♦ SIEBENUNDFÜNFZIG
Sanchez stieg zögernd die Treppe zur Haupthalle hinab. Er hörte, wie dort unten Schüsse fielen und alle Arten von Gegenständen zerbrachen. Das bot einen sicheren Hinweis darauf, dass der Bourbon Kid sich bereits mit Rameses Gaius befasste und dass er es ohne das Buch ohne Namen tat. Sanchez hoffte, dass er nicht zu spät kam.
Am Fuß der Treppe angelangt, sah er die Handlungen, die den Lärm begleiteten. Auch standen zwei Vorhänge in Flammen, und das Feuer breitete sich aus. Leichen lagen auf dem Fußboden, was, ganz ehrlich, nichts Ungewöhnliches darstellte. Vor einer zersplitterten Glasvitrine erblickte er die bewusstlose Gestalt Dantes, von Kopf bis Fuß in Verbände gewickelt. Außerdem bot sich ihm der seltsame Anblick einer recht attraktiven Brünetten Anfang zwanzig, die auf Händen und Knien am Fußboden entlangkroch, mit nichts weiter bekleidet als einem schwarzen Sweatshirt und einem pinkfarbenen Slip mit den Worten FREIER EINTRITT auf der Rückseite. Unter normalen Umständen hätte Sanchez rigoros die Rechtschreibung überprüft, aber jetzt war nicht die richtige Zeit. Die große Gestalt des kahl rasierten Rameses Gaius stand im Zentrum der Halle und wandte Sanchez den Rücken zu. Gaius feuerte blaue Blitze aus den Händen und zielte sie auf so ziemlich alles. Die Blitze prallten von Boden und Wänden ab und peitschten in Statuen und Displays hinein. Alles, was Rameses Gaius traf, zerplatzte entweder in zwei Hälften oder ging in Flammen auf. Das war ja vielleicht mal ein destruktiver Mistkerl!
Im Augenwinkel erhaschte Sanchez einen Eindruck vom Bourbon Kid. Dieser versteckte sich hinter einem schwarzen Vorhang, der die Statue eines fetten nackten Kerls bedeckte. Der Kid hielt eine mächtige Wumme in der Hand. Er entdeckte Sanchez und nickte ihm zu. Dann verschwand er im Schatten. Sein Verschwinden wurde von einem krachenden Schuss begleitet, der Gaius’ Feuer auf sich zog. Die riesige Mumie jagte einen Laserblitz auf die Vorhänge, hinter denen sich der Kid versteckt gehalten hatte.
Sanchez hatte nicht die geringste Idee, warum der Kid ihm zugenickt hatte, aber er vermutete, dass es sich um eine Art Signal handelte. Wahrscheinlich hatte es zu bedeuten, dass er etwas Wichtiges tun sollte. Etwas Tapferes. Der Kid hatte Gaius’ Aufmerksamkeit von der Treppe weggelenkt, sodass Sanchez unbemerkt in den Saal pirschen konnte. Das war offenkundig sein großer Augenblick. Gaius stand nur zwanzig Meter vor ihm. Zeit, den Helden zu spielen, wie Flake vorgeschlagen hatte.
Auf Zehenspitzen schlich er sich so schnell es ging an Gaius heran und wandte den Blick nur einmal kurz vom Hinterkopf der Mumie ab, um sich ein letztes Mal den Arsch des Mädchens mit der pinkfarbenen Unterwäsche anzusehen, nur für den Fall, dass er dazu nie wieder Gelegenheit erhielt.
Als er bis auf weniger als einen Meter an Gaius heran war, hob er das Buch ohne Namen über den Kopf und schmetterte es zum Hinterkopf der Mumie herab. Noch im Zuge dessen hatte er jedoch das Pech, dass sich der Herr der Untoten auf einmal herumwarf. Sanchez fand allerdings nicht mehr die Zeit, den Angriff abzubrechen, und ebenso wenig fand Gaius Zeit, ihm auszuweichen. Das Buch schmetterte ihm direkt ins Gesicht und erwischte ihn heftig auf dem Nasensattel.
