VIER

Sanchez hasste Schnee. Bisher kannte er ihn zwar nur aus dem Fernsehen, aber das reichte. Als er an diesem ersten November nach den schrecklichen Ereignissen der letzten Nacht aufgewacht war, gaben ihm die schneebedeckten Straßen den Rest. Das Zeug war über Nacht dick und reichlich vom Himmel gefallen und lag nun zehn Zentimeter hoch draußen herum. Die Kinder waren begeistert und eifrig damit beschäftigt, Schneemänner zu bauen. Als Sanchez zu seinem Auto gegangen war, hatte ihn jemand mit einem Schneeball beworfen. Er hatte den Zeitungsjungen in Verdacht – dieser kleine Scheißer. Das einzig Gute an dem eisigen Wetter war, dass er endlich mal Gelegenheit bekam, seine Top-Gun-Lederjacke anzuziehen, die er sich im Internet bestellt hatte. Seitdem allerdings war es für die Jacke in Santa Mondega immer zu warm gewesen. Daher war sie bisher nur in seinem Schlafzimmer zum Einsatz gekommen, wenn er vor dem Spiegel stand und Tom Cruise spielte.

Seine Fahrt zum Olé Au Lait, wo er immer frühstückte, dauerte heute länger als sonst. Das lag zum Teil an den glatten Straßen, aber vor allem daran, dass Sanchez ein paar Mal die Fahrbahn verließ, um Schneemänner auf dem Bürgersteig zu erledigen.

Kurz nach neun Uhr trudelte er im Café ein. Schlimme Erfahrungen hatten ihn gelehrt, möglichst früh dort aufzutauchen – bevor die Rentner sich hier einfanden. Die setzten sich nämlich bevorzugt an einen der Tische neben ihm und furzten vor sich hin, während er frühstückte.

Mit einem schwarzen Beutel über der Schulter betrat er das Café. Falls er heute Morgen hier essen wollte, musste er erst seine Schulden bei Rick begleichen. Dem gehörte der Laden. Am Tag zuvor hatte Rick ihn angerufen und ihm einige wertvolle Informationen zugespielt. Sanchez hatte ihm dafür eine Flasche Schnaps versprochen, und diese Flasche steckte jetzt in seinem Beutel. Allerdings hoffte er, dass Rick vielleicht gerade nicht da war und er das Zeug deshalb nicht übergeben musste. Abgesehen vom Schnaps befand sich in Sanchez’ Beutel auch noch ein Buch, das er aus der Bibliothek gestohlen hatte. Das Buch des Todes. Leider hatte er darin nichts über das Buch ohne Namen gefunden und auch nichts darüber, wer Jessica war. Tatsächlich wurde Jessica im ganzen Buch nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar in einer Notiz, die er selbst hineingekritzelt hatte. Rick hatte ihm ihren vollen Namen gesagt, und dann noch von einem Bekannten von ihr erzählt, der Rameses Gaius hieß. Beide Namen hatte Sanchez auf einer leeren Seite des Buchs aufgeschrieben, um sie später im Netz zu recherchieren.

Auf dem Weg zum Tresen des Cafés nahm er einen unangenehmen Uringeruch wahr. An einem der Tische saß ein zusammengesunkener besoffener Weihnachtsmann. Schlaftrunken murmelte er so etwas wie Nur ein paar Groschen, bitte vor sich hin. Sanchez ignorierte ihn und heuchelte stattdessen ein Lächeln für Rick hinterm Tresen, der gerade Scheine in die Kasse zählte. Heute trug er nicht wie sonst seine weißen Kochklamotten, sondern Jeans und, verdammte Scheiße, eine Top-Gun-Lederjacke. Dreckskerl. Er hob den Kopf und erwiderte Sanchez’ Lächeln.

»Morgen, Sanchez. Tolle Jacke.«

»Ja, deine auch«, erwiderte Sanchez, der innerlich kochte.

Rick musterte den Beutel. »Ich hoffe, da ist meine Flasche Jack Daniel’s drin.« Sein Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen.

