♦ NEUNUNDVIERZIG
Normalerweise wäre das Museum ab siebzehn Uhr geschlossen gewesen. Und angesichts der Mordserie, die die Stadt gerade erlebte, wäre es durchaus sinnvoll gewesen, vielleicht sogar vorübergehend ganz zu schließen. Doch als Dante und Vanity nun die Stufen zum Eingang hinaufgingen, stellte Dante zu seiner Überraschung fest, dass die Türen weit offen standen.
»Ist das nicht ziemlich merkwürdig?«, fragte er.
»Ich persönlich halte es eher für einen Glücksfall«, erklärte Vanity kühl.
»Man sollte doch meinen, dass die Sicherheitsleute dafür sorgen, dass die Türen anständig verschlossen sind, oder? Als ich hier noch gearbeitet hab, hat das Museum immer absolut pünktlich geschlossen. Sonst hätte es ziemlichen Ärger gegeben.«
»Aber jetzt gibt es ja hier doch auch einen anderen Chef, oder?«
»Ja, ich glaub schon. Es war wirklich ein Schock, dass Professor Cromwell umgebracht wurde. Den habe ich immer gemocht. Und ich bin jetzt nicht mehr dazu gekommen, mich dafür zu entschuldigen, dass ich ihn bei unserem letzten Zusammentreffen einen Wichser genannt habe.«
»Du hast Wichser zu ihm gesagt?«
»Ja, aber zu meiner Ehrenrettung muss ich dabei erwähnen, dass er gerade mit dem Messer auf mich eingestochen hatte.«
Vanity machte ein verwirrtes Gesicht. »Da hätte er von mir noch ganz andere Sachen erlebt als harmlose Beleidigungen.«
Dante hatte die Eingangstüren erreicht und spähte hindurch. Der Empfangstresen war verwaist. »Mir kommt das alles nicht koscher vor. Irgendwas stimmt hier nicht.«
Vanity marschierte entschlossen und ohne jedes Zögern an ihm vorbei in die Empfangshalle. »Sei doch nicht so ein Weichei! Nimm es als gutes Omen. Jetzt müssen wir nur noch Gaius finden, und dann haben wir gewonnen. Besser hätte es gar nicht laufen können.«
Dante runzelte die Stirn. »Ich bin ja keine besondere Leuchte, aber mich macht das Ganze misstrauisch. Findest du es denn nicht auch seltsam? Was, wenn Gaius nun weiß, dass wir kommen? Vielleicht ist das hier eine Falle.«
Vanity grinste. »In einem Punkt hast du recht.«
»In welchem?«
»Du bist wirklich keine Leuchte.«
»Na danke. Du bist auch nicht gerade Alfred Einstein.«
»Albert.«
»Hä?«
Vanity schüttelte den Kopf. »Hör mal, du bist einfach paranoid. Komm schon, lass uns in die Halle gehen und nachsehen, ob Gaius vielleicht dort irgendwo steckt. Beeilen wir uns, sonst ist unsere Chance vorbei.«
Vanity schien verdammt scharf darauf zu sein, in die große Halle zu kommen. Gut, Dante war sich vollkommen darüber bewusst, dass die meisten Leute ihn für einen Trottel hielten. Kacy warnte ihn immer wieder davor, sich nicht Hals über Kopf in irgendwelche Schwierigkeiten zu bringen. Und sein Instinkt sagte ihm, dass hier Schwierigkeiten lauerten. Warum zum Teufel hätte er Vanity vertrauen sollen? Kacy war wegen des Hochzeitsvideos überzeugt gewesen, dass auch Vanity wieder ein Mensch werden wollte. Dante hatte das Video nicht gesehen. Was er aber sehr wohl oft genug gesehen hatte, war etwas anderes – wie sehr Vanity es nämlich genoss, Leute umzubringen und ihr Blut zu trinken. Und bisher hatte er deshalb noch nie auch nur einen Funken Reue gezeigt. Er schien sein Leben als Vampir zu lieben. Da stellten sich doch gewisse Fragen …
»Vanity.«
»Los jetzt«, sagte Vanity und versuchte Dante mit Gesten anzutreiben, damit der mit in den Flur am Ende des Eingangsbereichs kam.
»Steckst du da mit drin?«
»Was?«
»Lockst du mich in die Falle?«
Vanity wirkte verwirrt. »Was meinst du denn nur?«
»Die Sache stinkt doch zum Himmel! Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du so scharf darauf sein sollst, dich wieder in einen Menschen zu verwandeln. Was aber ganz offensichtlich ist – du willst mich unbedingt zu Gaius bringen. Und nur, um das nochmal ganz klarzustellen – du behauptest, er kommt hierher, um sein Auge reinigen zu lassen?«
»Nachpolieren.«
Dante fasste geistig noch einmal alle Fakten zusammen. Kacy war so begeistert gewesen über diese Chance, Gaius sein Auge zu klauen. Und er selbst hatte sich davon anstecken lassen, ohne richtig nachzudenken.
»Gaius wird sein Auge doch bestimmt selbst polieren können. Das kann ja nicht schwieriger sein, als eine Brille zu säubern. Dafür reicht ein verdammtes Taschentuch.«
Vanity runzelte die Stirn. »Nennst du mich einen Lügner?«
»Nein, ich sage nur, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Und zwar hinten und vorne nicht.«
Angriffslustig machte Vanity ein paar Schritte auf Dante zu. »Also hältst du mich für einen Lügner und bist der Meinung, ich würde dich in eine Falle locken. Und das nach allem, was ich für dich getan habe, du Dreckskerl!«
Die beste Antwort auf einen Angriff war für Dante ein Gegenangriff. Er stürmte also auf Vanity zu und starrte ihn drohend an.