Sanchez dachte an den Augenblick zurück, in dem Flake Jessica mit dem Buch getroffen hatte. Die Vampirkönigin hatte fast sofort lichterloh gebrannt. Bei Rameses Gaius konnte man nicht das Gleiche behaupten. Für eine entsetzlich lange Zeit stand Sanchez reglos da und drückte der Mumie das Buch ins Gesicht. Gaius ging jedoch nicht in Flammen auf. Er hob einfach beide Hände und packte das Buch. Dann stieß er es Sanchez ins Gesicht. Der Aufprall geschah mit enormer Wucht. Sanchez schlug der Länge nach am Fußboden auf. Seine Füße prallten ab und flogen ihm bis über den Kopf hinaus, bis er schließlich abrupt zum Halten kam, den Kopf beinahe zwischen die Arschbacken geklemmt. Während er sich wieder aufrichtete, sah er Gaius das Buch ohne Namen nach ihm werfen. Das magische Buch hatte Gaius nicht im Mindesten verletzt. Die Mumie interessierte sich auch nicht dafür. Sie warf es einfach lässig nach Sanchez’ Kopf. Sanchez duckte sich weg und hob schützend die Hände, bereit für einen gewalttätigen Angriff aus Gaius’ inzwischen blau leuchtender rechter Hand.
Und dann erblickte er hinter seinem Angreifer einen Hoffnungsschimmer. Der Bourbon Kid war aus dem Schatten zum Vorschein gekommen und zielte mit der Pistole auf Gaius’ Kopf. Ein roter Laserpunkt erfasste präzise die Rückseite der Augenhöhle, in der das Auge des Mondes steckte. Während Gaius sich anschickte, einen Laserblitz auf Sanchez zu feuern, gab der Kid einen Schuss ab.
BÄÄÄM!
Es war ein verdammt guter Schuss. Sanchez verfolgte das Geschehen ehrfürchtig. Er sah alles deutlich, als geschähe es in Zeitlupe. Aus Gaius’ Hinterkopf spritzten ein paar Blutstropfen hervor, als die Kugel in den Schädel eindrang. Ein Klirren ertönte, als die Kugel auf das Auge des Mondes prallte, und wie in einem Traum flog der blaue Stein aus der Augenhöhle hervor und verspritzte ringsherum Blut.
Sanchez’ Freude über diesen Anblick war nur von kurzer Dauer.
Rameses Gaius verfügte über Reflexe, die in jeder Hinsicht so schnell waren wie die Laserblitze aus seinen Fingerspitzen. Seine linke Hand griff blitzschnell ein. Er riss sie hoch und fing den blauen Stein auf, während ihm dieser aus dem Gesicht flog. Der Stein war keinen halben Meter weit geflogen, als er ihn schon wieder in der Hand hielt.
Gaius blickte mit dem gesunden Auge auf den Stein hinab. Einen Augenblick lang glaubte Sanchez beinahe, die Mumie lächeln zu sehen. Dieser Augenblick verging allzu schnell, und Gaius wandte sich um und dem Bourbon Kid zu. Im Hinterkopf der Mumie erblickte Sanchez das Loch, wo die Kugel eingedrungen war. Während er es noch anstarrte, schloss sich das Loch mit rasender Geschwindigkeit und verschwand dank der Heilungskräfte, die vom Auge des Mondes ausgingen.
Leck mich doch am Arsch!, dachte Sanchez. Dieser Typ ist scheißunbesiegbar!
Gaius fauchte den Kid an: »Du hattest deine Gelegenheit. Jetzt bin ich an der Reihe!«
Er hob die rechte Hand und feuerte einen seiner blauen Laserstrahlen auf die Kapuzengestalt in dem langen dunklen Mantel. Der Strahl traf den Kid in der Brust und riss ihn von den Beinen. Er flog zwanzig Meter weit durch die Luft und krachte in das ägyptische Grab hinter ihm.
Heilige Scheiße!
Sanchez gaffte die schiere Macht von Rameses Gaius an. Der Typ stellte eine wandelnde Armee dar, eine Kombination aus Iron Man, General Zod und dem Unglaublichen Hulk.
Zum Glück schien er Sanchez völlig vergessen zu haben, während er mehrere gewaltige Schritte zum Bourbon Kid hinübertat, bereit, diesen zu erledigen.
Falls es Gaius gelang, den Kid umzubringen, würde es auch nicht mehr lange dauern, bis er sich wieder Sanchez und dem halb nackten Mädchen zuwandte. Einer von ihnen starb dann als Nächster. Wenigstens hatte Sanchez die Hose an, und so war er dann vermutlich nicht der Erste, auf den Gaius’ Blick fiel.
Alle ihre Überlebenshoffnungen ruhten auf dem Bourbon Kid und seinen berühmten Fähigkeiten als Kämpfer. Sanchez musste eine Möglichkeit finden, wie er Gaius ablenken konnte, ehe dieser den Bourbon Kid umbrachte. Er musste dem Kid Zeit verschaffen, denn derzeit lag der kapuzentragende Monsterjäger dem Anschein nach benommen und geschlagen neben der Gruft.