»Aber klar doch«, antwortete Sanchez. »Da ist sie drin.«

»Dann her damit.«

Sanchez steckte die Hand in den Beutel. Die Flasche war nach unten gerutscht, unter das Buch des Todes. Er zog den großen schwarzen Hardcover-Band zuerst aus dem Beutel und legte ihn auf den Tresen.

»Was ist das denn?«, fragte Rick.

»Ein Buch, das ich nachher zurück in die Bibliothek bringen muss.«

Rick drehte das Buch um, damit er den Titel sehen konnte. »Das Buch des Todes? Worum geht’s denn da?«

Sanchez holte den Jack Daniel’s raus und stellte ihn auf das Buch. »Weiß ich nicht so genau. Ist nur eine Liste mit Namen, nach Daten geordnet wie ein Tagebuch.«

»Oh.« Rick klang enttäuscht. »Hör mal, ich muss heute Vormittag sowieso noch in die Bibliothek. Wenn du willst, geb ich das Buch für dich ab.«

»Das wär toll«, sagte Sanchez. »Aber gib es nicht am Tresen zurück, sondern stell es einfach wieder an seinen Platz im Regal.«

Rick zog eine Augenbraue hoch. »Hast du es etwa rausgeschmuggelt?«

»Nein, aber ich habe ein paar Namen reingekritzelt.«

»Warum?«

»Ich hatte gerade kein Notizpapier dabei.«

»Na ja, halb so wild, ein bisschen Gekritzel ist kein Verbrechen«, erklärte Rick.

»Leider doch. Öffentliches Eigentum der Bibliothek zu beschädigen, ist ein ziemlich ernstes Vergehen.«

»Gegen wen?«

»Schon mal die Frau gesehen, die da arbeitet?«

Rick verstand, was Sanchez meinte, und grinste breit. »Ganz schönes Miststück, was?«

Sanchez stimmte Rick aus tiefstem Herzen zu – er konnte Ulrika Price auf den Tod nicht ausstehen. »Und das ist noch freundlich ausgedrückt.«

Rick griff nach der Flasche, schraubte den Deckel ab und roch daran. »Gutes Zeug«, stellte er fest.

»Was hast du denn erwartet?«

»Dass du vielleicht was von deinem Selbstgebrannten anschleppst.«

Sanchez bemühte sich um einen beleidigten Gesichtsausdruck. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Aber natürlich nicht«, sagte Rick. »Der Weihnachtsmann dahinten in der Ecke riecht genau wie das Zeug, das du sonst ausschenkst.«

»Wie auch immer«, meinte Sanchez. »Zeit fürs Frühstück. Ich hab Hunger.«

»Hey, Flake! Kundschaft!«, rief Rick ins Hinterzimmer.

Ricks Chefkellnerin Flake erschien mit Zettelblock und Stift. Ihr langes braunes Haar hatte sie zum Pferdeschwanz nach hinten gebunden, und sie trug das Kellnerinnen-Outfit, das Rick von all seinen weiblichen Angestellten verlangte. Sanchez konnte ihm dazu nur gratulieren. Es bestand aus einem schwarzen Kleid und ebensolchen Strümpfen, beides unterstrich Flakes Figur ganz ausgezeichnet.

»Guten Morgen, Sanchez«, begrüßte sie ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Das große Frühstück und einen großen Kaffee?«

»Ja, bitte, Flake.«

Sie zeigte auf einen Tisch am anderen Ende des Cafés, weit weg von dem nach Pisse stinkenden Weihnachtsmann. Das kam Sanchez entgegen, der ohnehin ungern in der Nähe anderer Gäste frühstückte, besonders wenn sie einen solchen Gestank verbreiteten. »Dahinten habe ich gerade alles sauber gewischt und eine Zeitung für dich bereitgelegt.« Flake zwinkerte ihm zu.

»Danke.«

Rick klemmte sich das Buch des Todes unter den Arm und kam um den Tresen herum. »Flake, ich fahr jetzt ins Zentrum. Sobald Sanchez fertig ist, kannst du auch gehen.«

»Machst du heute früher zu?«, erkundigte sich Sanchez.

