar Sachen, die sie in höchster Erregung herausgeschrien hatte, und beschloss, lieber schnell das Thema zu wechseln.
Auf dem Bildschirm erschien jetzt ein Gesicht, das sie kannte. »Bist du das?«, fragte sie.
»Ja.« Vanity griff nach der Fernbedienung und wollte den Fernseher ausschalten.
»Ist das deine Hochzeit gewesen?«
»Mhm.«
»Oh, das ist ja toll. Darf ich mir das Video ein paar Minuten lang mit dir ansehen?«
Vanity wirkte überrascht und legte die Fernbedienung wieder auf den Couchtisch. »Klar, wenn du willst. Ist aber nicht besonders spannend.«
Kacy schaute sich die Braut genauer an – eine sehr hübsche Frau Mitte zwanzig mit brünettem Haar. Vanity, der Bräutigam, hatte sich seit seiner Heirat nicht sehr verändert, nur dass er im Video einen schicken schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Fliege trug.
»Deine Frau ist sehr hübsch«, stellte Kacy fest und setzte sich auf die Sofalehne.
»Ja, ist sie.«
»Seid ihr noch zusammen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wollte kein Vampir werden.« Seine Stimme verriet eine tiefe Traurigkeit.
»Warum? Was ist denn passiert?«
Vanity hielt den Film an, als er seine Frau gerade küsste. »Damals war ich noch kein Vampir«, antwortete er. »Während unserer Flitterwochen hat mich dann so ein Arsch gebissen. Emma, meine Frau, wollte kein Vampir werden. Deshalb musste ich sie so schnell wie möglich verlassen, weil ich sie sonst gebissen hätte. Damals habe ich ihr versprochen, dass ich eines Tages zu ihr zurückkehre, sobald ich ein Mittel gefunden habe, um mich wieder in einen Menschen zu verwandeln.«
»Wie lange ist das jetzt her?«
»Vier Jahre.«
Kacy versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, so lange von Dante getrennt zu sein. Das war nicht schön, das war klar. Sie starrte das glückliche Paar auf dem Bildschirm an, bevor sie Vanity dann eine weitere sehr persönliche Frage stellte. »Und wie geht es Emma jetzt? Was macht sie?«
Geistesabwesend schaute Vanity zum Fernseher. »Sie hat nicht wieder geheiratet, aber inzwischen ist sie neunundzwanzig Jahre alt. In ein paar Monaten wird sie dreißig. Ich werde immer so aussehen wie mit neunundzwanzig. Unser Traum davon, zusammen alt zu werden, ist an dem Tag gestorben, als ich gebissen wurde.«
»Das tut mir leid.«
»Ja, mir auch. Dante hat wirklich Glück mit dir. Du hast eurer Liebe ein ungeheures Opfer gebracht, indem du eine von uns geworden bist.«
»Ich weiß. Es war eine vollkommen spontane Entscheidung. Aber ich kann nicht ohne Dante leben. Wir sind schon ewig zusammen.«
»Ja, das hat man gemerkt.« Vanity lächelte. »Als er behauptete, er hätte dich gerade von der Straße aufgesammelt, wusste ich gleich, dass er lügt. Ihr beide seid so vertraut miteinander.«
Kacy begriff jetzt, dass sie Vanity gegenüber etwas zu offen und sorglos gewesen war. Aber sie empfand eine seltsame Verbindung zu ihm. Bisher war er der einzige Freund, den sie bei den Vampiren gefunden hatte, und er verstand, was Dante und sie gerade durchmachten. Bestimmt hatte er eine Menge Leute umgebracht, weil er ja als Vampir überleben musste. Trotzdem schien er voller Reue zu sein – nicht notwendigerweise wegen der Morde, sondern weil sein altes Leben für ihn verloren war.
Kacy beschloss, noch etwas weiterzubohren. »Wenn du wieder ein Mensch werden könntest, würdest du das dann tun? Um zu deiner Frau zurückzukehren?«
»Sofort. Ich hasse dieses Dasein als Vampir. Ich würde alles darum geben, wieder ein Mensch zu sein.«
Kacy holte tief Luft und platzte einfach mit dem heraus, was ihr gerade durch den Kopf ging. »Wusstest du, dass du dich mithilfe des Auges des Mondes zurückverwandeln kannst?«
Vanity lächelte. »Ja, nur lässt Gaius nicht zu, dass einer von uns es dafür benutzt. Vertrau mir, wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, um ihm das Auge abzunehmen, würde ich es sofort tun. Das Problem ist nur, dass er mich eher töten wird, als mich auch nur in die Nähe des Auges zu lassen.«
»Trotzdem – es wäre doch toll, wenn wir uns das Auge schnappen, oder?«
»Klar, aber vergiss das besser gleich wieder.«
»Warum?«
»Weil das Selbstmord wäre.«
»Aber wenn wir uns das Auge beschaffen würden, könntest du wieder ein Mensch werden und zurück zu deiner Frau.«
Vanity runzelte die Stirn und blickte hinüber zum Fernseher. Eine Sekunde lang fixierte er das Standbild von ihm und seiner Frau. Dann nahm er die Fernbedienung und schaltete das Gerät aus.
»Wärt ihr beide, also du und Dante, denn bereit, es zu riskieren?«
Kacy zuckte mit den Schultern. »Falls es eine Chance gibt, möchte ich es versuchen. Du nicht?«
Tief in Gedanken versunken sah Vanity hinüber zum Fernseher. Schließlich holte er tief Luft. »Hör mal, ich glaube, ich hätte da eine Idee, wie wir an das Auge rankommen könnten. Wird aber ziemlich gefährlich.«
Kacy war ganz Ohr. »Echt? Wie denn?«
»Gaius will heute Abend ins Museum. Die haben dort eine spezielle Maschine zum Nachpolieren von Diamanten, und er will das Auge des Mondes dort säubern lassen. Wenn wir uns reinschleichen und warten, bis er das Auge rausnimmt, könnten wir es uns schnappen. Wir drei, du, ich und Dante – zusammen schaffen wir es vielleicht. Das ist praktisch unsere einzige Chance, weil Gaius das Auge sonst eigentlich nie aus seinem Schädel entfernt.«
Kacy war jetzt richtig aufgeregt. »Oh Gott, glaubst du wirklich, wir kriegen das hin?«
Vanity nickte bedächtig, fast als müsste er sich selbst davon überzeugen. »Ja … Ja, das denke ich wirklich. Ohne das Auge ist Gaius ein Nichts. Da kann er uns nicht viel anhaben. Zu dritt wären wir ihm dann auf jeden Fall überlegen.«
Kacy sprang vom Sofa auf. »Oh Gott!«, quietschte sie. »Ich muss unbedingt Dante wecken und ihm das erzählen.«
»Super! Mach das.«
Kacy rannte ins Schlafzimmer, um Dante die großen Neuigkeiten mitzuteilen. Sobald sie verschwunden war, holte Vanity das Handy aus seiner Tasche und rief bei Rameses Gaius an. Er ging nach dem ersten Klingeln ran und klang so schlecht gelaunt wie immer.
»Was willst du?«, bellte er.
»Die Sache ist geritzt«, sagte Vanity. »Ich bring dir die beiden heute Abend ins Museum. Du kannst dir nicht vorstellen, wie einfach das war.«