♦ DREIUNDVIERZIG
Sanchez war aus der Eingangshalle der Casa De Ville in ein großes Esszimmer geflüchtet. Es war wirklich beeindruckend und viel schöner als seines zu Hause. Bestimmt waren hier im Laufe der Jahre oder sogar Jahrhunderte viele rauschende Bankette abgehalten worden. In der Mitte befand sich ein langer Esstisch aus Eichenholz, an dessen Seiten und den beiden Enden elegante Stühle mit hohen Lehnen standen. An den Wänden standen Regale, in denen sich alle möglichen Figuren und andere Sammlerstücke befanden, die bestimmt teuer waren. Würde sich wohl lohnen, etwas davon mitgehen zu lassen, falls Sanchez es selbst mit heiler Haut hier herausschaffte. Das Beste an diesem luxuriösen Speisezimmer war für Sanchez im Moment allerdings, dass es leer war. Dass Jessica ein Vampir und draußen eine ganze Armee der Untoten wartete, hatte ihn doch ziemlich schockiert. Und wenn er sich überlegte, wie sie über ihn geredet hatte, war es wohl doch nicht so wahrscheinlich, dass sie besonders viel für ihn übrighatte. Im Bestfall kam er für sie vermutlich als kleine Zwischenmahlzeit infrage. Er brauchte Hilfe, und zwar dringend. Schnell holte er sein Handy aus der Hosentasche und schaltete es an. Zwei Anrufe in Abwesenheit, beide von Flake. Und eine Nachricht hatte sie ihm auch hinterlassen. Sanchez hörte die Mailbox ab:
»Sanchez, hier ist Flake. Bleib weg von der Casa De Ville. Deine Freundin Jessica ist ein Vampir. Das steht im Buch ohne Namen. Sobald du ihr das Buch des Todes ausgehändigt hast, wird sie dich bestimmt umbringen. Ruf mich sofort an!«
Verdammt!
Warum hatte er die Nachricht nur nicht früher abgehört? Flake war so schlau. Und er war der Dumme – nicht etwa andersherum! Da stand wohl eine Entschuldigung an. Im Moment aber musste Flake ihn erst mal retten. Er musste sie anrufen, und zwar pronto. Sanchez wählte ihre Nummer und hielt sich das Telefon ans Ohr. Der Klingelton schien eine Ewigkeit zu läuten, bevor Flake sich endlich laut und deutlich meldete.
Hallo, hier ist Flake. Leider kann ich gerade nicht rangehen. Bitte hinterlassen Sie mir nach dem Signalton eine Nachricht. Na ja, Sie wissen schon, nach dem Piepton. Ist ein Piep überhaupt ein Ton? Na ja, egal, hinterlassen Sie mir einfach eine Nachricht. Nach dem Piep.
Okay, vielleicht war sie doch ein bisschen bescheuert. Trotzdem hinterließ Sanchez ihr eine Nachricht. Er senkte die Stimme, falls jemand draußen in der Nähe war. »Hey, Flake, hier ist Sanchez, ich hab deine Nachricht abgehört. Du hast mit allem recht. Tut mir leid, dass ich dir nicht gleich geglaubt hab. Und jetzt sitze ich in einem Esszimmer in der Casa De Ville fest. Hier ist alles voller Vampire und Werwölfe. Das Buch des Todes hab ich noch, aber ich komm hier nicht raus. Sag im Revier Bescheid. Hier ist die Scheiße am Dampfen. Die sollen alle ihre Leute herschicken. Wenn du diese Nachricht abhörst, ruf mich bitte zurück. Oder denk dir was aus, wie du mich heil hier herausbekommst. Ähm …« Er merkte, dass er kurz davor war, sinnloses Zeug zu plappern. Was wollte er eigentlich genau sagen? Auf keinen Fall durfte Flake das, was jetzt kam, missverstehen. »Solltest du herkommen, Flake, pass bitte auf die ganzen Vampire und Werwölfe im Burghof auf, ja? Ich glaub, die sind hinter dem Bourbon Kid her. Um den musst du übrigens auch einen großen Bogen machen, solltet ihr euch über den Weg laufen. Ja, und der dürfte hier auch irgendwo sein. Der Mann ist gefährlich und würde dich nur so zum Spaß jederzeit abknallen. Ich hoffe wirklich, dass du diese Nachricht bekommst, Flake. Ich vermisse dich, tschüs!«
Erst jetzt ging ihm auf, was er da eben alles gesagt hatte. Nicht nur, dass er sich bei Flake entschuldigt hatte, er hatte sie auch vor den Vampiren und Werwölfen gewarnt und ihr gestanden, dass er sie vermisste. Besonders den letzten Punkt fand er beunruhigend. Wahrscheinlich, weil es absolut stimmte. Er vermisste Flakes Gesellschaft, wenn sie nicht da war. Wann war das nur passiert? Die ganze Zeit war er vollkommen besessen von Jessica gewesen, und gleichzeitig war Flake immer sein Fels in der Brandung geblieben. Herrgott, die Frau hatte ihm das Leben gerettet, als Ulrika ihn umbringen wollte. Und dann nochmal, als die Sunflower Girls hinter ihm her waren und laut seinen Kopf verlangt hatten. Aber was am wichtigsten war – sie machte perfekte Bratwürstchen. Genauso, wie er sie mochte. Wenn er jetzt die Wahl zwischen Jessica und Flake gehabt hätte, er hätte nicht lange überlegen müssen. Sie wäre eindeutig auf Flake gefallen. Natürlich konnte es gut sein, dass sie ihn inzwischen satthatte. Er war in letzter Zeit nicht gerade besonders nett zu ihr gewesen. Besonders als er ihr die Schuld in die Schuhe geschoben hatte, weil das Buch des Todes in so einem schlechten Zustand war, seitdem sie es angefahren hatte. Falls Flake es jetzt wieder schaffen sollte, ihn heil aus diesem Schlamassel herauszuholen, würde er ihr im Olé Au Lait auch keine gefälschten Dollarscheine mehr als Trinkgeld geben. Das schwor er sich.
