♦ SIEBENUNDVIERZIG
Dan Harker stand seit dreißig Minuten auf dem Parkplatz vor dem Museum und wartete auf William Clays Rückruf. Er hatte bereits drei Nachrichten auf Clays Handy hinterlassen. Und auch im Revier hatte er diverse Male angerufen. Flake saß aber offenbar nicht mehr am Empfang. Hatte sein Interview eine Racheaktion der Vampire provoziert? Waren Sie ins Polizeirevier eingedrungen? Er wusste es nicht.
Okay, dreißig Minuten Grübelei waren genug. Das brachte ihn nicht weiter. Dann musste er eben allein und ohne Verstärkung ins Museum gehen und Elijah Simmonds als des Mordes an Bertram Cromwell dringend Tatverdächtigen verhaften. Allein einen mutmaßlichen Mörder zu stellen, verstieß eigentlich gegen die Regeln der Polizeiarbeit und das aus gutem Grund. Es war gefährlich. Insbesondere wenn es, wie in diesem Fall, eine besonders brutale Tat gewesen war.
Es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen, als Harker ausstieg und durch den Schnee ins Museum stapfte. Er klingelte dreimal an der Tür und wartete dann darauf, dass jemand öffnete. Gerade wollte er aufgeben und sich etwas anderes überlegen, da machte ihm James, der Wachmann, auf, den Harker von seinem vorigen Besuch hier bereits kannte.
»Hallo«, sagte Harker. »Darf ich eine Minute reinkommen? Ich möchte mit Mr Simmonds sprechen.«
»Klar, kommen Sie herein.«
James trat beiseite und ließ Harker durch, bevor er die Tür wieder schloss. »Ist es draußen so kalt, wie es aussieht?«
»So kalt, wie es in dieser Stadt noch nie gewesen ist, jedenfalls solange ich mich erinnern kann.«
»Soll ich Ihnen den Mantel abnehmen?«
»Nein danke, das geht schon. Sagen Sie mir bitte nur, wo ich Simmonds finde.«
»Der ist in seinem Büro. Soll ich Sie hinbringen?«
Harker schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein.«
»Okay, dann drück ich die Sicherheitstür für Sie auf, durch die Sie in den Flur kommen, in dem Mr Simmonds’ Büro liegt. Und gebe ihm kurz Bescheid, dass Sie unterwegs sind.«
Harker war schon losgegangen, als er sich noch einmal zu dem Wachmann umdrehte. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn nicht anzurufen? Ich habe angenehme Neuigkeiten für ihn und möchte ihm die Überraschung nicht verderben.«
»Sind es wirklich gute Nachrichten?«
»Ja.«
»Dann viel Glück, Captain.«
Harker ging über den Korridor zu Simmonds’ Büro. Sobald James ihn nicht mehr sehen konnte, beschleunigte er seine Schritte. Falls der Wachmann entgegen seiner Bitte seinen Chef doch verständigte, hatte er den Überraschungseffekt nicht mehr auf seiner Seite. Sobald er die große schwarze Tür am Ende des Flurs bemerkte und den Schriftzug SIMMONDS in silbernen Buchstaben, zog er die Pistole aus dem Holster an seiner Hüfte.
Er blieb vor der Tür stehen, wollte anklopfen, hatte auch schon die Hand erhoben, überlegte es sich dann aber anders und ließ die Hand wieder sinken. Er brauchte das Überraschungsmoment unbedingt auf seiner Seite, es war sein einziger Schutz. Also drehte er am Türknauf, stieß die Tür so weit auf, wie es ging, und hob die Waffe. Direkt vor ihm saß Elijah Simmonds auf seinem schwarzen Chefsessel am Schreibtisch und zählte Geld. Sehr viel Geld. Vor ihm lagen dreißig Zentimeter hoch Bündel mit Fünfzigdollarscheinen aufgestapelt. Simmonds selbst war offensichtlich geschockt und panisch, Harker hier zu sehen.
»Captain Harker«, stammelte er. »Was machen Sie denn hier?«
Harker zielte auf Simmonds und betrat das Büro. »Stehen Sie bitte auf und heben Sie die Hände über den Kopf.«
Nervös hob Simmonds abwehrend die Hände. »Das ist alles nicht so, wie es aussieht.«
»Aufstehen«, befahl Harker erneut und kam einen Schritt näher.
