♦ FÜNFUNDDREISSIG
Dan Harker hatte den ganzen Vormittag an seinem Schreibtisch verbracht und war am Computer die vertrauliche Datei des ehemaligen Captains Michael De La Cruz durchgegangen. Fast jeder der dort abgespeicherten Fälle hatte entweder mit dem Kindermörder oder aber mit dem Bourbon Kid zu tun. Die Morde an den Kindern waren nie untersucht worden. Stattdessen hatte man absolut jeden von ihnen dem Bourbon Kid in die Schuhe geschoben. Das war nicht einfach nur nachlässige Polizeiarbeit, sondern eindeutig Korruption! Angefangen hatte es mit Archibald Somers und war auch unter De La Cruz genauso weitergegangen. Aber warum waren die beiden so scharf darauf gewesen, die Morde dem Bourbon Kid anzuhängen? Hatte er sich einfach dafür angeboten oder steckte mehr dahinter? War er ein Gegner der beiden gewesen? Ein Erzfeind der Untoten?
Nachdem Harker ungefähr eine Stunde damit verbracht hatte, Dateien zu öffnen, die allesamt ungefähr selben Inhalts waren, fand er die über den Mord an Archie Somers. Dies war der bisher einzige Fall, der Beweise für die Täterschaft des Bourbon Kid auflistete und sogar einen Link zum Video einer Sicherheitskamera enthielt. Harker klickte ihn an. Der Film zeigte den Bourbon Kid beim Betreten des Polizeireviers und wie er dann sämtliche Polizisten erschoss, die gerade Dienst hatten. Nur die Frau am Empfang, Amy Webster, blieb zunächst verschont. Die Kamera hing hinter dem Kid, sodass man Miss Websters Gesichtsausdruck sehr gut erkennen konnte, während sie seine Befehle entgegennahm. Bedauerlicherweise gab es keine Tonspur, sodass Harker nur darüber spekulieren konnte, was gesprochen wurde. Es machte jedenfalls den Eindruck, als würde der Bourbon Kid ihr diktieren, was sie gleich am Telefon sagen sollte. Nachdem sie den Hörer wieder aufgelegt hatte, gab der Kid ihr noch eine letzte Anweisung. Amy schloss die Augen, und eine Sekunde später schoss er ihr mitten ins Gesicht. Vielleicht waren Aktionen wie diese ja tatsächlich der Grund dafür gewesen, dass Archie Somers und De La Cruz glaubten, jeder ungelöste Mordfall würde auf das Konto des Bourbon Kid gehen. Immerhin war er ein absolut gnadenloser Killer.
Harker spulte vor, weil im Video zwanzig Minuten lang nichts mehr passierte. Als dann Archie Somers im Revier auftauchte, um den Kid zu stellen, drückte Harker wieder auf Play. Was er dann zu sehen bekam, war wahrlich faszinierend. Er musste das Ganze mehrfach zurückspulen und immer wieder ansehen, bis er sicher war, dass seine Augen ihn nicht trogen. Nach einer Minute heftiger Diskussion entpuppte Somers sich als Vampir, flog auf den Bourbon Kid zu, packte ihn und schlug ihm die langen Zähne in den Hals. Der Kid schlang die Arme um Somers, drückte ihn fest an sich … und dann kam das Merkwürdige. Zwischen den beiden Männern begann es zu rauchen. Es folgte ein weiteres kurzes Wortgefecht, dann taumelte Somers zurück. An seiner Brust klebte ein dickes Buch, unter dem sich noch mehr Rauch bildete. Somers zog an dem Buch und versuchte verzweifelt, es von seinem Körper zu entfernen, doch das verdammte Ding bewegte sich keinen Zentimeter. Es blieb exakt, wo es war, rauchte noch eine Weile vor sich hin, bis Somers sich schließlich in einen riesigen Feuerball verwandelte. Er ruderte mit den Armen und schrie. Wenig später war nur noch ein Häuflein Asche von ihm übrig. Also hatte Somers, der Vampir, ein grausiges Ende gefunden. So viel war klar. Aber was war mit diesem Bourbon Kid? War er so eine Art Vampirjäger? Doch warum ermordete er dann auch vollkommen Unschuldige wie diese Amy Webster?
