♦ PROLOG
Ein junges Mädchen rannte durch die finsteren Gassen von Santa Mondega, ihre Lungen pumpten wie noch nie in ihrem Leben. Ihr Verfolger hatte die Jagd noch nicht aufgegeben. Sie konnte ihn hinter sich hören, seine Schritte wurden vom Schnee gedämpft. Seit er aus einer dunklen Ecke auf sie zugesprungen war, hatte sie sich nicht wieder getraut, sich nach ihm umzuschauen. Das Weiße seiner Augen hatte sie jedoch auch bei dem kurzen Seitenblick auf ihn deutlich erkannt. Es bildete einen kräftigen Kontrast zu der schwarzen Farbe, die fast sein gesamtes Gesicht bedeckte. Ganz in Schwarz gekleidet hatte er erst nur wie ein riesenhafter Schatten mit Augen gewirkt. Dann aber hatte sie seine Zähne gesehen. Riesige Vampir-Reißzähne. Sie rannte um ihr Leben.
Um Hilfe zu schreien, war sinnlos – auf den Straßen gab es mehr Vampire als Menschen, und im Stadtzentrum ging gerade eine große Sache ab. Mit Gebrüll hätte sie nur noch mehr Untote angelockt. Was sie brauchte, war ein Versteck. Als sie von der kleinen Nebenstraße auf eine der Hauptstraßen abbog, entdeckte sie tatsächlich eine Zuflucht, die ihr vielleicht Schutz bieten würde.
Die Stadtbibliothek.
Sie rannte über die Straße und die Stufen hinauf zum Eingang. Die Türen standen weit offen, es war fast wie eine Einladung. Sie verlor keine Zeit und rannte ins Foyer der Bibliothek, das einen Marmorboden und hohe Decken hatte. Eigentlich hätte sie sich hier bestens auskennen müssen, weil ihre Eltern ihr seit Monaten damit in den Ohren lagen, sie solle doch die Bibliothek zur Vorbereitung auf ihre Klassenarbeiten nutzen. Direkt vor ihr befand sich eine große, doppelflügelige Holztür, die mit einem bronzenen Vorhängeschloss und einer dicken Kette gesichert war. Damit stand ihr nur ein Fluchtweg offen. Sie rannte nach links zur Treppe.
Ihre Sneakers hinterließen eine weiße Schneespur auf den Stufen, als sie hinauf in den ersten Stock hetzte. Falls der Vampir ihr in die Bibliothek folgte, würde er keinerlei Probleme haben, sie zu finden. Natürlich konnte die Bibliothek für sie auch zu einer Falle werden, aus der es kein Entrinnen mehr gab, das war ihr bewusst. Aber sie war nicht schnell genug, um den Vampir auf der Straße abzuhängen. Falls er auch nur die geringste Ähnlichkeit mit den Vampiren aus Bis(s)zum Morgengrauen hatte, konnte er durch die Luft fliegen, irre schnell rennen und sie zur Strecke bringen, wann immer er wollte. Vielleicht machte ihrem Verfolger ja auch gerade die Hatz auf sie Spaß, und ihre Panik gab ihm erst den richtigen Kick.
Am Kopf der Treppe wagte sie es zum ersten Mal, sich umzudrehen. Von dem Vampir war weit und breit nichts zu sehen. Möglicherweise hatte er aufgegeben oder sich ein leichteres Opfer gesucht. Ganz egal, kein Grund, jetzt einfach hier stehen zu bleiben. Sie wankte in die große Bücherhalle. Hoffentlich konnte sie sich hier irgendwo in dem Labyrinth aus Regalen verstecken. Der Empfangstresen war verlassen, und es schien auch niemand in den Regalen nach Büchern zu stöbern. Direkt vor ihr befanden sich ein paar Tische und Stühle. Auch dort absolut niemand.
Sie lief zu den Nachschlagewerken und versteckte sich in den Regalen. Im Gang dazwischen war es dunkel. Das würde einen Vampir nicht wirklich abschrecken, aber im Moment war das ihr einziger Schutz. Dachte sie jedenfalls, bis sie am Ende des Gangs etwas entdeckte, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Auf dem Boden lag in einer Blutlache der leblose Körper eines Jungen mit eingeschlagenem Schädel. Lediglich roter Brei und Knochensplitter waren davon noch übrig. Was ihr allerdings viel mehr Sorgen bereitete, war der Mann, der sich gerade über ihn beugte. Ein Mann, über den sie zahllose Gerüchte gehört hatte. Ganz in Schwarz gehüllt und mit einer Kapuze über dem Kopf stand dort der Bourbon Kid. Er schaute sie an, und sie bemerkte mit Schrecken seine blutbefleckten Hände.
