SECHS

Aus dem Himmel über Santa Mondega fiel Schnee. Dante erlebte das zum ersten Mal in seinem Leben, jedenfalls soweit er sich erinnern konnte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die dicken Flocken an, während Vanity ihn und Kacy zur Casa de Ville fuhr.

»Coole Kiste, was, Süße?«, sagte Vanity zu Kacy. »Ford Ranger. Brandneuer Wagen.«

»Nur die Farbe ist doof. Blau«, stellte Kacy gelangweilt fest und schaute weiter aus dem Fenster.

Dante grinste. Kacy konnte man mit einem Auto nur schwerlich beeindrucken, wenn es nicht geklaut war. Er hingegen war froh, dass sie gerade in einem Geländewagen saßen. Die Straßen waren rutschig und noch gefährlicher als sonst. Die Wolken, die sich über der Stadt zusammenzogen, wurden immer dunkler. Und sie waren riesig.

In der Ferne ragte vor ihnen ein Gebäude auf, das aussah wie eine große mittelalterliche Burg.

»Was zum Teufel ist das?«, wollte Kacy wissen.

»Die Casa de Ville«, erklärte Vanity.

»Verdammt groß, oder?«, fragte Dante.

»Muss sie sein«, sagte Vanity. »Da trudeln gleich jede Menge Vampire ein.«

Dante schüttelte den Kopf. Der Anblick der Casa de Ville machte ihn ausnahmsweise mal sprachlos.

Als sie angekommen waren, stellte Vanity den Wagen auf einem großen Parkplatz hinter dem Gebäude ab. Dante und Kacy folgten ihm danach zum Eingang an der Vorderseite, wo sie ein Vampir mit merkwürdigem schwarzen Make-up erwartete und ihnen den Weg in die Halle wies.

Die Große Halle war – wie ihr Name schon sagte – von beeindruckender Größe. Die Decke war fünfzig Meter hoch, auf halbem Weg nach oben befand sich eine Galerie. Am anderen Ende der Halle führte eine sehr breite Marmortreppe hinauf zur Galerie und auf den Balkon. Man kam sich wirklich vor wie in einer Burg. Der einzige Unterschied, dachte Dante, sind die Überwachungskameras, die alles aufzeichnen. Er schaute sich um. Die verdammten Dinger hingen wirklich überall. Hunderte von Vampiren standen in Grüppchen herum und unterhielten sich.

»Wahnsinn, heute scheint wirklich noch was ganz Großes abzugehen«, sagte Vanity. »Am besten halten wir uns ein bisschen im Hintergrund. Nachdem sich Déjà Vu als der Bourbon Kid entpuppt hat, ist das sicher keine schlechte Idee. Nur nicht auffallen.«

»Da bin ich völlig deiner Meinung«, bestätigte Dante.

Es befanden sich inzwischen so viele Vampire in der Halle, dass sie auch das Publikum eines gut besuchten Rockkonzerts hätten sein können. Eine Menge merkwürdig ausstaffierter Freaks aus jedem Vampir-Clan der Stadt hatte sich hier versammelt und beobachtete nun erwartungsvoll die große Treppe. Dante erkannte einige der Clans wie zum Beispiel die Clowns, von denen ziemlich viele gekommen waren. Die Filthy Pigs, die Rastafarians und die Dreads waren weniger zahlreich vertreten; und natürlich fehlten auch die meisten Shades. Abgesehen von Dante, Kacy und Vanity hatten von ihrem Clan lediglich Cleavage und Moose das Massaker überstanden. Die beiden waren ebenfalls anwesend, hatten sich aber unbedarft ganz nach vorn vor die Treppe gestellt und schienen gespannt darauf zu warten, was wohl gleich passieren würde.