Harker gingen tausend Fragen durch den Kopf. Während er noch über die möglichen Antworten nachdachte, klopfte es an die Glastür zu seinem Büro. Davor stand in einem weißen Laborkittel Bill Clay von der Forensik. Harker winkte ihm, dass er hereinkommen sollte. Clay drückte ein paar Mal erfolglos gegen die Tür, bevor er dagegentrat und die Tür gewaltsam öffnete. Er trat ein, schloss die Tür erneut mit einem Fußtritt und drehte sich dann zum Captain um.
»Na, Captain, wie läuft’s?«
»Was kann ich für dich tun, Bill?«, fragte Harker.
»Unten in der Telefonzentrale ist der Teufel los. Flake schafft es nicht mehr, die ganzen Anrufe überhaupt noch anzunehmen.«
»Dann soll ihr Kumpel Sanchez mithelfen.«
»Meinen Sie nicht, dass der die Leute am Telefon nur weiter aufbringt?«
»Ganz genau.« Harker zuckte mit den Schultern. »Und dann legen Sie auf. Insofern ist er genau der richtige Mann für diese Aufgabe.«
Clay lächelte. »Tja, da gibt es trotzdem ein kleines Problem. Sanchez ist nämlich nicht zum Dienst erschienen. Und Flake ist auch eben erst gekommen.«
»Faule Bande.«
»Tatsächlich gab es dafür einen guten Grund.«
»Das will ich hoffen!«
»Doch, doch. Flake meinte, sie hätten einen Zusammenstoß mit dem Kindermörder gehabt.«
»Was?«
»Offenbar hat Sanchez ihn erledigt.«
»Wie bitte?«
»Flake hat erzählt, dass Sanchez von einem Vampir angegriffen worden ist, der ein Weihnachtsmannkostüm getragen hat. Und zwar heute Morgen in der Bibliothek. Sanchez hat ihn dann mit seiner eigenen grünen Flüssigkeit übergossen und angezündet.«
»Teufel auch! Und wo steckt Sanchez jetzt?«
»Bis zum Hals in der Scheiße, vermute ich.«
»Hä?«
»Er hat wohl das Buch des Todes gefunden. Sie wissen schon, das verschwundene Buch? Jetzt bringt er es gerade seinem Besitzer zurück.«
Harker kratzte sich am Kopf. »Und da dachte ich immer, dieser Sanchez wäre ein Idiot. Klingt fast, als hätte er sich auf einmal in Elliot Ness verwandelt.«
»Eher in Frank Drebbin.«
»Oder das. Wer hätte ihm das zugetraut?«
»Ich bestimmt nicht.«
»Ich auch nicht. Trotzdem, der Tag beginnt, sich in die richtige Richtung zu entwickeln.«
Clay grinste. »Leider ist es damit auch schon vorbei, was die guten Nachrichten angeht.«
Harker seufzte. »Oh Gott, was kommt jetzt?«
»Unten überschlagen sich die Anrufe von Leuten, die uns melden, dass in der gesamten Stadt die Einwohner von Vampiren angefallen werden. Die Zeiten, in denen man nur in finsteren Gassen und bei Nacht mit solchen Attacken rechnen musste, dürften damit vorbei sein. Diese dunklen Wolken über der Stadt sind keine seltene Laune der Natur. Viel eher scheinen sie Teil eines großen finsteren Plans zu sein. Überall in der Stadt sind gerade Vampire unterwegs, und sie sind allesamt auf dem Weg in die Casa De Ville. Hier läuft irgendeine ganz große Nummer. Könnte das Ende der Welt sein.«
»Bitte, Clay, sagen Sie mir, dass Sie gerade übertreiben, weil Sie von Natur aus zur Dramatik neigen.«
»Nein, leider nicht. Ihr Plan, die Sache mit dem Kindermörder überall publik zu machen, rächt sich gerade in ganz großem Stil. Das hat diese Ratten erst aus ihrem Versteck gelockt.«
»Danke, genau das wollte ich hören.«
»Sorry, Captain, aber ich bin der Meinung, dass wir die Stadt evakuieren sollten. Lassen Sie in den Nachrichten verbreiten, dass alle hier so schnell wie möglich abhauen sollen.«
»Ernsthaft? Meinen Sie nicht, dass wir damit eher eine Massenpanik auslösen?«
Clay deutete mit dem Kinn auf das Fenster hinter Harker. »Schauen Sie mal da raus. Die Panik ist schon da.«
Harker stand auf, ging zum Fenster und blickte durch die Jalousien hinunter auf die Straße. Erst sah alles noch ganz friedlich aus. Doch als seine Augen sich an die Dunkelheit draußen gewöhnt hatten, musste er feststellen, dass Clay recht hatte. Genau gegenüber rissen ganz in Schwarz gekleidete Vampire gerade einen jungen Mann in Stücke, der an einem Obst- und Gemüsestand gearbeitet hatte. Harker drehte sich wieder zu Clay um.