Ein paar Sekunden konnte sie den Blick nicht davon losreißen, dann aber schaute Caroline auf und dem stadtbekannten Killer direkt in die Augen. Sie war wie versteinert, und ihr Gehirn setzte aus. Panisch beobachtete sie, wie er sich aufrichtete und die Hand unter seinen schwarzen Mantel schob. Seine blutigen Finger schlossen sich um eine große Pistole, die er hervorzog und mit der er genau auf ihren Kopf zielte. Ein roter Laserpunkt erschien genau zwischen ihren Augen. Gerade als sie dachte, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen, sagte der Bourbon Kid mit seiner heiseren Stimme, die direkt aus der Hölle zu kommen schien:
»Runter.«
Einen Moment lang blieb sie regungslos stehen. Dann hockte sie sich hin, steckte den Kopf zwischen die Knie, hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen.
BÄÄÄM!
Während der gewaltige Knall noch von den Wänden der Halle widerhallte, nahm Caroline die Hände von den Ohren. Hinter sich hörte sie jemanden umfallen. Zögernd öffnete sie die Augen und schaute zum Bourbon Kid. Er hatte die Pistole wieder unter den schwarzen Mantel gesteckt und sich der blutüberströmten Leiche des Jungen auf dem Parkettboden zugewandt.
Langsam richtete Caroline sich auf. Hinter ihr lag der Vampir, der sie verfolgt hatte. Sein halber Kopf fehlte. Die klaffende Wunde rauchte, und Blut floss in eine sich stetig vergrößernde Lache. Sie wich einen Schritt zurück und drehte sich zum Bourbon Kid um.
»Danke«, murmelte sie. »Der hat mich ganz schön lange verfolgt. Keine Ahnung, wer er ist.«
Der Kid antwortete nicht. Caroline machte noch einen Schritt auf ihn zu und sagte nun etwas lauter: »Wissen Sie, was hier los ist? Haben die Vampire den Jungen erwischt?«
Der Kid schien vergessen zu haben, dass sie überhaupt da war. Erst als er ihre Stimme hörte, sah er sie an. »Der Kerl war ein Panda.«
»Ein was? Ein Panda?«
»Ja.«
Sie dachte nach. Nein, das ergab alles überhaupt keinen Sinn.
»Die schwarze Farbe um seine Augen. Das Erkennungszeichen des Panda-Clans der Vampire, zu dem er gehörte. Jedenfalls bis ich ihm eben den Schädel abrasiert habe.«
Caroline hörte zwar, was er sagte, war aber abgelenkt, weil sie auf einmal den toten Jungen wiedererkannte. »Oh Gott, das ist ja Josh! Er geht in meine Schule. War das der Panda?«
Der Kid schüttelte den Kopf. »Nein, sieht nicht nach einer Attacke eines Blutsaugers aus.«
»Wer hat es denn dann getan?«
Der Kid ignorierte sie und griff wieder in seinen Mantel. Dann zog er die Waffe heraus, mit der er den Panda erledigt hatte. Es sah ganz so aus, als wollte er sie gleich benutzen. Er ging auf Caroline zu, starrte aber an ihr vorbei, als wäre sie gar nicht da. Schnell wich sie aus und presste den Rücken gegen ein Regal, um dem Kid nur ja nicht zu nahe zu kommen. Der ging an ihr vorbei, sein Mantel streifte sanft ihr Bein. Am Ende des Gangs blieb er stehen und spähte vorsichtig nach links und rechts, die Waffe im Anschlag.
»Ist es draußen jetzt wieder sicher?«, fragte Caroline nervös.
»Für mich schon.«
»Kann ich mitkommen? Ich habe Angst allein.«
Er warf ihr einen Blick zu. »Hier bist du sicherer.«
Caroline zeigte auf den toten Jungen. »Wer hat Josh umgebracht? Und was, wenn der nun zurückkommt?«
Der Kid war bereits auf dem Weg zum Ausgang. »Der Mann, der das getan hat, ist nicht mehr hier.«
»Wissen Sie denn, wer es war?«, rief sie ihm hinterher. »Erschießen Sie ihn jetzt?«
»Er steht auf meiner Liste.«