Die Mehrheit der Anwesenden stammte vom Clan der Pandas. Dante war dieser Clan unbekannt gewesen, bis Vanity den Namen erwähnte. Es waren Vampire wie derjenige, der sie am Eingang empfangen hatte. Das schwarze Make-up um die Augen verlieh ihnen tatsächlich das Aussehen eines Pandas in Menschengestalt – blutsaugende Pandas mit Fangzähnen. Ein weiterer Clan, der sich zahlreich in der Casa eingefunden hatte, nannte sich Black Plague. Seine Jagdgründe lagen eher am Stadtrand, den sie üblicherweise nur selten verließen. Sie trugen allesamt schwarze Ninja-Outfits, komplett mit schwarzer Maske, die nur Schlitze für die Augen und etwas braune Haut freiließ. Nachts sind diese Typen bestimmt eine tödliche Gefahr, dachte Dante.

Nach ungefähr zwanzig Minuten Warterei erschien die beeindruckende Gestalt von Rameses Gaius am Kopf der Treppe. Das Gemurmel in der Halle verstummte, und es wurde still. Dante erkannte Gaius sofort wieder. Er war es gewesen, der ihn und Kacy vor einer Woche entführt hatte. Damals hatte er sich als Mr E. ausgegeben und behauptet, er wäre ein Agent des Secret Service. Dann hatte er Dante damit beauftragt, den Shades-Clan zu infiltrieren und herauszufinden, wo der Mönch Peto sich versteckte.

Dante spähte über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg hinüber zu Kacy. Sie erwiderte seinen Blick. Ganz offensichtlich hatte auch sie Gaius wiedererkannt.

Dante tippte Vanity gegen den Arm. »Ist das wirklich Rameses Gaius?«

Vanity nickte. »Ja, handel dir mit dem besser keinen Ärger ein. Der zerreißt dich in der Luft.«

Wie bei ihrem letzten Zusammentreffen trug Gaius auch heute einen glänzenden silbernen Anzug und eine schwarze Sonnenbrille. Sein kahler Kopf und seine dunkle Haut glänzten wie lackiert. Instinktiv senkten Dante und Kacy die Köpfe und hofften, dass er sie in der Menge nicht erkennen würde.

»Schau mal!« Vanity nahm Dantes Arm. »Die Frau da hinter ihm ist seine Tochter Jessica. Scharfe Braut. Die Königin der Vampire.«

Dante sah wieder hoch. Ein paar Schritte hinter Gaius stand tatsächlich niemand anders als Jessica, die Königin der Vampire. Die Frau, deren Körper Dante letztes Jahr im Tapioca während der Sonnenfinsternis mit Kugeln durchsiebt hatte. Der Bourbon Kid war sowieso gerade damit beschäftigt gewesen, sie abzuknallen, also hatte Dante mitgemacht. Am Ende hatten sie Jessica einfach liegen lassen. Wer hätte denn auch ahnen können, dass sie noch lebte? Angesichts dieser Vorgeschichte war es wohl besser, wenn sie ihn heute ebenfalls nicht erkannte.

Oben am Kopf der Treppe hob Gaius jetzt die Arme, um für Ruhe zu sorgen, damit man ihm zuhörte. »Ich danke euch allen für euer Erscheinen hier«, sagt er. »Ich habe großartige Nachrichten für euch. Nachdem wir gestern so viele Brüder und Schwestern wegen dieses Mistkerls, dem Bourbon Kid, verloren haben, gibt es heute dennoch Anlass zur Freude.«

Aufgeregtes Gemurmel erfüllte kurz die Halle, bevor Gaius seine Rede fortsetzte.

»Kurz nach Mitternacht haben wir den Bourbon Kid gefangen genommen und geköpft. Er ist Geschichte!«

Die Menge brach in lauten Jubel aus. Schnell bedeutete Gaius seinen Vampiren, Ruhe zu bewahren.