»Heilige Scheiße!«
Clay nickte. »Sieht aus, als würden wir das alle nicht überleben.«
»Kommt nicht infrage«, wehrte Harker ab. »Wir werden dafür bezahlt, dass wir die Einwohner dieser Stadt beschützen. Also müssen wir jetzt da raus und das Problem beseitigen.«
»Wie zum Teufel sollen wir uns einer ganzen Armee von Vampiren in den Weg stellen? Wir haben ja kaum noch genügend Personal, um einer Katze vom Baum zu helfen.«
»Das ist ja auch ein Fall für die Kollegen von der Feuerwehr, diese faulen Ärsche.«
»Mag sein. Trotzdem, wenn es unsere Aufgabe ist, die Menschen von Santa Mondega zu beschützen, müssen wir ihnen sagen, dass sie jetzt um ihr Leben laufen sollen. Raus aus der Stadt. Flake hat gerade einen Anruf von der Leiterin der Sunflower Girls erhalten. Sie und die Mädchen schleichen sich durch die kleinen Nebenstraßen, um den Vampiren zu entgehen.«
»Die Sunflower Girls?« Harker fuhr sich durchs Haar. »Oh Gott, die müssen ja vor Angst sterben.«
»Die Mädchen hatten sowieso schon einen harten Tag. Ihre Betreuerin konnte uns bestätigen, dass Sanchez den Weihnachtsmann erledigt hat.«
»Er hat vor den Augen der Sunflower Girls den Weihnachtsmann abgefackelt?«
»Ja.«
»Idiot.«
»Kann man sagen. Flake hat der Betreuerin gerade eben erst geraten, sich in einer der Kirchen zu verstecken, dann war die Leitung plötzlich tot. Also dürften die Vampire sie entdeckt haben. Möglicherweise sind die Mädchen schon nicht mehr am Leben.«
Harker setzte sich wieder und erschauerte. »Hoffentlich kommen sie durch. Falls sie es wirklich in eine der Kirchen schaffen, wären sie relativ sicher. Da gibt es Kreuze und Weihwasser und den ganzen Scheiß, um sich zu verteidigen. Ich glaube nicht, dass ein Vampir es wagen wird, auch nur einen Fuß in eine Kirche zu setzen.«
»Sollten wir nicht jemanden losschicken, der nachschaut, ob sie in Sicherheit sind?«
»Wie wäre es mit Sanchez?«
»Der Kerl, der vor den Augen der Mädchen den Weihnachtsmann umgebracht hat?«
Da hatte Clay natürlich recht. Sanchez war wahrscheinlich der letzte Mensch auf der Welt, den diese traumatisierten Kinder jetzt sehen wollten. »Scheiße, dann müssen wir einfach hoffen, dass die Kirche sie rettet, Und ich muss mich unbedingt in den Nachrichten an die Bevölkerung wenden und allen raten, entweder die Häuser nicht zu verlassen oder schleunigst aus der Stadt zu verschwinden.«
Clay machte ein bekümmertes Gesicht. »Diese Stadt ist ein Irrenhaus. Wenn der Bourbon Kid nicht gerade ein Blutbad anrichtet, übernehmen das die verfluchten Vampire. Ich frage mich, warum überhaupt jemand hier leben will.«
Harker runzelte die Stirn. »Niedrige Steuern, viele Jobs und normalerweise gutes Wetter.«
»Und wenn schon. Ich weiß ehrlich nicht, was ich immer noch hier mache.«
»Sie sind hier, weil Sie Ihren Job lieben, und Sie sind ein feiner Kerl, der stolz darauf ist, die Einwohner dieser Stadt zu beschützen.«
Clay lächelte. »Ist das ein Zitat aus dem Handbuch der Polizeiarbeit?«
»Klar, kann ich auswendig.«
»Aber retten wird uns das Büchlein auch nicht, oder?«
»Nein. Aber ich weiß etwas, das uns tatsächlich helfen könnte. Hier, schauen Sie mal.« Harker zeigte auf seinen Monitor. Clay ging zu seinem Captain hinüber und spähte über seine Schulter.