Sanchez sah, wie das Mädchen etwas vom Boden aufhob, das neben einer Jeans gelegen hatte. Es handelte sich um einen kleinen dunklen Gegenstand, und sie traf Anstalten, diesen zu werfen. Sachen nach Gaius zu werfen war eine ganz schön lahme Idee, aber vermutlich die einzige Option, die derzeit einer von ihnen hatte. Flake hatte Sanchez angewiesen, sich wie ein Held zu benehmen; das einzige Problem dabei war nur, dass sie nicht vor Ort war, um ihm zu erklären, wie er das am besten anpackte. Ohne eine eigene gute Idee entschied sich Sanchez, auf die Sache mit dem Werfen einzusteigen. Er griff in die Brusttasche und holte den Flachmann hervor. Bei leicht gelockertem Verschluss konnte er Gaius wenigstens mit Pisse eindecken. Das lenkte diesen vielleicht ein bisschen ab, oder vielleicht führte es sogar dazu, dass die Mumie sich selbst einen tödlichen Stromstoß versetzte?
Als das Mädchen Ziel nahm, konnte Sanchez endlich ihr Gesicht erkennen. Er erkannte in ihr Kacy wieder, Dantes Freundin und ehemaliges Zimmermädchen in einem der örtlichen Hotels. Er entschied, dass es am besten war, wenn sie zuerst warf. Er konnte dann sehen, wie Gaius reagierte. Und er hoffte wirklich, dass ihre Würfe so eindrucksvoll ausfielen wie ihr Arsch. Während sie ausholte, wünschte ihr Sanchez insgeheim Glück. Sie nahm den Arm zurück und schleuderte dann den kleinen dunklen Gegenstand mit aller Kraft.
Sanchez hatte Mädchen schon früher werfen sehen und war nie sonderlich beeindruckt gewesen. Und Kacys Wurfkünste waren abgründig. Sie verfehlte Gaius komplett. Tatsächlich nahm der kleine Gegenstand Kurs auf den Kopf des Bourbon Kid. Sinnlos, dachte Sanchez.
Der Bourbon Kid erhob sich gerade auf die Knie, als das Objekt herangeflogen kam. Er reagierte rasch, hob die rechte Hand und fing es damit auf. Das Ding war nur ein kleines Rechteck von den Ausmaßen einer Spielkarte. Vielleicht konnte der Kid es präziser und wuchtiger auf Gaius werfen, als es Kacy getan hatte – vorausgesetzt, ihm blieb genügend Zeit.
Gaius blieb wenige Meter vor dem Kid stehen und hob erneut den rechten Arm. Die Handfläche leuchtete hellblau. Jetzt kam der Augenblick der Wahrheit. In einer gewaltigen Demonstration von Kraft reckte er den Arm Richtung Kid und entfesselte einen hellblauen Laserstrahl auf seinen gestürzten Gegner.
Was jetzt folgte, lief sehr schnell ab. Als der Laserstrahl aus Gaius’ Hand schoss und seinen Weg zum Kopf des Bourbon Kid nahm, hielt dieser den kleinen Gegenstand hoch, den Kacy ihm zugeworfen hatte.
Und er drehte ihn in der Hand. Während eine Seite schwarz war, zeigte sich die andere glänzend.
Es war ein kleiner Handspiegel.
Der blaue Laserblitz peitschte in den Spiegel, und das helle Licht wurde scharf reflektiert. Ein Blitz aus blendendem blauen Licht füllte den Raum, und der Strahl fegte zurück, direkt ins Gesicht von Rameses Gaius.
Der Einschlag erwischte ihn völlig überraschend, und die schiere Wucht des eigenen wütenden Blitzes riss ihn von den Beinen. Das Auge des Mondes flog ihm aus der Hand und prallte vom Boden ab, während er rückwärts durch die Luft sauste. Sanchez verfolgte mit aufgerissenen Augen, wie Gaius’ Arsch auf ihn zuflog. Zum Glück landete der Dunkle Lord kurz vor ihm auf dem Rücken. Gaius rutschte auf dem glatten, glänzenden Boden noch ein Stück weiter, bis sein Kopf auf Sanchez’ Schoß landete.
