♦ SIEBEN
Als Dan Harker seinen neuen Job im Polizeirevier antrat, erwartete ihn kein schöner Anblick. Es herrschte vollkommenes Chaos, und die Spuren des nächtlichen Gemetzels waren noch überall zu sehen. Zwar lagen keine Leichen mehr herum, aber der Empfangsbereich war blutverschmiert, und im Fahrstuhl klebten Blut und Exkremente.
Nach einem vorsichtigen Blick hinein beschloss Harker, doch lieber die Treppe hinauf zur forensischen Abteilung zu nehmen. Die meisten Jungs von der Forensik hatten das Massaker überlebt, und einer von ihnen, William Clay, war an diesem Morgen sogar zum Dienst erschienen. Als Harker hereinkam, sah er ihn gleich am ersten Schreibtisch sitzen.
Clay war der typische Naturwissenschaftler: lang, schlaksig, unsicher, abrasierte Haare. Überrascht hob er nun den Kopf und schloss dann schnell eines der Fenster auf dem Bildschirm seines Computers.
Harker begrüßte ihn herzlich. »Hi, Bill! Stör ich gerade?«
Clay lächelte. »Nein, nein. Ich hatte nur nicht mit Ihnen gerechnet. Was kann ich für Sie tun, Lieutenant Dan?«
»Ab heute Captain Harker.«
»Ich weiß, war nur ein Scherz. Herzlichen Glückwunsch. Erfreut über die Beförderung?«
»Oh, ganz aus dem Häuschen«, antwortete Harker sarkastisch.
»Kann ich mir denken. Haben Sie wenigstens eine anständige Gehaltserhöhung bekommen?«
»Ja, ich kann nicht klagen.«
»Gut, unsere letzten beiden Captains sind nämlich vom Bourbon Kid erschossen worden. Hoffen wir, dass er keinen Hattrick schießt.«
»Schauen Sie keine Nachrichten? Der Bourbon Kid ist tot.«
Clay musterte den Captain über den Rand seiner Brille hinweg. »Was aber nicht stimmt, das sehe ich Ihnen doch an.«
Harker schloss die Tür und ging dann hinüber zu Clays Schreibtisch. »Wie es ausschaut, hat der Bourbon Kid seinen Tod nur vorgetäuscht. Eine Stunde, nachdem man ihm angeblich den Kopf abgeschlagen hatte, ist er im Museum aufgetaucht und hat Bertram Cromwell erledigt.«
»Wie täuscht man vor, dass einem der Kopf abgeschlagen wird?«
»Man sucht sich einen Doppelgänger.«
»Ich habe leise Zweifel, ob einer meiner Freunde bereit wäre, für mich im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf hinzuhalten.«
»Geht mir genauso. Aber der Bourbon Kid hat jemanden gefunden. Keine Ahnung, wen. Wahrscheinlich irgendeinen Niemand, den wir jetzt zur langen Liste seiner Opfer hinzufügen können.«
»Ebenso wie die Mehrheit unserer Kollegen.« Clay seufzte.
»Um ein paar von denen ist es nicht besonders schade.«
»Was für eine gefühllose Bemerkung.«
Harker rieb sich das Kinn. Es war schwer, die richtigen Worte zu finden, damit Clay ihn nicht gleich für verrückt hielt. Weil Harker nicht einfiel, wie er es diplomatisch ausdrücken sollte, platzte er einfach damit heraus. »Wussten Sie, dass der letzte Captain ein Vampir war?«
»Was?«
»Ich sagte eben …«
»Ja, das habe ich gehört.« Clay runzelte die Stirn. »Sie haben angedeutet, Captain De La Cruz sei ein Vampir gewesen.«
»Nicht angedeutet, klar und deutlich festgestellt.«
Clay wirkte geschockt und schien sich nicht sicher zu sein, ob Harker ihn vielleicht auf den Arm nehmen wollte. »Sie meinen einen Blutsauger, der als Fledermaus durch die Gegend fliegt?«
Harker nahm sich einen Stuhl und setzte sich gegenüber Clay hin. »Die Fledermaus-Nummer dürfte ein Mythos sein, aber er war definitiv ein Blutsauger.«
»Glauben Sie ernsthaft, er hat Menschenblut getrunken?«
»Ich weiß es sogar.«
»Ich höre in der Stadt ständig Gerüchte über Vampire. Bisher war ich allerdings davon ausgegangen, dass es sich dabei im schlimmsten Fall um irgendwelche Leute handelt, die lediglich schauspielern und vorgeben, Vampire zu sein. Wenn überhaupt was an der Sache dran ist.«
»Leider stimmt jedes Wort.«
Clay schien nicht überzeugt davon zu sein. »Dann hätte ich De La Cruz also mit einem Kreuz und einer Knoblauchknolle erledigen können?«, erkundigte er sich sarkastisch.