»Wenn ich nicht gewusst hätte, dass du mit dem Jack Daniel’s vorbeikommst, hätt ich gar nicht aufgemacht«, erklärte Rick und drehte das Schild an der Eingangstür auf GESCHLOSSEN. Beim Rausgehen blinzelte er Sanchez noch einmal über die Schulter hinweg zu. »Lass dich nicht von Flake zu irgendwelchen Dummheiten überreden.« Damit stapfte er hinaus in den Schnee.

»Ich bring dir gleich den Kaffee«, sagte Flake zu Sanchez. »Setz dich schon mal hin.«

Sanchez marschierte zu seinem verdächtig sauberen Tisch und beäugte Flake misstrauisch. Wollte sie irgendwas Bestimmtes von ihm und versuchte nur, sich bei ihm einzuschmeicheln? Hatte sie irgendwelche Hintergedanken? Oder hoffte sie auf ein besonders großes Trinkgeld?

»Du bist ja heute gut drauf, Flake«, stellte Sanchez fest. »Gibt’s dafür einen bestimmten Grund?«

»Ich freu mich natürlich, dich zu sehen«, antwortete sie. »Gott sei Dank bist du nicht unter den Opfern von letzter Nacht.«

»War ziemlich knapp, ich hatte nämlich ein kleines Problem mit dem Bourbon Kid und ein paar Werwölfen.«

»Hab ich gehört. Du Glückspilz bist erneut heil aus einer Schießerei rausgekommen.«

»Das schon – aber dieses Arschloch hat schon wieder meine gesamte Kundschaft umgenietet.«

»Hast du ihm denn wieder Pisse eingeschenkt statt Bourbon?«

Sanchez setzte sich, nahm die Zeitung und überflog die Schlagzeilen. »Dazu hatte ich diesmal leider keine Gelegenheit. Ich hatte den letzten Rest kurz vorher schon an die Werwölfe ausgeschenkt.«

Wie zu erwarten, machte die Zeitung mit der Story über das nächtliche Blutbad auf. Diesmal schien sich die Zahl der Todesopfer im vierstelligen Bereich zu bewegen. Kopfschüttelnd überlegte Sanchez, wie viele potenzielle Gäste ihn das wohl gekostet hatte.

Als er von der Zeitung aufschaute, wirkte Flake irgendwie verändert. Sie stand noch immer hinterm Tresen und trug dasselbe Outfit, hatte aber die weiße Schürze abgenommen und den Pferdeschwanz gelöst. Ihre wunderschöne braune Haarpracht passte zur ebenfalls braunen Farbe ihrer Augen. An sich ein toller Anblick, aber Sanchez fand offenes langes Haar in einem Restaurantbetrieb unhygienisch. Doch weil Flake ein ausgezeichnetes Frühstück machte, behielt er das für sich.

Mit gerunzelter Stirn studierte er weiter die Horrormeldungen in der Zeitung, bis Flake ihm einen Becher Kaffee brachte.

»Ich kenne außer dir niemanden, der den Mumm hat, dem Bourbon Kid Pisse zu servieren«, sagte sie und holte sehr tief Luft. Ihr Dekolleté ragte dabei über den Rand der Zeitung hinweg und gewährte Sanchez einen unvermeidlichen Ausblick auf Flakes Titten. Zwei verdammt scharfe Titten, wie er zugeben musste. Ein paar Sekunden saß er nur da und starrte sie an, bevor ihm wieder einfiel, dass Flake gerade etwas gesagt hatte.

»Mumm?«, fragte er verwirrt, weil er den Begriff sonst eher nicht mit sich selbst in Verbindung brachte. Die Frau war definitiv high.

Schnell bekam er sich wieder unter Kontrolle und beschloss, sich bescheiden zu geben. »Natürlich haben viele Leute Schiss vor dem Bourbon Kid … ich aber nicht. Er weiß, dass es nicht schlau wäre, sich mit mir anzulegen. Ich mach mir seinetwegen nicht in die Hose, und das spürt er genau. Offenbar nötigt ihm das einen gewissen Respekt ab.«

»Wow, Sanchez, du solltest zur Polizei gehen, da können sie jemanden wie dich wirklich gebrauchen.«

Sanchez zuckte mit den Schultern. »Tja, mit mir im Revier wäre es auf jeden Fall sicherer in dieser Stadt, das kann ich dir aber flüstern.«

»Worauf wartest du dann noch?« Flake war jetzt richtig Feuer und Flamme.

