♦ VIERUNDZWANZIG
Gaius stürmte in sein Büro, wo Jessica hinter dem Schreibtisch saß und die Füße hochgelegt hatte. Ihre kniehohen Stiefel lagen auf seinem Lieblings-Notizblock. Wie üblich war sie ganz in Schwarz gekleidet, wobei der tiefe Ausschnitt ihres Outfits ihrem Vater überhaupt nicht gefiel.
»Ich hoffe, du hast das Buch des Todes aufgetrieben!«, knurrte er.
»Nein«, erklärte Jessica unbekümmert. »Ich habe was viel Besseres!«
»Das wage ich zu bezweifeln.«
Sie zeigte auf ein cremefarbenes Sofa hinter Gaius. Er drehte sich um. Auf dem Sofa lag eine Frau mit dem Gesicht nach unten. Sie trug eine zerschlissene schwarze Jeans und eine blaue Strickjacke.
»Was zum Teufel ist das auf meinem Sofa?«, fragte er.
»Das ist Beth Lansbury.«
»Wer ist Beth Lansbury?«
»Na sie da.«
»Sehr witzig, aber jetzt mal im Ernst, wer ist Beth Lansbury, und wieso hält sie in meinem Büro Mittagsschlaf?«
Jessica nahm die Füße vom Tisch und stand auf. Sie zeigte auf Beth und lächelte. »Diese bezaubernde junge Dame ist die Freundin des Bourbon Kid.«
Gaius zog eine Augenbraue hoch und lächelte fast. »Tatsächlich?«
»Ja.«
»Hast du sie umgebracht?«
»Nein. Das wäre dumm gewesen. Denk nur an die drei bescheuerten Bullen, die seinen Bruder ermordet haben.«
»Okay, und was macht sie dann in meinem Büro?«
»Erpressung. Wenn sie ihm wirklich so wichtig ist, wie ich glaube, wird er herkommen und versuchen, sie zu retten. Sobald er auftaucht, schlagen wir ihm einen Deal vor – sein Leben gegen ihres.«
Gaius schien nicht gerade begeistert zu sein von diesem Plan. »Und inwiefern ist das alles nun besser, als mir das Buch des Todes wiederzubringen?«
»Hast du heute zufällig schlechte Laune?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Das glaube ich aber schon. Und paranoid wirst du auch langsam. Du hast das Auge zu lange in deinem Schädel stecken. Beim letzten Mal hatte es auch schon diesen Effekt auf dich – Verfolgungswahn.«
Misstrauisch musterte Gaius sie aus zusammengekniffenen Augen. »Wer behauptet denn, ich wäre paranoid?«
»Ich.«
»Nur du?«
Jessica seufzte. »Siehst du, genau das meine ich. Paranoid. Du musst das Auge ab und zu mal für ein paar Stunden herausnehmen. Sonst wirst du zu emotional, und deine Rachsucht bringt dich dann dazu, dumme Entscheidungen zu treffen. Das war damals schon dein Ende, deshalb konnte man dich zur Mumie machen und Jahrhunderte in einem Sarkophag einsperren. Nimm das Auge raus, und schalt dein Gehirn wieder ein, verdammte Scheiße!«
»Ich habe mein Gehirn eingeschaltet, aber danke für den Tipp. Erledigst du jetzt die Frau dort auf meinem Sofa oder nicht?«
Jessica ging zu Beth hinüber und klopfte ihr auf den Rücken, doch sie bewegte sich nicht. Lächelnd drehte Jessica sich wieder zu ihrem Vater um. »Beruhige dich und hör mir mal eine Minute zu. Bevor ich die Freundin des Kid ins Traumland geschickt habe, konnte ich ihr noch ein paar wertvolle Informationen entlocken. Sie wusste nicht einmal, dass ihr Freund der Bourbon Kid ist. Das hat sie erst herausgefunden, als er heute Silvinho erstochen hat. Sie kannte den Bourbon Kid unter einem anderen Namen. Seinem wahren Namen.«
»Und der wäre?«
»Jack Daniels. Ironie des Schicksals, oder?«