»Wahrscheinlich hätte er das seinen tatsächlichen Todesumständen gestern Nacht vorgezogen.«
»Ja, ich hab die Geschichte gehört. Er hat einen Gewehrlauf in den Arsch bekommen. Beschissene Art, diese Welt zu verlassen.«
»Ja, sein Mittagessen klebt noch immer im Fahrstuhl. Ich muss nachher irgendeinen armen Kerl finden, der die Schweinerei wegmacht.«
»Sehen Sie ja nicht mich dabei an.«
»Dann halten Sie mich besser bei Laune, Clay. Gut, wie dem auch sei, ich bin nicht nur hergekommen, um mich mit Ihnen über verdreckte Aufzüge und Vampire zu unterhalten.«
»Was kann ich für Sie tun, Captain?«
»Ich habe vorhin eine halbe Stunde damit verbracht, mir De La Cruz’ private Dateien auf seinem Laptop anzusehen. Ein Fall, an dem er arbeitete, ist mir besonders aufgefallen. Ich kann mir nicht erklären, warum die Presse nie Wind von der Sache bekommen hat. Wie ich der Datei entnehme, hat De La Cruz ein paar Mal mit Ihnen über die Angelegenheit gesprochen. Ich würde gern hören, was Sie darüber wissen.«
Clay lehnte sich zurück. »Meinen Sie den Kindermörder?«
»Ja, wie kommen Sie darauf?«
»Weil es mich angekotzt hat, dass De La Cruz nichts gegen ihn unternommen hat. Warum die Presse nie davon erfahren hat, kann ich Ihnen allerdings auch nicht erklären.«
Das offensichtliche emotionale Engagement seines Mitarbeiters in diesem Fall gefiel Harker. Er empfand genauso. »Dazu habe ich eine Theorie, Clay. Ich glaube, dass De La Cruz den Mörder gedeckt hat.«
»Das wäre nicht unmöglich, aber warum?«
»Wahrscheinlich weil der Mörder ein Vampir war.«
Diesmal runzelte Clay die Stirn noch heftiger. »Das wäre in der Tat eine Erklärung. Und es würde auch zu den Morden und den von uns entdeckten Spuren passen.«
»Sehr gut – also, was liegt Ihnen in der Sache vor? DNS-Material vielleicht oder etwas Ähnliches?«
»Nicht ganz«, sagte Clay, drehte sich wieder zu seinem Computer um und tippte auf der Tastatur herum. »Soweit ich weiß, waren es siebzehn Morde.«
»Tatsächlich wohl eher sechsundachtzig.«
Clay zog eine Augenbraue hoch. »Wie ich sagte – soweit ich weiß. DNS haben wir nicht entdeckt. Kein Speichel, kein Blut oder so. Wodurch wir aber beweisen können, dass alle siebzehn Morde zusammenhängen …«
Harker unterbrach ihn. »Eine grüne Zunge und Bissspuren am Hals der Opfer?«
»Woher wissen Sie das?
»Aus De La Cruz’ Dateien. Die Bissspuren sind in meinen Augen ein klares Zeichen für eine Vampirattacke. Was es mit der grünen Zunge auf sich hat, verstehe ich allerdings noch nicht.«
»Dabei dürfte es sich um die Auswirkung eines Gifts handeln. Alle Kinder standen unter dem Einfluss einer mysteriösen grünen Flüssigkeit, die eine sofortige Lähmung bewirkt.« Clay hielt inne, spähte erneut über seinen Brillenrand und hörte auf zu tippen. »Und dann ist da noch etwas. De la Cruz hat es als Zufall abgetan, meiner Meinung nach ist es aber die wichtigste Spur, die wir haben.«
Harker hob den Kopf. »Was?«
»Bei zwölf der siebzehn Opfer haben wir graue Haare gefunden. Manchmal nur eines, manchmal zwei oder drei. Die Opfer hatten sie jedenfalls in mehreren Fällen unter den Fingernägeln.«
»Als ob sie sich noch gewehrt hätten, bevor die Lähmung einsetzte?«
»Ganz genau.«
»Reichen die Haare nicht, um einen DNS-Test durchzuführen?«
Clay grinste. »Gute Frage. De La Cruz hat mir sämtliche Haare abgenommen, weil er die Tests angeblich selbst veranlassen wollte. Später hat er dann behauptet, ich hätte sie ihm nie gegeben. Das letzte Haar habe ich aber heimlich behalten und dem Captain nie etwas davon gesagt. Mir war klar, dass er es sonst verschwinden lassen würde. Also habe ich es heimlich analysiert.«
»Und?«
»Es stammt nicht von einem Menschen.«
Harker zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Was?«
»Ist kein menschliches Haar. Es stammt von einer Ziege.«
»Von einer Ziege?«
»Richtig.«
»Und?«
»Das war’s. Ziegenhaar eben. Sie sind der Ermittler, nicht ich.«
»Ist das eine Art Modus Operandi des Killers? So etwas wie sein persönlicher Fingerabdruck?«
Clay zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt – Sie sind der Ermittler. Ich war eigentlich der Meinung, die grüne Zunge und die Bissspuren würden als Modus Operandi reichen. Da muss der Killer nicht auch noch absichtlich Ziegenhaare am Tatort hinterlassen, um seine Visitenkarte abzugeben.«
»Stimmt.« Harker kratzte sich am Kinn. »Was also haben die Ziegenhaare zu bedeuten? Tja, wie dem auch sei, ich muss offenbar nach jemandem suchen, der Ziegen hält. Auf jeden Fall ist das ein sehr wertvoller Hinweis.«
Clay lächelte. »Wenn Sie jetzt einen Vampir mit einer Ziegenherde finden, haben Sie den Killer.«
»Hätten Sie eine bessere Idee?«
»Herrgott, Harker, Sie stehen heute wirklich auf dem Schlauch.«
»Was meinen Sie damit?«
»Sie suchen nicht nach dem Besitzer einer Ziegenherde.«
Clay drehte den Computermonitor zu Harker. Der Captain starrte ein paar Sekunden darauf. Er kannte die Person auf dem Bild, es dauerte aber einen Moment, bis er den Zusammenhang begriff. »Natürlich!«, rief er dann. »Ziegenhaare. Verdammt!«