»Was ist das?«, fragte er dann.
Harker zog das Video der Sicherheitskamera mit der Maus bis zu der Stelle, wo der Kid und Somers aufeinandertrafen. Schweigend sahen die beiden Männer zu, wie der Kid Somers als brennenden Feuerball in die Hölle schickte. Am Ende dieses Kampfes hielt Harker das Video wieder an und schaute Clay an, um zu sehen, wie er darauf reagierte.
»Das ist ja bizarr«, sagte Clay.
»Ja, abgefahren, oder? Wie Somers sich plötzlich selbst entzündet …«
Clay machte ein verwirrtes Gesicht. »Das meinte ich nicht. Der Bourbon Kid – das ist nicht derselbe Mann, der Bertram Cromwell ermordet hat!«
Harker musterte den Mann im schwarzen Umhang, der die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte. »Sicher? Woran sehen Sie das denn?«
»Bringen Sie nochmal das Video vom Museum auf den Bildschirm. Das ist nicht derselbe Typ.«
Harker durchforstete seine Dateien, dann spielte er das Video ab, auf dem man den Mord an Bertram Cromwell sehen konnte. Zusammen mit Clay verfolgte er noch einmal, wie Bertram mit der Machete abgeschlachtet wurde. Ja, der Mörder trug ebenfalls einen schwarzen Umhang mit Kapuze, aber er hatte eine vollkommen andere Figur als der Mann, der Archie Somers erledigt hatte. Der Mörder von Bertram war groß und schlaksig, während die Schultern des Bourbon Kid breiter waren und er selbst etwas kleiner.
»Und was schließen Sie daraus?«, fragte Clay.
Harker überlegte noch. Sie hatten es hier tatsächlich mit zwei Mördern zu tun. »Sie haben recht«, sagte er schließlich. »Es gibt zwei Bourbon Kids.«
»Glauben Sie, es waren von Anfang an zwei?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Harker. »Fest steht nur, dass einer dieser beiden Männer Vampire jagt. Und er ist verdammt erfolgreich dabei. Wer der andere ist, also der Mörder von Cromwell, kann ich Ihnen nicht sagen. Aber der, der Somers erledigt hat, könnte für uns zu einem wertvollen Verbündeten werden.«
Clay schien davon nicht so überzeugt zu sein. »Der macht Sie kalt, bevor Sie auch nur dazu ansetzen, ihm so was vorzuschlagen.«
»Da bin ich mir nicht sicher. Sehen Sie es mal so – der letzte Captain, also De La Cruz, war ein Vampir. Genau wie seine Lieutenants. Der Bourbon Kid hat sie alle erledigt. Damit ist er vielleicht der Held, den diese Stadt jetzt braucht.«
»Der Mann ist eine Heimsuchung. Den brauchen wir ungefähr so dringend wie die Sieben Plagen.«
»Mag sein, aber glauben Sie mir, Clay, der Bourbon Kid ist in der Lage, sämtliche Vampire dieser Stadt zu killen, bevor sie auch nur merken, dass sie schon tot sind.«
Clay runzelte die Stirn. »Der Spruch ist unlogisch.«
»Möglich, aber er klingt gut.«
»Hören Sie mal, Captain, was Sie da vorhaben …«
Abrupt stand Harker auf. »Vielleicht kann ich ihn über den Lokalsender erreichen.«
»Soll das ein Witz sein?«
Harker holte sich seinen langen braunen Regenmantel vom Kleiderhaken und zog ihn an.
»Langsam, Captain«, sagte Clay. »Wenn Sie sich öffentlich in den Nachrichten zum Verbündeten des Bourbon Kid machen, sind Sie in dieser Stadt ganz schnell Staatsfeind Nummer eins.«
Harker schlug den Mantelkragen auf. »Wenn die Einwohner dieser Stadt erfahren, dass der Bourbon Kid sie in Wahrheit die ganze Zeit über beschützt hat, werden sie meiner Meinung sein.«
Clay schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich aber nicht nur Gedanken um die Einwohner machen, sondern auch um die Vampire. Die werden Sie erledigt haben, bevor Sie mit Ihrer Ansprache fertig sind.«
Harker öffnete die Tür. »Ich kann nur hoffen, dass der Bourbon Kid sie aufhält.«
Als Harker das Büro verließ, rief Clay ihm hinterher: »Wir sehen uns dann in der Hölle!«