Gaius nickte. »Könnte man sagen. Leider hilft es uns gar nichts, seinen richtigen Namen zu kennen, solange wir das verfluchte Buch nicht haben. Läuft hier eigentlich auch irgendwann mal was nach Plan?«
»Nein, und genau deshalb sollte man immer einen Plan B parat haben.« Jessica beugte sich zu Beth herunter und strich ihr übers Haar. »Du bist zu sehr auf das Buch fixiert«, sagte sie dann zu Gaius. »Mit ihr hier als Lockvogel brauchen wir es gar nicht, um den Bourbon Kid aus dem Weg zu räumen. Es spielt dabei nämlich keine Rolle, ob sein Name in deinem ach so wertvollen Buch steht.«
Gaius ging rüber zu seinem Schreibtisch und ließ sich mit einem lauten Seufzen auf den Schreibstuhl dahinter fallen. »Jessica, Liebes, ich brauche das Buch des Todes nicht nur, um den Bourbon Kid loszuwerden. Der ist nur eine kleine Schmeißfliege, die ich mit bloßen Händen zerquetschen kann. Mit dem Buch habe ich weit Wichtigeres vor.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Es ist eine Art Lebensversicherung. Sobald sich die Armee der Untoten erst einmal formiert hat und meine Mission zur endgültigen Beherrschung dieser Welt beginnt, werden uns die Regierungen der freien Nationen mit Atombomben und wer weiß was noch allem drohen. Wenn ich ihren Führern aber dann demonstriere, dass ich nur ihre Namen im Buch des Todes eintragen muss, um sie zu beseitigen, werden sie sich mir schnell unterordnen. Dann habe ich sie in der Tasche, und wir können jedes Land dieser Erde übernehmen, ohne überhaupt zu kämpfen.«
Jessica schaute ihren Vater verblüfft an. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so große Pläne hast. Ich bin ansatzweise beeindruckt.«
»Das solltest du auch sein. Im Moment fehlt allerdings jede Spur von dem Buch und von Ulrika Price ebenfalls. Wo wir gerade dabei sind – ich sollte der Bibliothek einen kleinen Besuch abstatten.«
Jessica schüttelte den Kopf. »Siehst du, jetzt fängst du schon wieder so an. Du nimmst die Sache persönlich und willst Rache.«
»Hör jetzt auf damit, verdammt. Du kannst Ulrika Price doch auch nicht ausstehen. Du müsstest eigentlich froh sein, wenn ich sie für immer aus dem Weg räume.«
»Woher willst du wissen, dass das Miststück nicht in einem Anfall von Größenwahn unsere Namen in das Buch geschrieben hat? Es überrascht mich wirklich, dass du es ihr trotz deiner ganzen Paranoia überhaupt anvertraut hast. Vielleicht hat sie das Buch auch verkauft und längst die Stadt verlassen.«
Gaius knirschte frustriert mit den Zähnen. »Deshalb sage ich ja, dass das Buch ganz oben auf unserer Liste steht. Wir müssen es unbedingt zurückbekommen. Nach all den Morden, die hier stattgefunden haben, kann es nicht mehr lange dauern, bis der Rest der Welt herausfindet, dass es in Santa Mondega nur so von Vampiren wimmelt. Und sobald die Katze aus dem Sack ist, werden sämtliche Länder ihre Armeen herschicken. Die werden uns auslöschen, bevor wir auch nur die erste Schlacht geschlagen haben. Insofern ist es zwar sehr schön, dass du die Frau dort entführt hast, aber lange nicht so wichtig, wie das Buch des Todes aufzutreiben.«
»Oh je.« Jessica machte ein bekümmertes Gesicht. »Dann habe ich ziemlich schlechte Neuigkeiten für dich.«