»Jawohl, ich nenne dich einen Lügner!«, brüllte er. »Was soll der ganze Scheiß? Du steckst doch mit Gaius unter einer Decke und hast mich hergelockt, um dich bei ihm wieder einzuschleimen!«
Es folgte ein unangenehmes Schweigen, während Dante auf Vanitys Antwort wartete. Böse funkelten die beiden einander einen Moment lang an, bis Vanity auf einmal vollkommen überraschend strahlend lächelte. Dann lachte er sogar und klopfte Dante auf die Schulter.
»Hahaha, der war gut!«, rief er. »Fast bin ich dir auf den Leim gegangen. Einen Augenblick lang dachte ich echt, du meinst das ernst. Komm mit, wir haben jetzt für solche Scherze keine Zeit mehr. Auf uns wartet der Kampf mit der Mumie.«
Er schlug Dante nochmal freundschaftlich auf die Schulter und setzte sich dann wieder Richtung Flur in Bewegung. Dante wusste nicht, was er davon halten sollte. Offenbar war Vanity der Meinung, er hätte das alles eben nur als Scherz gemeint. Aber das stimmte nicht, es war ihm bitterer Ernst gewesen. Dante folgte zögerlich dem noch immer lachenden Vampir und fragte sich, ob er gerade einen riesigen Fehler machte.
Als sie vor dem Flur angekommen waren, vibrierte sein Handy in seiner Hosentasche. Dante holte es heraus und rief die SMS auf. Sie war von Kacy, die ihm schrieb:
VANITY HAT GELOGEN. HAU DA AB. DAS IST EINE FALLE. RUF MICH AN!
Dante las die SMS zwei Mal, nur um ganz sicherzugehen, dass er sie nicht falsch verstanden hatte. Also hatte er recht gehabt. Vanity war ein Lügner. Und ein Wichser obendrein. Dante blieb stehen, während Vanity weiter geradeaus den Flur entlangging und ihm dabei den Rücken zudrehte. Noch hatte er eine Chance abzuhauen, bevor Vanity es bemerkte. Er steckte sein Handy wieder ein und drehte sich um.
Doch in dem Moment hörte Dante, wie die Eingangstüren geschlossen wurden, und sah es dann auch von Weitem. Vor den Türen stand nun Rameses Gaius in seinem silbernen Anzug. Sein kostbarer blauer Stein funkelte und saß fest in seiner Augenhöhle.
»Mr Vittori«, sagte er und ging auf Dante zu. »So treffen wir uns also wieder.«
»Entschuldigung?«, sagte Dante und tat, um Zeit zu gewinnen, so, als hätte er ihn nicht gehört.
Gaius war irritiert. »Ich sagte, Mr Vittori, so treffen wir uns also wieder.«
»Entschuldigung, ich kann Sie nicht hören«, sagte Dante und sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um, während Gaius immer näher kam.
»Ich sagte, so treffen wir uns also wieder!«, schrie Gaius nun schon fast.
»Was?«
Gaius blieb mitten in der Empfangshalle stehen. Von Dante trennten ihn jetzt nur noch zehn Meter. »Gut, dann eben anders.«
Die riesige Mumie hob ihren rechten Arm. Auf ihrer Handfläche befand sich ein blaues Licht. Dante starrte es an, konnte sich aber nicht erklären, was es war. Er hatte noch niemals etwas gesehen, das man auch nur ansatzweise damit hätte vergleichen können. Plötzlich schwang Gaius seinen Arm, und das blaue Licht nahm die Form eines Laserblitzes an. Von Gaius’ Handfläche kam dieser Blitz nun direkt auf Dante zugeflogen, traf ihn an der Brust und drang in sie ein. Dante riss es von den Füßen, und er flog rückwärts durch die Luft. Dann prallte er mit dem Kopf gegen die Wand, und man hörte ein grässliches Knacken. Alles um ihn herum wurde schwarz, und er sank zu Boden. Er hoffte nur, dass Kacy nicht ohne den Bourbon Kid herkommen und nach ihm suchen würde.
Vanity rannte in die Empfangshalle, wo Gaius sich über Dantes zusammengekrümmte Gestalt beugte. Der Herr der Untoten schien äußerst zufrieden mit sich zu sein, was ja vielleicht bedeutete, dass er mit Vanity auch ganz zufrieden war.
»Fast schon zu einfach, was, Boss?«, fragte er grinsend.
Gaius grinste zurück. »Es gibt doch nichts Einfacheres, als ein schlichtes Gemüt hinters Licht zu führen.«
»Ja, stimmt. Und jetzt? Brauchen Sie mich noch?«
Gaius blickte über Vanitys Schulter. »Nein«, erklärte er dann kalt. »Für dich haben wir keine weitere Verwendung.«
Vanity gefiel Gaius’ Ton überhaupt nicht. Schnell drehte er sich um, weil er sehen wollte, was hinter ihm soeben die Aufmerksamkeit seines Herrn erregt hatte. Vier Vampire vom Black-Plague-Clan kamen den Gang entlang. Vanity schaute Gaius an.
»Ich dachte, wir hatten eine Abmachung?«, fragte er und schaffte es nicht, seine Angst zu verbergen.
Gaius hob die rechte Hand, auf der es wieder blau zu leuchten begann. »Ich treffe keine Abmachungen mit Leuten, die ihre Freunde verraten.«
»Oh Scheiße!«