ACHTZEHN

Sanchez hatte nie zuvor ein Polizeiauto gefahren. Ein paar Mal hatte er hinten gesessen, jetzt aber Herr über Sirene und Blaulicht zu sein, war schon ziemlich großartig. Und dass Jessica dabei war, machte es nur noch unglaublicher.

»Hey, Jessica, schau dir das mal an«, sagte er und drosselte die Geschwindigkeit des Wagens, bis sie im Schneckentempo dahinkrochen. Dann lenkte Sanchez den Wagen auf den Bürgersteig, wo gerade eine alte Dame mit einem Gehstock verzweifelt versuchte, trotz des Schnees heil nach Hause zu kommen. Sanchez drückte auf einen Knopf am Armaturenbrett, und die Sirene ging los. Der Lärm war ohrenbetäubend, und die alte Frau verlor vor Schreck das Gleichgewicht. Sie rutschte aus, landete auf dem Rücken und schrie vor Schmerz. Sanchez schaltete die Sirene wieder aus und gab Gas. Dann tippte er Jessica mit dem Ellbogen an, die missbilligend den Kopf schüttelte.

»War das nicht witzig?«, fragte er.

»Rasend komisch. Wie wäre es, wenn du uns jetzt einfach zum Tatort bringst?«

»Ja, gute Idee, aber sag Bescheid, falls du noch mehr alte Leute siehst. Oder kleine Kinder. Oder Katzen.«

Jessica seufzte tief. »In solchen Momenten frage ich mich immer, warum jemand wie du noch Single ist. Du bist wirklich ein absoluter Traummann.«

»Tja.« Sanchez richtete seine Sonnenbrille. »Ich hatte einfach in den letzten fünf Monaten keine Zeit, weil ich so damit beschäftigt war, dich gesund zu pflegen.«

»Ja, das ist schon bitter.«

»Wusstest du eigentlich, dass man deinem letzten Freund, diesem Jefe, während der Sonnenfinsternis das Gesicht weggeschossen hat?«

»Ach ja?«

»Ja, der ist hinüber.«

Jessica schien Jefes Tod nichts auszumachen. So ist das halt, wenn man monatelang im Koma lag, dachte Sanchez sich. »Dann bist du wohl auch wieder Single? Vielleicht gehen wir beide mal zusammen weg?«

Jessica starrte aus dem Fenster der Beifahrertür. »Können wir bitte schön über was anderes reden?«

»Wie du willst.«

Sie fuhren auf eine rote Ampel zu, und Sanchez trat auf die Bremse. Der Wagen schlitterte ein paar Mal hin und her, bevor er vor der Ampel stehen blieb. Sanchez sah Jessica an, die noch immer aus dem Fenster starrte. »Was uns wohl gleich erwartet?«, fragte er.

»Ein Blutbad, was denkst du denn?«, sagte sie. »Wenn das wirklich der Silvinho ist, den ich kenne, hat er sich nicht einfach von irgendeinem Anfänger abstechen lassen. Da herrscht bestimmt das reinste Chaos.«

Es wurde grün. Sanchez fuhr an und war jetzt etwas vorsichtiger. »Woher kennst du diesen Silvinho überhaupt? Und wer hätte ein Interesse daran gehabt, ihn umzubringen?«

»Der Bourbon Kid.«

»Meinst du?«

»Ja. Wir sind übrigens gleich da. Ich kann schon den Rettungswagen sehen. Das muss das Haus sein.«

Jetzt bemerkte Sanchez es auch. Nur ein paar hundert Meter entfernt stand mit blinkendem Blaulicht der Rettungswagen. Vor dem Mietshaus hatte sich eine Menschenmenge versammelt, obwohl es schneite.

»Wo zum Teufel soll ich bitte parken?«, murmelte Sanchez und blickte sich um.

»Da drüben.« Jessica zeigte auf einen freien Parkplatz gegenüber vom Rettungswagen.

»Ah, perfekt! Genau vorm Dirty Donut Café.«

Er parkte ein und Jessica öffnete sofort ihre Tür. »Warum holst du uns nicht ein paar Donuts?«, schlug sie vor. »Ich geh schon mal rauf zu Beth Lansburys Wohnung und schau nach, ob die Luft rein ist. Vielleicht kommt der Mörder ja aus dem Haus gelaufen, während du gerade die Donuts besorgst.«

»Super Idee!« Sanchez freute sich, weil er den Vorschlag nun nicht mehr selbst machen musste. »Willst du was Bestimmtes?«

»Überrasch mich einfach.«

Sanchez kletterte aus dem Wagen und war dankbar, dass die breite Krempe seines Stetsons ihn vor dem Schnee schützte. Als er es endlich auf den Bürgersteig geschafft hatte, war Jessica schon verschwunden. Bestimmt konnte sie einfach die Kälte nicht vertragen.