Sanchez steckte das Handy zurück in seine Hosentasche und überlegte, was er jetzt machen sollte. Er brauchte ein Versteck!
Aber wo sollte er ein gutes finden?
Hier im Esszimmer bot sich nichts an, außer unter den Tisch zu kriechen. Am Ende des Raums befand sich allerdings eine große schwarze Tür mit einer glänzenden Metallklinke. Sie öffnete sich nach innen. Dahinter lag ein schmaler Flur, der glücklicherweise leer war. Nach ein paar Schritten gingen links und rechts davon Türen ab. Bad? Schlafzimmer? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Sanchez rannte zur ersten Tür rechts, öffnete sie und spähte hinein. In der Mitte des Zimmers befand sich ein Doppelbett mit einem Nachttisch daneben. Sonst gab es nur ein paar Einbauschränke und eine kleine Tür in der Ecke. Sanchez blickte sich noch einmal um, ob ihn wirklich niemand beobachtete, dann ging er ins Zimmer, schloss die Tür wieder hinter sich und marschierte zu der kleinen Tür. Das musste doch wohl ein Bad sein? Ein Blick hinein – ausnahmsweise hatte er mal recht. Geradeaus stand eine königsblaue Badewanne, links die farblich dazu passende Toilette und das Waschbecken. Von einer Stange über der Badewanne hing ein hellblauer Duschvorhang herab. Sanchez betrat das Badezimmer und schloss die Tür hinter sich ab.
Er musste wieder an das Telefongespräch von Jessica und Panda-Girl denken. Jessica hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ihn nicht mehr brauchte, sobald er ihr das Buch ausgehändigt hatte. Was für ein Miststück! Nach allem, was er für sie getan hatte. Das Buch war damit seine Lebensversicherung. Wenn er es aus der Hand gab, war er nur noch Futter für die Untoten.
Sanchez kam plötzlich eine Idee, wie er sein eigenes Überleben sichern könnte.
Er musste das Buch des Todes verstecken.
Sanchez nahm seinen Beutel ab, legte ihn auf den Boden und holte das Buch heraus. Die Buchdeckel waren immer noch leicht feucht und die Seitenränder verkrustet, was natürlich von dem Zusammenstoß kam, den das Buch am Tag zuvor mit Flakes Käfer im Schnee gehabt hatte. Vorsichtig legte Sanchez es in die Badewanne. Niemand sollte ihn dabei hören. Um es schwerer zu machen, das Buch zu finden, zog er den Duschvorhang zu. So sah man das Buch wenigstens nicht gleich, falls hier jemand zum Scheißen reinkam. Gut, dieser ganze Plan war jetzt kein Geniestreich, aber immerhin war es ein Plan. Sollte er Jessica später begegnen, konnte er behaupten, er hätte das Buch zu Hause vergessen und müsste dringend zurück ins Tapioca, um es aus dem Safe zu holen.
Gerade als er sich selbst zu dieser Strategie gratulieren wollte, hörte er, wie sich die Tür zum Schlafzimmer öffnete. Hatte ihn wirklich so schnell schon jemand gefunden? Sanchez hörte Schritte, die sich dem Badezimmer näherten. Von der anderen Seite versuchte jemand die Tür zu öffnen.
Dann rief dieser jemand: »Wer ist da drin?«
Sanchez bekam Panik. »Eine Minute bitte!«, rief er, um etwas Zeit zu schinden.
Er durfte nicht den Eindruck erwecken, als hätte er etwas zu verbergen. Leise schlich Sanchez sich hinüber zur Toilette und spülte. Dann hob er seinen leeren Beutel vom Boden auf, hängte ihn sich über die Schulter und verließ das Bad so ruhig, wie er es unter den Umständen fertigbrachte.
Vor dem Badezimmer wartete Panda-Girl mit grimmiger Miene und ihrem dämlichen Make-up.
»Fertig«, erklärte Sanchez und wedelte mit der Hand vor seiner Nase herum. »Ich würde da an deiner Stelle jetzt nicht reingehen.«
Panda-Girl musterte erst Sanchez’ Beutel über seiner Schulter und dann ihn selbst. »Der Beutel ist leer«, stellte sie fest. »Wo ist das Buch? Was hast du damit gemacht?«