»Jetzt ist unser großer Moment gekommen. Schon bald werden wir der Welt unsere Existenz enthüllen. Nicht mehr lange, und ihr werdet auch am Tag auf die Jagd gehen. Die Zeit ist vorbei, in der ihr euch in dunklen Gassen und hinter Nachtclubs herumdrücken musstet. Jetzt sind wir die neuen Herren von Santa Mondega!« Die Menge jubelte noch frenetischer als zuvor. »Die örtliche Polizei ist praktisch ausgeschaltet. Jeder Einzelne von euch hat sich von nun an bereitzuhalten, um meine Befehle auszuführen. Euch wird sicher nicht entgangen sein, dass es schneit und sich eine riesige Wolkenwand über der Stadt auftürmt. Dieser Zustand, meine Freunde, wird schon bald von Dauer sein!«

Aus der Menge war die Stimme einer Frau zu hören. »Wie das denn?«

Gaius nahm seine Sonnenbrille ab, und den Vampiren in der Halle verschlug es den Atem, Dante und Kacy eingeschlossen. In Gaius’ rechter Augenhöhle glitzerte und leuchtete ein blauer Stein. Das Auge des Mondes.

»Ja, ganz recht«, sagte Gaius. »Ich bin wieder im Besitz des Auges. Es befindet sich an seinem angestammten und rechtmäßigen Platz.« Er tippte gegen den Stein und lächelte auf sein Publikum herab. »Durch die Macht, die mir das Auge des Mondes verleiht, habe ich die Wolken über der Stadt zusammengezogen. Derzeit dürften sie schon neunzig Prozent des Sonnenlichts blockieren. Morgen am späten Nachmittag werden es dann volle hundert Prozent sein. Und dabei wird es bleiben. Solange ich das Auge besitze, brauchen wir keine Sonnenfinsternis mehr, meine Freunde. Sobald die Wolken die Stadt vollständig abschirmen, werden wir aus den Schatten treten und die Kontrolle in Santa Mondega übernehmen. Wenn das erst vollbracht ist, weiten wir unser Imperium aus und vermehren uns. Von nun an werden Menschen nur noch als Nahrung für euch gezüchtet. Natürlich sind sich die meisten hier dessen bewusst, dennoch sage ich es euch noch einmal: Vergreift euch nicht an den Kindern der Stadt. Die werden wir in Zukunft noch brauchen. Sie bilden den Grundstock unserer neuen Zucht.« Die Menge murmelte zustimmend. Gaius hob die Hand und sprach weiter. »Ich habe nun eine Bitte an euch, meine Freunde. Kehrt in die Stadt zurück, versammelt all eure Brüder und Schwestern und gebt auch den Werwölfen Bescheid. Wir können am Anfang unserer Schlacht gegen die Menschheit Verbündete gebrauchen. Sagt allen, dass sie sich morgen Abend hier versammeln sollen. Dann beginnt unser Feldzug. Morgen beginnt eine neue Zeitrechnung, die Ära der Untoten! Wir werden uns die Welt untertan machen!«

Siegessicher schüttelte er die Faust. Die versammelten Vampire antworteten mit Schlachtgebrüll, klatschten sich ab und schlugen einander auf die Schulter. Überall grinsende Vampire, die ihre Fangzähne entblößten. Nur Dante und Kacy freuten sich nicht.

Kacy zog Dante ein Stück fort von den anderen. »Er hat das Auge des Mondes«, sagte sie leise.

»Ich weiß«, bestätigte Dante. »Es ist alles noch viel schlimmer, als ich gedacht hatte.«

»Wie viel schlimmer?«

»Viel schlimmer.«

Kacy runzelte die Stirn. »Sicher?«

»Ziemlich sicher.«

»Na schön, sag Bescheid, wenn du dir ganz sicher bist.«

Dante schaute sie über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg an und zog die Augenbrauen hoch. »Gut, dann erzähl ich dir mal zwei Sachen, bei denen ich mir ganz sicher bin. Wenn wir versuchen, ihm das Auge aus dem Kopf zu reißen, werden wir uns dabei höchstwahrscheinlich verabschieden. Und wenn wir es nicht versuchen, geht unsere Welt unter.«

Kacy musterte die johlenden Vampire. »Okay, das ist wirklich schlimm«, flüsterte sie dann.