»Okay, okay«, sagte Simmonds und achtete darauf, keine hektischen Bewegungen zu machen.
Harker starrte die Geldscheine auf dem Tisch an. Eine solche Summe hatte er noch nie auf einem Haufen gesehen. »Woher haben Sie all das Geld?«, fragte er.
Simmonds antwortete nicht. Stattdessen hörte Harker, wie hinter ihm die Tür zugeknallt wurde. Er flog herum, um zu sehen, wer das gewesen war. Dort stand ein wahrer Riese von einem Mann in einem silbernen Anzug. Sein Kopf war kahl rasiert, und er trug eine Sonnenbrille.
»Sie sind also Captain Harker«, sagte der Mann. »Der superschlaue Detective, der die Einwohner in den Nachrichten vor Vampirangriffen gewarnt hat.«
»Richtig. Und wer sind Sie?«
»Ich bin Rameses Gaius, der Herr der Untotenarmee, dessen Pläne Sie durchkreuzen wollten.«
Harkers Finger zuckten an der Waffe. »Schön, Mr Gaius. Dann knien Sie sich jetzt bitte hin. Sie sind verhaftet.«
»Das glaube ich nicht.«
Gaius hob die rechte Hand, die hellblau zu glühen begann. Eine Art elektrische Energie schien sich in seiner Handfläche zu sammeln, und auch hinter seiner Sonnenbrille leuchtete es nun blau. Harker beschloss, nicht länger zu warten, und drückte ab.
BÄÄÄÄM!
Der Schuss war ohrenbetäubend laut in Simmonds’ Büro. Die Kugel bohrte sich in Gaius’ Brust, doch der Mann fiel nicht um. Er stand lächelnd da, während seine Hand weiter glühte.
BÄÄÄM!
Harker feuerte einen weiteren Schuss auf Gaius’ Brust ab, der wieder keinerlei Effekt zu haben schien. Der Mann lächelte nur noch breiter.
»Dann wäre ich wohl jetzt dran«, sagte er.
Harkers Augen weiteten sich vor Angst, als das blaue Licht in Gaius’ Hand sich zu einem bowlingkugelgroßen Ball formte. Mit einem leichten Schwung aus seinem Handgelenk warf Gaius die Kugel nach Harker. Sie traf ihn an der Brust, und der Captain wurde rückwärts Richtung Wand geschleudert. An der Wand befand sich ein Bücherregal, gegen das Harker prallte. Einige Bücher fielen herunter und ihm direkt auf den Kopf.
Harker war ganz benommen und rang nach Atem. Seine Lunge fühlte sich an, als wäre sie in sich zusammengefallen, und er konnte auf einmal nichts mehr sehen. Seine Waffe war ihm aus der Hand gefallen, und Harker suchte mit der rechten Hand danach tastend den Boden ab.
Als seine Sehkraft zurückkehrte, erkannte er das Gesicht von Elijah Simmonds vor sich. Hämisch grinste der Museumsleiter ihn an. Er hatte sich die Waffe des Captain geschnappt und wedelte ihm damit vor der Nase herum. Mochte er vor ein paar Minuten noch panisch ausgesehen haben, wirkte er jetzt hochgradig gefährlich. »Na, suchen Sie die hier?«, fragte er grinsend.
Harker öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch seine Lungen saugten nur verzweifelt Luft ein. Simmonds nutzte diese Chance, packte Harker am Hals und drückte ihm die Mündung der Waffe in den Mund.
»Auf einmal sind Sie gar nicht mehr der harte Bulle, was?«, fragte er hämisch.
Harker warf ihm einen flehenden Blick zu und betete innerlich, dass Simmonds der Mut fehlen würde, jetzt auch wirklich abzudrücken. Obwohl er die Waffe im Mund hatte, brachte er ein undeutliches »Bitte nicht« zustande. Doch Simmonds kannte kein Mitleid mit ihm. Er drückte ab und blies Harker das Gehirn aus dem Schädel.