»Ich würd mich ja melden«, sagte Sanchez und riskierte noch einen möglichst unauffälligen Blick auf Flakes Titten. »Wenn sie da momentan offene Stellen hätten. Diese Stadt braucht wirklich jemanden, der hier mal aufräumt.«

»Super!« Flakes Stimme kletterte fünf Oktaven höher. »Schau mal, du kannst dich gleich heute bewerben!« Damit knallte sie ihm einen Zettel auf den Tisch.

Sanchez warf einen Blick darauf. In der Mitte stand in großen fetten Lettern:

POLIZEI STELLT AB SOFORT EIN

»Ich hätt gern Spiegeleier«, sagte Sanchez, um schnell das Thema zu wechseln.

»Bekommst du sofort«, versprach Flake. »Aber ich finde, du solltest ernsthaft über eine Bewerbung nachdenken.«

»Und die Würstchen bitte scharf angebraten.«

»Kriegen wir hin. Und was meinst du nun zu dem …«

»Und eine Portion Bacon extra.«

»Klar, sonst noch was?«

»Nein, das war’s.«

Ärgerlicherweise ließ Flake einfach nicht locker. »Lies mal den Flyer. Im Moment nehmen die anscheinend jeden. Nur befristet allerdings, bis sie ein paar richtige Polizisten von außerhalb bekommen. Und – bewirbst du dich jetzt?«

»Hatte ich eben Toast dazubestellt?«

»Den nimmst du doch immer.«

»Wollte nur sichergehen, dass du’s nicht vergessen hast.«

Flake kicherte. »Du bist so lustig«, sagte sie und schaute ihn voller Hoffnung mit großen Augen an. »Meldest du dich nun für den Polizeidienst, oder nicht?«

Sanchez seufzte. »Würd ich ja gerne, aber ich bin laut Vorschrift zu klein.«

»So eine Vorschrift gibt es gar nicht.« Flakes Begeisterung steigerte sich mit jeder Silbe.

»Dann bin ich eben zu alt.«

»Eine Altersbeschränkung gibt es auch nicht. Ist das nicht toll?«

»Ich hab ein Vorstrafenregister.«

»Spielt keine Rolle! Lies den Flyer doch mal richtig durch. Die nehmen wirklich jeden. Das ist deine große Chance!«

Die Frau war zweifelsfrei high. Anders war ein solcher Begeisterungssturm am frühen Morgen nicht zu erklären. Insbesondere, wenn man gerade damit beschäftigt war, fremden Leuten Frühstück zu servieren. Aber egal, Sanchez war bereit, noch ein bisschen mitzuspielen. Wenn er Flake nicht erzählte, was sie hören wollte, würde sie ihn bestimmt nicht in Ruhe essen lassen.

»Na, das sind doch mal gute Nachrichten!«, rief er geheuchelt fröhlich. »Dann fahr ich nach dem Frühstück gleich zum Revier!«

»Großartig!« Flake klatschte in die Hände. »Ich nehm dich mit, ich melde mich auch! Mann, ich bin echt froh, dass ich nicht allein hinmuss, das wird ein Riesenspaß!«

»Was?«

»Wir fahren mit meinem Wagen, sobald du mit dem Frühstück fertig bist!«

»Hä?«

»Oh, ich bin ja so aufgeregt! Mein Horoskop hat das alles genau vorausgesagt.«

»Wart mal eben, ich …«

»Du bist hiermit zum Frühstück eingeladen!« Flake lief in die Küche, um Sanchez’ Essen vorzubereiten. Ja, keine Frage, sie war wirklich ganz aus dem Häuschen. Das war offensichtlich. Schön, dachte Sanchez, wenn sie mich unbedingt zum Frühstück einladen will, kann sie das gern tun. Und danach musste er sich irgendwas einfallen lassen, um aus dieser Polizei-Nummer rauszukommen.