»Als da wären?«
»Sämtliche Nachrichten berichten schon über uns.«
Gaius wurde auf einmal sehr nervös und fuhr sich ein paar Mal über den kahlen glatten Schädel. Wenn er Haare gehabt hätte, er hätte sich jetzt ein paar Büschel ausgerissen. »Was soll das denn heißen?«
»Seit einer Stunde läuft in den Lokalnachrichten immer wieder dieselbe Nachricht. Die Öffentlichkeit ist schon ganz aus dem Häuschen deshalb.«
Schockiert holte Gaius tief Luft. »Und was wird berichtet? Los, raus damit!«
»Da draußen läuft ein Kindermörder frei herum.«
»Was geht uns das an?«
»Das kann ich dir erklären. Sämtliche Opfer wurden vergiftet und hatten Bissspuren am Hals. Deshalb erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand, dass dahinter bestimmt ein Vampir steckt. Wir haben uns in letzter Zeit sowieso nicht besonders diskret aufgeführt, aber durch diesen Kindermörder sitzen wir jetzt auf dem Präsentierteller.«
Gaius haute mit der Faust auf den Tisch. »Verdammte Scheiße!«, schrie er. »Das wird uns noch alles versauen. Wenn das erst im Rest des Landes bekannt wird, schickt die ganze Welt ihre Truppen her. Wer zum Teufel ist dieser Irre?«
»Tja, das ist es ja. In den Nachrichten heißt es, einige der Kinder hätten Ziegenhaare unter den Fingernägeln gehabt.«
»Ziegenhaare?«
»Ja.«
»Das hätte ich mir eigentlich denken können«, sagte Gaius seufzend.
Jessica holte ein Handy aus ihrem Ausschnitt, das sie dort versteckt hatte. Sie tippte etwas hinein, ging dann zum Schreibtisch ihres Vaters und gab ihm das Telefon. »Drück einfach auf Wählen.«
Gaius nahm sich das Handy, drückte die Taste und hielt es sich dann ans Ohr. Es klingelte zweimal, bevor jemand ranging.
»Hallo«, meldete sich eine Stimme.
»Hallo! Hier ist Rameses Gaius. Kann es sein, dass du mir etwas sagen möchtest?«
Ein paar Sekunden herrschte Stille am anderen Ende. Dann: »Nein, nicht dass ich wüsste.«
Das war’s. Gaius konnte sich nicht mehr beherrschen. »Die Nachrichten berichten stündlich über dich, du verdammter Idiot!«, schrie er.
»Oh.«
»Ja, genau – oh! Du hast mir versprochen, das mit den Kindern zu lassen. Jedenfalls, bis ich die Weltherrschaft an mich gerissen habe. Aber damit hast du dich zum letzten Mal meinen Anweisungen widersetzt!«
»Tut mir leid, ich dachte, ich wäre ganz unauffällig gewesen.«
»Du bist so unauffällig wie ein lauter Furz in der Bibliothek!«
»Hä?«
»Verdammt, verdammt, verdammt«, fluchte Gaius frustriert. »Ich habe sowieso schon einen beschissenen Tag, da brauche ich das wirklich nicht auch noch. Das Buch des Todes ist verschwunden, der Bourbon Kid läuft irgendwo da draußen frei herum, und jetzt berichten auch noch die Nachrichten über dich und die Kinder!«
»Das Buch des Todes ist weg?«
»Geht dich zwar nichts an, aber – ja.«
Die Stimme am anderen Ende klang plötzlich etwas weniger zerknirscht. »Ich weiß, wer es hat«, sagte sie. »Wenn du willst, beschaffe ich es dir wieder.«
»Ernsthaft?«
»Ja. Wenn ich dir das Buch besorge, darf ich dann wieder ein paar Kinder umbringen?«
»Natürlich. Wer hat das Buch?«
»So ein Idiot hier aus der Stadt. Der ist gerade nur einen Katzensprung von mir entfernt. Ihm das Buch abzunehmen, wird überhaupt kein Problem sein.«