Um den Rettungswagen herum standen eine Menge Leute, aber von den Sanitätern war weit und breit nichts zu sehen. Ein Stück die Straße hinunter parkte noch ein Streifenwagen, wie Sanchez erleichtert feststellte. Also war er nicht der erste Polizist am Tatort, was die Wahrscheinlichkeit minimierte, dass er vielleicht in seiner Ahnungslosigkeit irgendwelche Spuren vernichtete. Aber was viel wichtiger war: Er musste jetzt ausrechnen, wie viele Donuts er sich leisten konnte.

Der Typ im Laden sah aus, als würde er sich auch selbst gern den ein oder anderen Donut genehmigen. Und ansonsten Bier und Pizza. Sein fleckiges weißes T-Shirt mit DIRTY-DONUTS-Aufschrift saß so eng, dass es aussah wie auf den Körper tätowiert. Ganz offensichtlich fraß dieser Mensch seinen gesamten Gewinn auf.

»Haben Sie heute ein Special?«, fragte Sanchez und ging zum Tresen.

»Klar, die große Box und den Mix.«

»Und was ist dadrin?«

»Zehn Donuts nach Wahl. Nur fünf Dollar.«

»Da bin ich ja mitten im Donut-Himmel gelandet. Den Mix nehm ich.«

Sanchez brauchte ungefähr fünf Minuten zum Aussuchen. Die Auswahl war wirklich beeindruckend. Schließlich kaufte er sogar zwei Schachteln. Eine, um sie gleich mit nach oben zum Tatort zu nehmen, und eine für später.

Als er die zweite Schachtel auf dem Rücksitz verstaut hatte und zu der Menschenmenge vor dem Wohnhaus hinüberging, hörte es auf zu schneien. Jessica war noch nicht zurückgekommen, und die Sanitäter hatten die Leiche noch nicht abtransportiert.

»Polizei, machen Sie bitte Platz«, rief er, zückte den Schlagstock und stieß die Leute damit an. Die Eingangstür war nur angelehnt. In der einen Hand die Donuts, in der anderen den Schlagstock, drehte Sanchez sich um und schob sie mit dem Hintern auf.

Drinnen im Flur trat er die Tür richtig zu, damit niemand ihm folgen konnte. Hier war es auch nicht wesentlich wärmer als draußen. Was für ein beschissenes Haus, dachte er. Dann steckte er den Schlagstock zurück in das Holster an seinem Gürtel und öffnete die Schachtel. Er nahm sich einen Donut mit pinkfarbenem Zuckerguss und biss ein großes Stück ab. Dieser Donut war wirklich so lecker, wie er aussah. Okay, und jetzt? Treppe oder Aufzug? Sanchez dachte an den Gestank im Fahrstuhl des Reviers und entschied sich für die Treppe. Zu Fuß würde es auch länger dauern, bis er oben war, und dann blieb ihm noch genügend Zeit für mindestens zwei weitere Donuts. Vielleicht sogar für drei.

Als er schließlich im dritten Stock ankam, erwartete ihn dort eine unheimliche Stille. War das wirklich das Stockwerk, in dem der Mord stattgefunden hatte? Wieso war es dann hier so ruhig? Hier hätte es doch vor lauter Polizisten, Sanitätern und schaulustigen Nachbarn nur so wimmeln müssen. Sanchez verließ die Treppe und betrat den Flur. An dessen Ende lehnte das Mordopfer an der Wand in einer Blutlache. Schnell schob Sanchez sich das letzte Stück seines dritten Donuts in den Mund, dann holte er den Schlagstock aus dem Holster und machte sich bereit.

Langsam schlich er Richtung Flurende. Die Wände waren so blutverschmiert wie die im Tapioca nach einem Besuch des Bourbon Kid. Wo zum Teufel steckte Jessica? Und Psycho-Beth? Die Tür zu ihrer Wohnung stand einen Spalt weit offen, von drinnen war aber kein Laut zu hören. Sanchez ging noch etwas näher und überlegte, was ihn in der Wohnung wohl erwartete.

Mit dem Rücken an der Wand stellte er sich neben die Tür und spähte durch den Spalt. Dann streckte er das Bein aus und trat die Tür auf. Quietschend öffnete sie sich ein Stück. Obwohl er nichts Auffälliges erkennen konnte, wünschte er sich inständig, er hätte eine Waffe statt des Schlagstocks. Er trat noch einmal gegen die Tür, diesmal etwas kräftiger. Jetzt ging sie komplett auf. Sanchez zählte bis drei, stellte sich vor den Eingang zur Wohnung und hob den Schlagstock.

Drinnen blieb weiter alles ruhig und nichts bewegte sich. Also ließ er den Schlagstock wieder sinken und ging hinein.

Als er das Grauen in der Wohnung sah, blieb ihm der Mund offen stehen.

Was er hier vorfand, war ein wahres Blutbad.