Gaius war eindeutig benommen. Sanchez sah ihn mit dem gesunden Auge hektisch blinzeln. Er war ernstlich desorientiert, obwohl es vermutlich nicht lange dabei bleiben würde. Nach wenigen Sekunden hörte er auf zu blinzeln und fand anscheinend wieder einen Fokus, sodass er zu Sanchez hinaufstarrte.
Verdammte Scheiße!, dachte Sanchez. Er steht gleich wieder auf.
Sanchez hatte keinen anderen Ausweg. Als einzige Waffe blieb ihm der Flachmann. Er nahm den Deckel ab und hielt ihn über Gaius’ Gesicht. Er goss den Inhalt aus und versuchte, etwas davon genau in die leere Augenhöhle zu bekommen.
Während jedoch die Pisse aus dem Flachmann strömte, sah Sanchez überrascht, dass sie grün war. Ungewöhnlich. Seine Pisse war normalerweise dunkelgelb, gelegentlich ein wenig braun, manchmal sogar ganz klar, aber normalerweise niemals grün.
Auf einmal erinnerte er sich, dass er nach ihrem Streit früher am Tag den Flachmann des Weihnachtsmannes aufgehoben hatte. Das war die grüne Flüssigkeit, die Leute lähmte. Er goss Gaius so viel davon ins Gesicht, wie er konnte, einen Teil in die Augenhöhle und etwas auch in den Mund. Dort sickerte es über die Zunge und in den Hals. Dem Ausdruck im gesunden Auge war zu entnehmen, dass sich die Flüssigkeit nachteilig auf Gaius auswirkte.
Sanchez verfolgte, wie Gaius’ Gesicht allmählich taub wurde, was genauso ablief wie zuvor beim Weihnachtsmann. Er erkannte den Ausdruck der Angst im Auge seines Opfers. Gaius konnte gerade ein Mal husten, als ihm die Flüssigkeit den Hals hinabrann. Das war jedoch die letzte Funktion, die sein Körper ausführte. Sehr schnell kamen sämtliche Bewegungen zum Erliegen. Und ohne das Auge des Mondes in seiner Augenhöhle oder der Hand würde er auch nicht so schnell heilen. In der Erkenntnis, dass Gaius jetzt machtlos war, hatte Sanchez sehr viel Spaß daran, den Kopf des Dunklen Lords mit einer Hand festzuhalten, während er auf Beistand wartete.
Neben der zerstörten Gruft rappelte sich der Bourbon Kid auf und taumelte auf Sanchez und Gaius zu. Er schien in recht schlechter Verfassung. Dieser Laserstrahl von Gaius war ihm eindeutig teuer zu stehen gekommen. Er bückte sich, hob das Auge des Mondes vom Boden auf, drehte sich um und warf es durch ein paar flackernde Flammen auf dem Fußboden zu Kacy hinüber. Sie fing es auf und rief ihm einen kurzen Dank zu. Dann kroch sie, das Auge in der Hand, zu Dante hinüber.
Der Kid schleppte sich auf Sanchez und Gaius zu. Er kippte Gaius praktisch auf die Brust. Sanchez wich ein Stück weit zurück, um ihm Platz für das zu bieten, was er an Grauenhaftem zu tun plante. Der Kid packte den Dunklen Lord am Gesicht und drückte ihm kräftig gegen die Wangen.
»Ich hab gesehen, was du dem Jungen in der Bibliothek angetan hast!«, knurrte er.
»Was hat er getan?«, fragte Sanchez.
»Hat einem Jungen den Schädel eingeschlagen. Hatte auf Kosten dieses Kleinen richtig Spaß.«
Sanchez schüttelte angewidert den Kopf. »Na ja, du weißt ja, was die Leute sagen, oder?«, fragte er.
»Nein. Was sagen sie?«
»Es ist alles nur Spaß, bis jemand ein Auge verliert.«
Der Kid nickte. »Das stimmt.« Er hörte auf, Gaius das Gesicht zu drücken, und blickte Sanchez an. Blut tröpfelte ihm aus dem Mund. »Was war in diesem Flachmann?«, fragte er.
»Der Punsch von dem Weihnachtsmannvampir, denke ich.«
»Übles Zeug.«
Der Kid wandte sich wieder dem angeschlagenen und inzwischen panischen Rameses Gaius zu, ballte die rechte Hand zur Faust und hob sie über den Kopf. Er blickte Gaius ins Auge und stellte sicher, dass er dessen ganze Aufmerksamkeit genoss. Er holte tief Luft.
»Das ist für den Jungen in der Bibliothek.«